Von Guido Arnold Grundsätzlich klingt ‚Vernetzung‘ erstrebenswert und sinnvoll. Isolierte Individuen mit spezifischen Interessen können sich überregional im Netz ‚finden‘ und ‚austauschen‘. Aber was sind die Bedingungen für Teilhabe an solch einem Austausch und wie formen diese die dort verbundenen Subjekte? Wer ist wie sichtbar? Wie verbreiten sich (Des-)Informationen im Vergleich zu nicht-virtuellen Öffentlichkeiten? Welche Dynamik entwickelt sich bei den ‚Bewohner:innen‘ bzw. ‚Besucher:innen‘ virtueller sozialer Räume? Und last but not least: Wer legt die Metrik, also das zugrundeliegende Regelwerk für die Interaktion in diesen Räumen fest? Eine umfassende Bestandsaufnahme gestaltet sich schwierig: Während Blogger:innen die Möglichkeit virtueller Kommunikation für den Kampf zur Demokratisierung öffentlicher Diskurse nutzen und als das „Werkzeug für Protestierende“ propagieren, wird der Handlungsraum zivilgesellschaftlicher Organisationen und Aktivist:innen weltweit zunehmend enger.1 Instagram, Facebook und Twitter entwickeln sich (teils in den gleichen…
Von Wolfgang Kastrup Armut, Arbeitslosigkeit und Prekarisierung sind weiterhin große Probleme für bedeutende Teile nicht nur der bundesdeutschen Bevölkerung. Wirkte schon die Corona-Pandemie wie ein Beschleuniger von sozialer Ungleichheit, haben die Konsequenzen der Sanktionen aufgrund der russischen Invasion in die Ukraine und die sich dadurch beschleunigende Inflation die Einkommensschwachen besonders hart getroffen. „Deutschland verzeichnet heute mit 16,6 Prozent oder 13,8 Millionen Betroffenen einen Rekordstand der Armut. […] Die wachsende sozioökonomische Ungleichheit fördert Tendenzen der gesellschaftlichen Desintegration, der wirtschaftlichen Depression und der politischen Desorientierung.“ (Christoph Butterwegge: Wen kümmert’s? in: Süddeutsche Zeitung v. 13.07.2022) Wenn so viele Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft von der ökonomischen, kulturellen und politischen Teilhabe ausgeschlossen sind, kann das keinen zufälligen Prozess beinhalten, sondern es muss gefragt werden, ob hier nicht ein konstitutionelles Problem offenkundig wird. Schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel…
Von Kurt Lenk [Red.] Dem im Folgenden abgedruckten Aufsatz Kurt Lenks liegt ein Vortrag zugrunde, den er 2004 auf dem 17. Kolloquium des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung in Würzburg gehalten hat. Der Aufsatz erschien zusammen mit anderen Beiträgen (u.a. von Roger Griffin, Moshe Zuckermann, Volker Weiß, Ulrich Prehn) im Band 8 der Edition DISS „Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie“ (Münster 2005).1 Der „Nestor der kritischen Konservatismusforschung in Deutschland“ (Vorwort) griff damals einen zentralen Aspekt heraus, der immer wieder in der Faschismusdiskussion thematisiert wird und sowohl für das Verständnis der Konservativen Revolution als auch der heutigen Neuen Rechten von Bedeutung ist: das Problem der Dekadenz. Lenk konzentrierte sich auf eine ideengeschichtliche Herleitung des Dekadenzbegriffs von Polybios über Machiavelli hin zu Nietzsche, Bergson und Sorel und arbeitete das geschichtsphilosophische…
Der Politologe Kurt Lenk hat Grundlegendes zur Geschichte von Parteien und der Theorie der Rechten erforscht. Nun ist er 93-jährig gestorben. Von Volker Weiß1 Der Wandel der Politikwissenschaft von der Staats- und Institutionslehre hin zu einer kritischen Gesellschaftswissenschaft in der alten Bundesrepublik war eng mit dem Namen Kurt Lenk verbunden. Seine kritischen Impulse waren auch biografisch motiviert: Als Sohn einer deutschen Familie 1929 in Böhmen geboren, irritierte ihn, wie schnell zahlreiche Sudetendeutsche zu Anhängern Hitlers geworden waren, seitdem trieb ihn die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Ideologie um. Nach der Promotion am Frankfurter Institut für Sozialforschung Mitte der fünfziger Jahre habilitierte er sich in Marburg bei Wolfgang Abendroth, gemeinsam gaben sie eine bedeutende Einführung in die politische Wissenschaft heraus. Lenks Blick galt vor allem Bedingung und Wandel von politischen Konzepten, seine…
Der Rassismus ist noch nicht überwunden Von Heiko Kauffmann [Red.] Das folgende Interview anlässlich des 30. Jahrestages der Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen hat uns Heiko Kauffmann, Mitbegründer und langjähriger Sprecher von PRO ASYL, freundlicherweise zur Verfügung gestellt.1 Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf die Broschüre des DISS von 1992 „SchlagZeilen. Rostock: Rassismus in den Medien“, die in der DISS-Bibliothek online einsehbar ist.2 Vor 30 Jahren fand im Rostocker Ortsteil Lichtenhagen das größte rassistische Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte statt. Vom 22. bis 26. August 1992 griffen hunderte Rechtsextreme die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) an und setzten das danebengelegene Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen in Brand – nur knapp entkamen die dort lebenden Menschen dem Tod. Tausende Zuschauer*innen applaudierten, die Polizei versagte dabei, die Angegriffenen zu schützen, und die Politiker*innen missbrauchten den Vorfall im…
Von Florentina Berisha und Christian Hoeps Pünktlich zum 32. Jahrestag der deutschen Einheit ist der Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider, Staatsminister beim Bundeskanzler und Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland, mit dem Titel „Ostdeutschland. Ein neuer Blick“ erschienen.1 Die Betonung liegt auf „neu“, denn der Bericht möchte sich nicht allein in „negativen Assoziationen“ (3) ergehen, sondern auch positive Entwicklungstendenzen aufzeigen und deutlich machen, dass bedenkliche Trends, wenngleich in unterschiedlicher Stärke, sowohl in Ost- wie Westdeutschland zu beobachten sind. Während im ersten Teil des Berichts ost- und westdeutsche AutorInnen über ihre Erfahrungen Auskunft geben, wird im zweiten Teil, auf den wir im Folgenden näher eingehen, der sogenannte „Deutschlandmonitor“ (S. 89–116) vorgestellt, der sich mit den Einstellungen der Menschen in Ost und West zur Demokratie & Politik in Deutschland befasst.2 Hierzu wurden zwischen dem…
Von Peter Höhmann 1. Vorbemerkung Der Beitrag befasst sich mit politischen Konsequenzen, die durch die dauerhafte Zunahme ungleicher Lebensverhältnisse zu erwarten sind. In diesem Zusammenhang betont zwar der letzte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dass „im Zuge der günstigen wirtschaftlichen Entwicklungen der Jahre vor 2020 die mittleren Einkommen mindestens ebenso stark gestiegen sind wie die Einkommen im unteren Bereich der Einkommensverteilung“, und folgert daraus, dass kein deutliches Sinken der Ungleichheit eingetreten sei. (S.9) Diese Diagnose konzentriert sich allerdings nur auf den aktuellen Trend ungleicher Einkommen. Auf der Grundlage eines sichtbaren Fortbestands der Armutsbevölkerung sind jedoch zugleich weitere Fragen zu stellen, die besonders die sozialen Folgen dieser langfristig anhaltenden Situation in den Blick nehmen. Hier setzt der Beitrag an, der sich auf die Situation in der Bundesrepublik konzentriert. Sein Ausgangspunkt war zunächst die allgemeine…
Italienische Mediendiskurse zum Wahlsieg des Meloni-Bündnisses Von Jörg Senf Nach der Parlamentswahl vom 25. September 2022 steht Italien nun ein rechtspopulistisch „postfaschistisches“ Regierungs-Bündnis bevor, als Ministerpräsidentin zum ersten Mal eine Frau, die von der internationalen Presse unmittelbar als Italy‘s most far-right prime minister since Mussolini eingeschätzt wird (CNN 25.9.). Ein Ereignis dieser Tragweite ließe eine turbulente Dynamik im italienischen Mediendiskurs erwarten. Ausgehend vom Wahlplakat der Mehrheitspartei Fratelli d’Italia (FdI), auf dem Giorgia Meloni sich mit dem Schlagwort Pronti – „(Wir sind) Bereit“ – präsentiert (s. Abb.), sind Auseinandersetzungen über die Frage vorauszusehen: Wozu ist sie bereit? Wozu ihre Partei, wozu ihre Bündnispartner Berlusconi und Salvini, wozu ihre Wählerschaft? Ein erster Blick auf den italienischen Mediendiskurs vor, zu und kurz nach den Wahlen1 erweist sich hier jedoch überraschenderweise als nicht allzu ergiebig. Turbulente politisch mediale…
Von Helmut Kellershohn Einer der wichtigsten Beiträge zur Strategiedebatte der Neuen Rechten in den letzten Jahren stammt von Benedikt Kaiser. Im April 2017 (also vor der Bundestagswahl 2017) erschien der Artikel „Mosaik-Rechte und Jugendbewegung“ in der Zeitschrift des Instituts für Staatspolitik (IfS), der Sezession (H. 77), im Dezember 2019 folgte „Mosaik-Rechte: eine Aktualisierung“ (Sezession 93). Eine Ausweitung und Neujustierung legt Kaiser nunmehr (2022) mit seinem Büchlein „Die Partei und ihr Vorfeld“ in der kaplaken-Reihe (Bd. 81) des Instituts für Staatspolitik (IfS) vor. Für die strategische Ausrichtung sowohl der AfD (v.a. in Ostdeutschland) als auch des IfS im „Heißen Herbst“ (siehe den diesbezüglichen Beitrag in diesem Heft) sind die Überlegungen Kaisers von nicht unerheblicher Bedeutung. Der folgende Beitrag geht dem strategischen Konzept in seiner zeitlichen und begrifflichen Entwicklung nach. Partei, Bewegung, Bewegungsintellektuelle Angeregt durch…
Die AfD und neurechte „Bewegungsintellektuelle“ hoffen auf Machtgewinn Von Helmut Kellershohn Den jüngsten Eklat in der AfD hinsichtlich ihrer Haltung zum Ukrainekrieg bot die Reise dreier Landtagsabgeordneter (Hans-Thomas Tillschneider, Daniel Wald und Christian Blex) nach Russland. Geplant war auch ein Abstecher der „Putinversteher“ in den Donbass. Die AfD-Parteispitze war nach eigenen Angaben nicht in die Reise eingeweiht und distanzierte sich davon (RP v. 21.09.2022). Die Reise wurde von den Abgeordneten abgebrochen. Das Beispiel zeigt die Unstimmigkeiten und internen Spannungen in der AfD,1 die man eigentlich ungern öffentlich kommuniziert wissen möchte. Der folgende Beitrag untersucht die offizielle Haltung der AfD (in Gestalt ihrer Bundestagsfraktion) zum Ukrainekrieg und ihre Interpretation aus dem Munde ihres außenpolitischen Vordenkers Alexander Gauland. Mittlerweile hat sich die Aufmerksamkeit der Partei auf die wirtschafts- und sozialpolitischen Folgen des Krieges in Deutschland…