Business As Usual – Krise der kapitalistischen Produktionsweise Eine Rezension von Wolfgang Kastrup Das Buch von Paul Mattick, Business As Usual - Krise und Scheitern des Kapitalismus, Hamburg 2012 hat den Anspruch, die Krise des Kapitalismus zwischen 2007/2008 in verständlicher Weise zu analysieren. Paul Mattick Jr., geb. 1944, Sohn von Paul Mattick (1904-1981), lehrt Philosophie an der Adelphi-University in New York. Schon im Vorwort macht der Autor deutlich, dass die Wirtschaftskrise, die mit dem Zusammenbruch des amerikanischen Hypothekenmarktes begann, mit den herkömmlichen d.h. den neoliberalen und keynesianischen Vorstellungen von Marktwirtschaft nicht zu erklären sei, da sie an Glaubwürdigkeit verloren hätten. Stattdessen müsste die Analyse „den Blick auf die langfristige Dynamik des Kapitalismus selbst richten.“ (10) Wenn im Kapitalismus, um Profit zu erwirtschaften, „der Gesamtwert der produzierten Güter größer sein muss als die Summe…
Von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 34 (2017) Die baden-württembergischen Pädagogen im Fach Englisch erhalten neuerdings Nachhilfe in sprachlicher Sensibilität. So unterrichtet sie das Landesinstitut für Schulentwicklung in Stuttgart ((http://www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/sprachen-und-literatur/englisch/unterrichtsmaterialien-nach-kompetenzen/sprachmittlung/icc-medt/index.html . Den Hinweis verdanke ich Estrid Stoll.)) in seinen Online-Materialien z.B. über eine neue Umsetzungsmöglichkeit des Lernziels ‚Interkulturelles Lernen und Sprachmittlung‘. Wie z.B. können SchülerInnen lernen, Angehörigen eines anderen „Kulturkreises“ gegenüber harte, kritische Urteile (über diese Kultur) abzuschwächen, um nicht beleidigend zu wirken? Als Beispiel eines solchen „Kulturkreises“ haben sich die Unterrichtsplaner die USA herausgesucht, und als Thema, bei dem scharfe Urteile die Angehörigen dieses anderen Kulturkreises verletzen könnten, die internationale Abhörtätigkeit der NSA. Zur Übung in ‚softening‘ sollen die SchülerInnen insbesondere einen engagierten Kommentar von Jakob Augstein ((Besuch des Allmächtigen. Spiegel-Online vom 17.06.2013)) in der folgenden Weise weichspülen: „a regime“ --- „an…
In Memoriam Helmut Kohl. Wie Helmut Kohl vor über 30 Jahren mit einem 'Goebbels-Gorbatschow-Vergleich' (die falsche) Weltgeschichte machte. Von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 34 (2017) (Download: Audio-Datei mit dem Auszug aus dem Newsweek-Interview mit Helmut Kohl 1986) I. Die Vorgeschichte Es war Ende 1986. Ich erreichte Andrew Nagorski, Chef des Bonner Büros von NEWSWEEK, am Telefon. Er hatte gerade einiges hinter sich. Gemeinsam mit dem NEWSWEEK-Herausgeber Maynard Parker hatte er wenige Wochen zuvor den deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl interviewt, aber es war ihm nicht gelungen, die eineinhalb Stunden, in denen Kohl doziert hatte, auf einer Druckseite unterzubringen: Es waren zwei Druckseiten geworden. Keine einfache Entscheidung, was gedruckt werden sollte. Im Herbst 1986 hatte die Kohl’sche Rhetorik schon einiges Denkwürdige hervorgebracht: Die Gnade seiner „späten Geburt“ ((Gemeint war: 'zu spät', um NS-Verbrechen begehen zu können.))…
Eine Rezension von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 34 (2017) Steven Jensen. The Making of International Human Rights: The 1960s, Decolonization, and the Reconstruction of Global Values. Cambridge: Cambridge University Press, 2016. 334 S. $99.99 (cloth), ISBN 978-1-107-11216-2. Zweifellos beginnt die moderne Geschichte der Menschenrechte – als Reaktion auf die Erfahrung der deutschen Nazi-Diktatur und des 2. Weltkriegs – mit der Universal Declaration of Human Rights vom 10. Dezember 1948. Als weitere Station gilt die Gründung ziviler Menschenrechtsorganisationen in den 1970er Jahren (Amnesty International erhielt 1977 den Friedensnobelpreis), aber auch der Helsinki-Vertrag (OSZE) von 1975. Die Entwicklung wird allerdings oft als westliche, oder sogar eurozentrische Erfolgsgeschichte gesehen – oder als doppelbödige Erzählung der Kolonisatoren kritisiert. Dieses Bild ist zumindest unvollständig, so das Argument von Steven Jensen in seinem The Making of International Human…
Eine Rezension von Jobst Paul ((Ich stütze mich hier auf die Rezension von Einav Rabinovitch-Fox (Case Western Reserve University), einsehbar unter https://www.h-net.)). Erschienen in DISS-Journal 34 (2017) Donna M. Kowal, Tongue of Fire: Emma Goldman, Public Womanhood, and the Sex Question. Albany: State University of New York Press, 2016. 222 pp. $75.00 (cloth), ISBN 978-1-4384-5973-8 Emma Goldmans (1869-1940) Leben und Werk ist seit langem ein Anlass für lebhafte Debatten. Sie wuchs als Kind jüdischer Eltern im litauischen Kowno auf, ging in Königsberg zur Schule und zog mit 13 Jahren mit ihrer Familie nach Sankt Petersburg. Als Fabrikarbeiterin rezipierte sie dort anarchistische Literatur und emigrierte mit 17 nach New York, wo sie sich der anarchistischen und der Arbeiterbewegung anschloss. Dennoch ist Donna M. Kowal’s Tongueof Fire: Emma Goldman, Public Womanhood, and the Sex Question nicht…
Eine Rezension von Jobst Paul ((Ich referiere hier die wichtigsten Aspekte der Rezension von D. Andrew Johnson (Rice University, Houston, History Department), einsehbar unter http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=46966.)). Erschienen in DISS-Journal 34 (2017) Sean M. Kelley, The Voyage of the Slave Ship Hare: A Journey into Captivity from Sierra Leone to South Carolina. Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2016. 304 pp. $30.00 (cloth), ISBN 978-1-4696-2768-7 Sean M. Kelley (Universität Essex) hat mit The Voyage of the Slave Ship Hare: A Journey into Captivity from Sierra Leone to South Carolina eine Fallstudie versucht, die stofflich zwar mikro-historisch vorgeht. Mit Blick auf die Akteure, die Institutionen und die versklavten Bevölkerungen handelt es sich jedoch zugleich um eine Makro-Geschichte des Sklavenhandels zwischen dem amerikanischen und dem afrikanischen Kontinent zwischen dem 16ten und 19ten Jahrhundert geliefert. Kelley zeigt…
Eine Rezension von Wolfgang Kastrup. Erschienen in DISS-Journal 34 (2017) Das viel beachtete Buch von Ulrich Brand und Markus Wissen Imperiale Lebensweise trägt den Untertitel Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. Damit wird klar, worum es den beiden Politikwissenschaftlern – Ulrich Brand lehrt an der Universität Wien, Markus Wissen an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) in Berlin – geht: um eine Analyse der Zusammenhänge einer in westlichen Staaten von vielen Menschen geschätzten alltäglichen Lebensweise, basierend auf ungerechten Verhältnissen im globalen kapitalistischen Kontext. Inhaltlich ist der Band entlang von vier grundlegenden Aspekten unterteilt: Erstens geht es um „die Alltagspraxen sowie die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen und internationalen Kräfteverhältnisse, die Herrschaft über Mensch und Natur erzeugen und verstetigen.“ (13)Zweitens möchten sie erklären, weshalb in einer Zeit der sich zuspitzenden Krisen…
Eine Rezension von Anton Meier. Erschienen in DISS-Journal 34 (2017) Die Soziale Marktwirtschaft gilt allenthalben als eine Strategie, mit der im Nachkriegsdeutschland auf die damals vorhandene soziale Not reagiert wurde. Uwe Fuhrmann zeigt in seiner Analyse, dass diese Strategie keineswegs das Ergebnis einheitlicher Planung war, sondern vielmehr das Resultat eines politischen Ringens und heftiger Proteste innerhalb der Bevölkerung. Bisher wurde die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft und ihre Konflikthaftigkeit kaum historisch aufgearbeitet. Stattdessen dominiert das unreflektierte Bild von einer glorreichen wirtschaftspolitischen Weichenstellung durch Ludwig Erhardt. Die gewaltigen Widerstände und Auseinandersetzungen um jene Ausrichtung werden darin ausgeblendet. Uwe Fuhrmann will diese lückenhafte und undifferenzierte Erzählung mit einer gründlichen Analyse konfrontieren. In diesem Kontext soll die geschichtswissenschaftliche Behauptung eines „Vorhabens“ der Sozialen Marktwirtschaft widerlegt (231) und der Idealisierung ihres vermeintlich wichtigsten Protagonisten, Ludwig Erhardt, entgegengewirkt werden…
Von Heiko Kauffmann, Erschienen in DISS-Journal 34 (2017) ((Erstveröffentlichung dieses Beitrags: Ostsee-Zeitung vom 6. September 2017.)) Europa bekämpft nicht die Schleuser und die Menschenrechtsverletzungen in Libyen, sondern vielmehr die Flüchtlinge und diejenigen, die sie vor dem Ertrinken retten. ((Die Aufschrift "Schande über Dich, Europa!" – "Shame on you, Europe!" trugen Banner, mit denen zivile Seenotretter auf der „Sea-Eye“ gegen die Ausdehnung der libyschen Hoheitsgewässer und die Sperrung zentraler Rettungsgebiete im Mittelmeer protestierten.)) Die EU rüstet Libyen mit Hunderten Millionen Euro auf, um sich die Flüchtlinge vom Hals zu schaffen: Geld für eine zwielichtige Küstenwache und eine schwache Regierung, die der verbrecherischen und gewalttätigen Milizen im Land und in den Flüchtlingslagern nicht Herr wird. Lager, in denen – auch nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes – KZ-ähnliche Zustände herrschen; eine Kooperation mit schlimmsten Folgen für…
Von Burak Yilmaz. Erschienen in DISS-Journal 34 (2017) Seit der verstärkten Fluchtbewegung nach Europa und Deutschland im Sommer 2015 bekomme ich als Gruppenleiter des Projektes „Junge Muslime in Auschwitz“ vermehrt E-Mails aus der Lehrerschaft im gesamten Bundesgebiet. Sie fragen nach einer möglichen Gedenkstättenfahrt mit ihren Schülerinnen und Schülern an. Im Projekt „Junge Muslime in Auschwitz“ organisieren wir jährliche Auschwitzfahrten und bieten im Anschluss ein drei- bis sechsmonatiges Theaterprojekt an, um die Erlebnisse der Teilnehmenden zu verarbeiten. Ziel ist es, stigmatisierten Jugendlichen einen Schutzraum anzubieten, indem sie ihre Lebensgeschichte durch Biografiearbeit in einen gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang bringen. So schilderte mir zuletzt eine Lehrerin, dass die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte ihre Schülerinnen und Schüler für gegenwärtigen Antisemitismus sensibilisieren würde. Ihre Schülerinnen und Schüler kämen kaum in Kontakt mit „Deutschen“ und „deutschen Gepflogenheiten“. Daher…