Das Problem der Dekadenz seit Georges Sorel

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Von Kurt Lenk

[Red.] Dem im Folgenden abgedruckten Aufsatz Kurt Lenks liegt ein Vortrag zugrunde, den er 2004 auf dem 17. Kolloquium des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung in Würzburg gehalten hat. Der Aufsatz erschien zusammen mit anderen Beiträgen (u.a. von Roger Griffin, Moshe Zuckermann, Volker Weiß, Ulrich Prehn) im Band 8 der Edition DISS „Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie“ (Münster 2005).1 Der „Nestor der kritischen Konservatismusforschung in Deutschland“ (Vorwort) griff damals einen zentralen Aspekt heraus, der immer wieder in der Faschismusdiskussion thematisiert wird und sowohl für das Verständnis der Konservativen Revolution als auch der heutigen Neuen Rechten von Bedeutung ist: das Problem der Dekadenz. Lenk konzentrierte sich auf eine ideengeschichtliche Herleitung des Dekadenzbegriffs von Polybios über Machiavelli hin zu Nietzsche, Bergson und Sorel und arbeitete das geschichtsphilosophische Grundmuster einer dekadenz-theoretischen Zeitdiagnositik heraus. Er kam zum Ergebnis, dass bereits bei Sorel die Grundzüge einer „faschismus-affinen Krisensemantik“ vorliegen, gruppiert um die zentralen Topoi: Dekadenz-Apokalypse-Heroismus.

Einleitung

In einem Interview des derzeitigen Vorsitzenden der NPD, Udo Voigt, finden sich die folgenden Aussagen:

Die Leute sollen […] erkennen, dass es früher oder später notwendig ist, sich zu entscheiden. Nämlich zwischen dem Untergang Deutschlands in einer multikulturellen Gesellschaft oder einer Besinnung auf eine nationale Wende.“ (…) „Es ist doch offensichtlich, dass das liberal-kapitalistische System der BRD vor dem Zusammenbruch steht: Entweder wird es durch Verfall zur multikulturellen Gesellschaft erodieren, oder das Volk wird ihm durch revolutionär verändertes Wahlrecht ein Ende setzen.“ (Voigt 2004)

Voigt benennt auch den „subjektiven Faktor“, der der damit proklamierten „Revolution von rechts“ den Elan geben soll: Es sind dies die von einem „extremen Idealismus“ erfüllten NPD-Mitglieder, die, gerade weil sie unter „besonderem Druck“ stehen, „Opferbereitschaft“ und „Einsatzfreudigkeit“ aufbringen. Denn solcher Druck „produziert politische Aktivisten von ganz anderem Schlage, als die Bürger es von den übrigen Parteien kennen“ (ebd.).

Nimmt man zu dieser offenen Kampfansage jene im „Taschenkalender des nationalen Widerstandes 2004“ der Deutschen Stimme-Verlagsgesellschaft mbH hinzu, so ergibt sich eine politische Apokalyptik, der es abermals ums Ganze zu gehen scheint. Dort ist vom „Überlebenskampf des deutschen Volkes“, von „Arterhaltung“ und vom drohenden Untergang der weißen Völker die Rede, von Gleichheitsideologien, die zur Ausradierung der biokulturellen Wurzeln und rassischen Identitäten führen müssten.

Der Tenor solcher Kampfansagen ist auch in der Bundesrepublik nicht gerade neu; neu ist allerdings der Umstand, dass diesmal eine als revolutionäre Bewegung auftretende Fundamental-Opposition sich daran begibt, Parlamente zu erobern, ihrer Parole gemäß: erst die Straße, dann die Köpfe und schließlich die Institutionen des Parlamentarismus. Der kurze Hinweis auf diese aktuelle Form einer dekadenz-theoretischen Diagnostik sollte zeigen, dass wir es beim Syndrom Dekadenz – Apokalyse – Heroismus nicht mit längst vergangenen Phänomenen zu tun haben, sondern mit einem Evergreen aus der langen Tradition des revolutionären Konservatismus.

Im Folgenden geht es darum, an den Topoi Dekadenz, Apokalyse und Heroismus drei der gleichsam „archetypischen Fundamente“ (Eco 1998) nicht allein des italienischen Faschismus zu rekonstruieren. Dabei wäre zu zeigen, dass im Kern der Collage aus militanter Liturgie, Folklore und äußerer wie innerer Uniformierung sich ein Mythenkonglomerat befindet, dessen Offenlegung womöglich auch einen Zugang zu jener Generation der „Unbedingten“ (vgl. Wildt 2002) erlaubt, die als die eigentlichen Trägerschichten faschistischer Bewegungen fungierten.

Geschichtsphilosophisches Grundmuster: Das zyklische Geschichtsbild

Dekadenz“ gehört zum Umkreis der so genannten Plastikwörter (vgl. Pörksen 1988), zu denen etwa Identität, Kommunikation, Information und viele andere alltagssprachliche Begriffe gehören. Die Häufigkeit des Gebrauchs solcher Termini steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Klarheit. „Umso stärker ist ihre projektive, den Zielbereich verändernd beleuchtende und interpretierende Wirkung.“ (Pörksen 1988, 118)

Die Geschichte des Dekadenzbegriffs geht auf die späte Antike zurück und steht dort für Verfallsperioden im Rahmen einer zyklischen Geschichtsdeutung (vgl. hierzu Rehm 1927 sowie Leisegang 1928). Im Hintergrund dieser Historiographie steht in der Regel die Geschichte des Römischen Reiches, wie sie etwa bei dem griechischen Universalhistoriker Polybios (um 205-123 v. Chr.) erscheint, demzufolge Rom seine Machtentwicklung vor allem seiner Tüchtigkeit und seinen staatlichen und militärischen Einrichtungen verdankte, mit deren allmählichem Verfall das Ende des Großreiches eingesetzt habe. Die Pointe seines Geschichtsverständnisses beruht auf der Überzeugung, dass dem Aufstieg Roms zur Weltmacht ebenso notwendig der Niedergang folgen musste, weil alles Geschehen in dieser Welt sich in geschlossenen Kreisen vollziehe (vgl. Walbank, in: Koselleck/ Widmer 1980).

Diese Idee vom Kreislauf – etwa der Verfassungen – wird später, im Gegensatz zur „Politeia“ Platons, nicht mehr bloß mythisch gefasst, sondern streng logisch: Kennt man, so wird behauptet, Entstehung und Entwicklung von Staaten und Verfassungen, so lasse sich daraus auch ihr Wachstum, ihr Höhepunkt und ihr schließlich unabwendbarer Umschwung zur Dekadenz entwickeln. Alles Entstandene sei naturnotwendig einer übergreifenden Gesetzmäßigkeit unterworfen, die es dem Beobachter erlaube zu erkunden, in welchem Stadium sich ein Gemeinwesen gerade befinde. Der Universalhistoriker wird damit zum Prognostiker, der im Voraus weiß, wohin die Reise geht. In der Tat hat die mit der Dekadenzthese verbundene Rhetorik stets etwas von der Aura des Propheten behalten, ein Merkmal, in dem wohl nicht zuletzt auch die merkwürdige Faszination bestehen mag, die seit je allen zyklischen Geschichtsdeutungen, wie etwa der Oswald Spenglers, anhaftet (vgl. Spengler 1986).

Im neuzeitlichen Denken steht in der Regel hinter diesem Geschichtsverständnis das erstmals von Niccolò Machiavelli (1469-1527) entworfene immanent geschichtliche Verständnis des Staatswesens, das – im Gegensatz zur Weltmonarchientheorie des christlichen Mittelalters – Aufschluss über die historischen Gesetzmäßigkeiten gewinnen möchte. So ist Machiavelli überhaupt der erste Psychologe des Verfalls und der Dekadenz, der bestimmt ist vom epochentypischen Bewusstsein, in einem Zeitalter vollkommener sittlicher Verwahrlosung und psychischer Verelendung (Machiavelli nennt sie „corruzione“) zu leben. Vor allem seine „Florentinische Geschichte“ (Machiavelli 1934) ist ein Muster für das Gemälde eines Kulturverfalls. Ihm geht es darum, aus der Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte Aufschlüsse über deren Fortgang zu gewinnen. Sehen, um vorauszusehen, ist von da an die Devise aller geschichtsphilosophischen Konstruktionen, soweit es sich um Universalgeschichte handelt. Machiavelli zum Neunzehnten Jahrhundert ist ein gewaltiger Sprung. Doch gibt es in der politischen Theorie bestimmte Schlüsselmotive, die solch große Zeiträume überbrücken. Dazu gehört etwa jene anthropologisch fundierte Grundstimmung, dass, entgegen dem Schein radikaler Veränderung, sich das Wesen der Durchschnittsnatur des Menschen im Grunde stets gleichbleibe, und dass „die ‘natürliche’, also sich von selbst einstellende Bewegung der menschlichen Welt“ der Verfall sei (Schelsky 1973, 16). Es bedürfe deshalb einer dauernden Anstrengung, um den jeweils erreichten Kulturzustand einer Gesellschaft zu erhalten. In diesem Sinne heißt es bereits bei Georges Sorel: „Die Bewegungen gegen die Größe hin sind immer erzwungen und die Bewegungen dem Verfalle zu sind stets natürlich“ (zit. nach Schelsky 1973, 17). Diese metatheoretische Grundüberzeugung teilen alle von Machiavelli inspirierten Geschichtsdeutungen, so auch die Helmut Schelskys, der sich nachdrücklich mit folgenden Worten zu Sorel bekennt:

In der Tat weisen alle soziologischen Voraussagen des Verfalls eine höhere Beweiskraft auf als die Vorhersagen der sozialen Zuversicht, weil diese unvorhersehbare menschliche Anstrengungen in Rechnung stellen müssen, während jene auf der Durchschnittsnatur des Menschen beruhen […]. So ist die pessimistische Ansicht der sozialen Entwicklung wahrscheinlich bei weitem die wissenschaftlichere gegenüber der utopischen […]. Während diese den politisch Handelnden die […] Sicherheit des Heils, das Himmelreich […] verspricht, […] entwirft die pessimistisch-wirklichkeitsnahe Sozialwissenschaft das Bild dessen, was sowieso, d.h. ohne eine sich aufbäumende menschliche Anstrengung, geschieht.“ (Ebd., 17f.)

Dekadenz als Zeitdiagnostik

Um sinnvoll von Dekadenz als kollektivem Vorgang sprechen zu können, müssen mindestens drei Bedingungen gegeben sein:

ein zyklischer Geschichtsverlauf, der ein Auf- und Ab kennt, an dem die jeweilige Verfallsbewegung abzulesen ist;

das Dogma einer invariablen menschlichen Natur, eine statische Anthropologie, wie sie seit Machiavelli allen konservativen Autoren zu eigen ist;

eine zugrunde gelegte, in die „bessere“ Vergangenheit projizierte Norm, die als Kriterium für die behauptete Fallbewegung dient. Sie ist zugleich der Ursprungsmythos, von dem her prinzipiell jede historische Bewegung als „Abfall“ erscheinen kann, gemäß dem Motto: Der Ursprung ist das Ziel.

Vor allem in der Kulturkritik Friedrich Nietzsches (1844-1900) findet das Dekadenztheorem seinen klassischen Ort. Ihm zufolge lassen sich drei einander ergänzende Komplexe unterscheiden:

das Nachlassen der biologischen Lebenskraft, sei es als Geburtenrückgang, als Verweichlichung, oder als absterbender kollektiver Selbstbehauptungswille im Sinne eines „niedergehenden Lebens“;

moralischer Verfall durch Individualismus, Egoismus, und Materialismus, besonders Sittenverfall bei der Jugend sowie mangelnde Opfer- und Dienstbereitschaft;

die Entartung der „Kultur“ zu bloßer „Zivilisation“.

Mit diesen Bestimmungen war Nietzsche richtungweisend für die meisten, ihn stark vergröbernden antiintellektualistischen Bewegungen im 20. Jahrhundert.

Der Dorn des Sokrates

Bereits in seiner Frühschrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (Nietzsche 1955) entwickelt er das Phantasma des „theoretischen Menschen“, den er paradigmatisch in der Gestalt des Sokrates verkörpert sah. An ihm konstatiert er „eine tiefsinnige Wahnvorstellung, […] jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Kausalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu korrigieren imstande sei“ (ebd., S. 128). Das von Nietzsche favorisierte Gegenbild zu solch verwerflichem Optimismus ist der „tragische Mensch“, den allein er für lebenstauglich hält:

Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug ins Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentöter, die stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoktrinen jenes Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen ‘resolut zu leben’.“ (Nietzsche 1955, 149f.)

In seiner Spätschrift „Götzendämmerung“ hat Nietzsche diesen seinen Anti-Sokratismus in die Formel gefasst, dass die frivole Gleichsetzung von Vernunft, Tugend und Glück jede Tiefe des menschlichen Lebens verfehle und an die Stelle eines wahrhaft dionysischen ein bieder-optimistisches Menschenbild treten lasse (vgl. Nietzsche 1954, 92f.). Während Schönheit, Schrecken und Tragik, Mythos und Kunst zur Substanz des menschlichen Lebens gehörten, sei mit Sokratismus und Christentum der Weg einer Lebensverneinung beschritten worden, der mit seinem Nützlichkeitsglauben an den Fortschritt der Wissenschaften und seinem Intellektualismus in den Nihilismus führen musste. In Wahrheit seien Vernunft- und Fortschrittsglaube bloß das Ressentiment der Zukurzgekommenen und deren Rache an den „Vornehmen und Starken“. Nietzsche beklagt, „dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt […] es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt“ (ebd., 20).

Vom gleichen Unbehagen ist auch Sorel erfüllt. Er sieht die Gesellschaft seiner Zeit in Auflösung begriffen, Religion, Sitten und Recht, die einzigen Ordnungsgaranten, durch Kritik bedroht. Im Nachwort zur zweiten Auflage von Michael Freunds Sorel-Monographie finden sich die verzweifelten Worte, mit denen Sorel sein Leben beschlossen haben soll:

Alle Traditionen sind verbraucht, aller Glaube abgenützt […]. Alles vereinigt sich, um den guten Menschen trostlos zu machen […]. Ich kann von der Dekadenz kein Ende sehen, und sie wird in einer oder zwei Generationen nicht geringer sein. Das ist unser Schicksal.“ (Sorel, zit. nach Freund 1972, 269)

Sokrates gilt auch Sorel als der Zerstörer eines dionysischen Urzeitalters, in dem die griechische Tragödie einst ihren Ort hatte. Sie war ihm zufolge die einmalige Form, in der das Dunkel und die Abgründe des menschlichen Daseins zum Ausdruck kamen, eine Kunst, den Schatten der Existenz zu begegnen. Nietzsches „Geburt der Tragödie“ vom Jahre 1871 enthält bereits das zentrale Motiv dieser ihn mit Sorel verbindenden Apotheose des Tragischen, „die Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit“ (Nietzsche 1955, 99).

Mit dieser Formulierung ist zugleich das Unheil der Dekadenz umschrieben: Sie beruht letztlich auf jener durch den Prozess der Individuation bzw. der Subjektwerdung eingetretenen Trennung vom Ursprung, einer Loslösung vom All-Einen, die auf den Beginn aller Geschichte als einer Verfallsbewegung projiziert wird. Prinzipiell ist Dekadenz hier gar nicht als bloße Deformation menschlichen Daseins gefasst; erscheint doch das Dasein der Spezies Mensch per se als die inkarnierte Dekadenz. Demgemäß ist die Geschichte der Menschheit ein einziger Abfall von jenem als ‚rein’ gedachten Ursprung aller Zeiten. Theologisch gesprochen begehen Menschen gar nicht erst Sünden, sie selbst sind in ihrer gesamten Existenzweise „schuld“ im Sinne jenes Nietzschewortes: „Denn alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht“.

Kunst gilt hier – im Gegensatz zu aller „bloßen Wissenschaft“ – ihrem Sinne nach als eine kathartische Therapie, die durch Schmerz, Opfer und Tod das Leben als eine „natürliche Einheit“ erfahren soll, als ein „Gesundbaden“ von jenem Sokratismus, in welchem Nietzsche und Sorel gleichermaßen die eigentliche Krankheit nicht allein ihres Jahrhunderts sehen wollen. Innere Läuterung und Reinigung von jener „Urschuld“ der menschlichen Existenz sei die Wiedergeburt einer dionysischen Lebensform und die mit ihr ermöglichte Überwindung der Dekadenz.

Den Hintergrund dieser Kunstreligion liefert ein Begriff des Schicksals, eine dunkle, mysteriöse Macht im Sinne eines erhabenen Gesetzes, das es schlechthin anzunehmen gelte. Insofern ließe Sorels Plädoyer für die Gewalt (violence) als des genuinen Mittels politischen Kampfes sich als das Pendant zu Nietzsches Wiederentdeckung des Dionysischen begreifen. In beider Welten herrschen keine Trennungen mehr, weder zum Du noch zur Welt der Götter.

Ihrem Selbstverständnis gemäß sehen Nietzsche und Sorel sich als Deuter und Wegweiser. Ihr Programm zielt auf Überwindung jeglichen Subjektivismus und auf transpersonale Werte, seien dies solche der Kunst, Opfermythen oder die Versöhnung mit dem Schicksal im Sinne eines „amor fati“.

Allerdings geht Sorel über diese Lebenslehre Nietzsches hinaus, sofern er Dekadenz im Stile seiner Zeit nicht mehr in erster Linie als ein bloß psychologisches oder biologisches Phänomen thematisiert. Sein Ansatz ist ein von vornherein kultur- und zivilisationspessimistischer: Mit dem Ende der Produzentenmoral ihrer Frühzeit habe die Bourgeoisie sich in die Passivität eines Konsumismus verloren, aus welcher der politische Generalstreik der Arbeiter sie nun vertreiben soll.

Dekadenz bedeutet ihm zunächst, dass die Menschen ihre „natürlichen“ Bindungen verlieren, damit die moralischen Grundlagen aller Gemeinschaften zerstören und an deren Stelle Zweifel und Skepsis treten lassen. Dabei geht es ihm vor allem um die Erneuerung der gemeinschaftsbildenden Kraft der Mythen, nicht aber um irgendwelche bestimmten Inhalte:

Ein Mythos kann nicht widerlegt werden, da er im Grunde das gleiche ist, wie die Überzeugungen einer Gruppe, da er der Ausdruck der Überzeugungen in der Sprache der Bewegung ist, und da es folglich nicht angeht, ihn in Teile zu zerlegen.“ (Sorel 1969, 42)

Sorels Lehre ist durchzogen von einer glaubenslosen Glaubenssehnsucht, der formalen Bejahung von Aktivität als solcher, ungeachtet ihrer inhaltlichen Richtung und Ziele. Auch seine radikale Wendung gegen alles Bürgerlich-Liberale geschieht im Namen des Heroismus der „reinen Tat“, der zugleich die entschiedene Absage an jedweden Kompromiss darstellt. Mit dieser antibourgeoisen Lebensstellung wird Sorel zum Fürsprecher eines revolutionären Syndikalismus, darüber hinaus zum Protagonisten vieler Spielformen des modernen Anti-Intellektualismus.

Sorels Mythosbegriff meint nicht Ursprungs- sondern Erwartungsmythos. Lag im Ursprungsmythos die Verheißung der Wiederkehr einer verjüngten, heilen Welt, so stellt der Erwartungsmythos die Vorwegnahme einer sozialen Katastrophe, einer Vernichtungsschlacht dar. Es ist dies ein hergestellter Mythos, der mittels des Generalstreiks das Proletariat „heroisch“ und die Bourgeoisie erneut militant machen soll. Der Sinn solch heroischer Gewaltanwendung ist weniger ein Sieg der einen über die andere Seite als die Mobilisierung emotionaler Kräfte: „Aus den Tiefen echter Lebensinstinkte, nicht aus einem Räsonnement oder einer Zweckmäßigkeitserwägung, entspringe der große Enthusiasmus, die große moralische Dezision und der große Mythus.“ (Tönnies 1929, 63)

Zur Lebensphilosophie Henri Bergsons

Für die offizielle akademische Philosophie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren die menschliche Vernunft und der Intellekt die höchste Erkenntnisinstanz, die gegenüber Offenbarungswahrheiten und intuitiven Eingebungen als einzig wissenschaftliche Zugangsart zur raumzeitlichen Wirklichkeit gegolten hatte. Sowohl im Frankreich Descartes’ als auch im neukantianisch orientierten Deutschland gehörte der Primat des Logos vor dem Mythos zu den Axiomen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses.

Allein, in den letzten Jahrzehnten desselben Jahrhunderts war vom Fortschrittsbegriff der neuzeitlichen Wissenschaft wenig übriggeblieben. Trotz einer weit verbreiteten Begeisterung für technisch-wissenschaftlichen Fortschritt machte sich – zunächst am Rande – eine eher kulturpessimistische Stimmung breit. Symbolisch für diesen Mentalitätswandel steht in Deutschland Nietzsche, in Frankreich Henri Bergson, der am Pariser College de France mit großem Erfolg lehrte. Hier sollen im Telegrammstil wenigstens einige der zentralen Ideen Bergsons genannt werden, soweit sie zum Ferment der Theorie Sorels geworden sind:

Das Leben als absolute Wirklichkeit kann nur einheitlich und unmittelbar erfahren werden.

Dies substanzhafte Leben ist im Kern schöpferische Entwicklung („evolution créatrice“), die stets Neues und Unvorhergesehenes zutage fördert.

Der von Bergson „élan vital“ genannte Lebensstrom ist die Manifestation einer einzigen Urtriebskraft, die zu immer größerer Fülle des Lebendigen führt.

Demgegenüber ist der menschliche Verstand nur zum Zwecke der Anpassung an die leblose Materie im Raum geschaffen. Unsere Begriffe sind nicht fähig, das Leben in seiner Unmittelbarkeit zu fassen.

Die wahre Erkenntnisquelle ist nicht die Vernunft, sondern die Intuition, das bildhafte Erleben der Wirklichkeit in ihrer Ganzheit.

Wo der Lebensschwung getroffen wird und die Spannung nachlässt, tritt eine tödliche Mechanisierung des Lebens ein. Sie wird Bergson als Materialismus, Rationalismus und Positivismus zum Inbegriff der Dekadenz.

Marxismus-Rezeption apokalyptisch

Sorel hat weder eine systematische, noch gar eine in sich konsistente Theorie der Gesellschaft und des Politischen entwickelt. Seine Bedeutung beruht im Wesentlichen auf wirkungsgeschichtlichen Impulsen, die von seiner spezifischen Marxismusrezeption auf den französischen und italienischen Syndikalismus und mehr noch auf den europäischen Nationalismus und Faschismus des 20. Jahrhunderts ausgingen.

Der Marxismus ist für Sorel nicht wegen seiner Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsformation, sondern primär wegen seiner Vision vom bevorstehenden Klassenkampf und der Perspektive eines schließlichen Zusammenbruchs der bürgerlichen Gesellschaft von Bedeutung. Er transformiert die ökonomischen Analysen der marxistischen Kapitalismuskritik in primär moralisch getönte proletarische Befreiungskämpfe gegen die bürgerlich-liberale Dekadenz. Nicht etwa – wie noch bei Marx – geht es ihm um die Vergesellschaftung der Produktionsmittel oder um die Sprengung von Produktionsverhältnissen durch Produktivkräfte, sondern allein um eine Revitalisierung des Konflikts zwischen opferbereit-heroischer Arbeiterschaft und dekadenter Bourgeoisie. Im syndikalistischen Generalstreik sieht Sorel das Symbol eines sittlichen Aufschwungs, einer Regeneration der Gesamtgesellschaft. Auf dieser aktionistischen Komponente beruht der „soziale Mythus“, „der die Revolution en bloc, als ein unteilbares Ganzes gibt“ (Sorel 1930, 63).

Nicht Wissenschaft, sondern mythische Bilder einer bevorstehenden Katastrophe seien die lebendigen Kräfte der Revolution. Solche sozialen Mythen sind nicht etwa das Ergebnis utopischer Projektionen in die Zukunft, sondern der Antriebsmotor einer proletarischen Klasse, die sich nur mittels eines politischen Generalstreiks zum historischen Subjekt konstituieren könne. Auch hier wendet Sorel die zeitgenössische Lebensphilosophie Bergsons auf die Gesellschaft an.

Gegen Ende des 19.Jahrhunderts dominierten in der deutschen Sozialdemokratie zwei Richtungen: die Orthodoxie Karl Kautskys und der Revisionismus Eduard Bernsteins. Während Kautsky, im Vertrauen auf die inneren Widersprüche des Kapitalismus, über kurz oder lang auf einen gleichsam naturgesetzlichen Zusammenbruch des Systems setzte, vollzog Bernstein eine Wendung zur „Verwissenschaftlichung“ des Marxismus, derart, dass er jedwede Vorstellung von Revolution und Dialektik verwarf und stattdessen auf einen kontinuierlichen Aufstieg der Arbeiterschaft und einen friedlichen Ausgleich der Klassen hoffte. Demgegenüber sah Sorel den Ausweg aus der Krise allein in der Mobilisierung des Proletariats zum Klassenkampf bis hin zum Generalstreik, eine Strategie, die bekanntlich nur in kleinen syndikalistischen Zirkeln Italiens und Frankreichs Anklang fand. Ihm ging es zunächst um die Befreiung des Proletariats aus den Fesseln des bürgerlichen Staates, in dessen korrupten Strukturen er das eigentliche Übel sehen wollte. Nicht das Studium der Gesetze der Kapitalverwertung, auch nicht die Analyse und Kritik der Mehrwertproduktion – Kern der Marxschen Theorie –, sondern direkte Aktionen waren für Sorel der harte Kern, das Alpha und Omega des Sozialismus. Seine Parteinahme entsprang nicht der Erfahrung der proletarischen Not, noch gar irgendwelchen Regungen des Mitleids; vielmehr sah er die Ursache der gesellschaftlichen Degeneration im moralischen Zerfall der herrschenden Klassen und Eliten. Das Überhandnehmen der Börsenmärkte, der wachsende Egoismus und Utilitarismus und die um sich greifende Konsumentenmoral mit ihren vielfältigen psychischen Folgen trieben diese Gesellschaft schließlich in eine lähmende Spannungslosigkeit. Sorel sprach in diesem Zusammenhang von „plutokratischer“ Herrschaft, der nur durch zwei Mittel beizukommen sei: durch Krieg als Gewalt nach außen und Generalstreik als Gewalt nach innen. Solche Aktionen stellen Sorel zufolge eine Art Purgatorium für eine allmählich in Dekadenz absinkende Gesellschaft dar, um deren moralische Rettung es ihm zu tun war.

Da im Gegensatz zum marxistischen Projekt der Klassendualismus nicht etwa aufgehoben, sondern gerade verschärft, Produktionsmitteleigentum keineswegs vergesellschaftet, sondern bewahrt werden soll, handelt es sich bei Sorels Revolutionskonzept primär um eine Kulturrevolution. In ihr bilden vor allem die Intellektuellen sein Feindbild, sofern sie, im Dienst von Fortschrittsutopien, sich zum Handlanger eines repressiven Staatsapparats hergäben. Helmut Schelsky spricht in gleichem Sinne von einer verwerflichen „Priesterherrschaft“ der Intellektuellen (vgl. Schelsky 1975). Metaphorisch gesprochen geht es beiden um eine Sozialisierung der Herzen und der Köpfe, nicht aber der Gesellschaft.

Die von Marx noch angezielte „Expropriation der Expropriateure“ wird von Sorel ersetzt durch die moralische Revolte im Sinne einer kollektiven Empörung, durch die eine Art kultureller Machtergreifung vorbereitet werden sollte. Ähnlich wie im Anarchismus Michail Alexandrowitsch Bakunins „ging hier die Praxis der Theorie voraus, und nur das Handeln zählte wirklich“ (Sternhell 1999, 101).

Spielformen des Heroismus

In der Bejahung der tradierten, als schicksalsmäßig stilisierten Machtverhältnisse treffen sich eine Reihe lebensphilosophisch orientierter Autoren. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist die Entschiedenheit, mit der sie alle vorgegebenen gesellschaftlichen Strukturen als Schicksal bejahen, so wie Nietzsche dies mit seiner „amor fati“-Formel exemplarisch demonstriert hatte. Oswald Spengler, Ernst Jünger (vgl. Jünger 1930), Gottfried Benn und andere Autoren der „Konservativen Revolution“ haben diese Attitüde eines faustisch-heroischen Menschen als die einzig angemessene Antwort auf eine zu Dekadenz und Untergang tendierende Welt begreifen wollen:

Lieber ein kurzes Leben voll Taten und Ruhm, als ein langes ohne Inhalt (…). Die Zeit läßt sich nicht anhalten, es gibt keine weise Umkehr, keinen klugen Verzicht. Nur Träumer glauben an Auswege. Optimismus ist Feigheit.
Wir sind in diese Zeit geboren und müssen tapfer den Weg zu Ende gehen, der uns bestimmt ist. Es gibt keinen andern. Auf dem verlorenen Posten ausharren ohne Hoffnung, ohne Rettung ist Pflicht. Ausharren wie jener römische Soldat, dessen Gebeine man vor einem Tor in Pompeji gefunden hat, der starb, weil man beim Ausbruch des Vesuvs vergessen hatte, ihn abzulösen. Das ist Größe, das heißt Rasse haben.“ (Spengler 1931, 60)

Im Kern der faschismus-affinen Krisensemantik, für deren Beginn Sorel steht, findet sich das Syndrom Dekadenz-Apokalypse-Heroismus, dem die Idee einer Art „Wiedergeburt“ zugrunde liegt. Zwar sind bei den einzelnen Autoren Ursachen, Symptome und Folgen der Dekadenz variantenreich beschrieben, doch gleichen sie sich in ihrer Dramaturgie. Stets geht es letztlich um eine Entscheidung zwischen Untergang oder Rettung durch irgendwelche heroischen Taten. Die hier in Rede stehenden Autoren versetzen ihre Adressaten häufig in eine Art paranoider Situation, bei der es letztlich – wie in einem permanenten Ausnahmezustand – um Leben oder Tod zu gehen scheint. Die in Krisensituationen stets erneut mögliche Reaktivierung eines derartigen „faschistischen Syndroms“ (Hacker 1992) führt zur Frage nach dessen psychischem Gewinn für die immer wieder davon Faszinierten. Doch dies wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung.

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1 Herausgeber: Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn, Jobst Paul.

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal#44 aus dem November 2022. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.