Von Guido Arnold
Grundsätzlich klingt ‚Vernetzung‘ erstrebenswert und sinnvoll. Isolierte Individuen mit spezifischen Interessen können sich überregional im Netz ‚finden‘ und ‚austauschen‘. Aber was sind die Bedingungen für Teilhabe an solch einem Austausch und wie formen diese die dort verbundenen Subjekte? Wer ist wie sichtbar? Wie verbreiten sich (Des-)Informationen im Vergleich zu nicht-virtuellen Öffentlichkeiten? Welche Dynamik entwickelt sich bei den ‚Bewohner:innen‘ bzw. ‚Besucher:innen‘ virtueller sozialer Räume? Und last but not least: Wer legt die Metrik, also das zugrundeliegende Regelwerk für die Interaktion in diesen Räumen fest?
Eine umfassende Bestandsaufnahme gestaltet sich schwierig: Während Blogger:innen die Möglichkeit virtueller Kommunikation für den Kampf zur Demokratisierung öffentlicher Diskurse nutzen und als das „Werkzeug für Protestierende“ propagieren, wird der Handlungsraum zivilgesellschaftlicher Organisationen und Aktivist:innen weltweit zunehmend enger.1
Instagram, Facebook und Twitter entwickeln sich (teils in den gleichen Ländern) zum polarisierenden, ausgrenzenden, digitalen Pranger und zum Medium für die Selbstorganisierung eines nicht mehr nur digitalen ‚Mobs‘, der auf mitunter tödliche Menschenjagd geht. Insbesondere in politisch fragileren Regionen können Plattformen wie Facebook und Twitter wie ein Brandbeschleuniger wirken. In Myanmar etwa, wo seit Mitte der 2010er-Jahre ein Völkermord an der ethnischen Minderheit der Rohingya verübt wurde, ließ Facebook die Verbreitung von Gewaltaufrufen gegen die Volksgruppe zu. Eine Gruppe burmesischer NGOs und ein Report des Human Rights Council der UN stellten 2018 fest: Facebooks fehlende Moderation trug substanziell zur Gewalt bei. Der Konzern hatte viel zu wenig Moderator:innen mit entsprechenden Sprachkenntnissen beschäftigt, um seine eigenen Regeln durchzusetzen und Hass einzudämmen.2 Aber auch in den USA schreibt die aufarbeitende Justiz Trumps Twitteraktivitäten eine zentrale Rolle bei der Organisation des Sturms auf das Kapitol im Januar 2021 zu.
Immer ausgefeiltere Desinformationskampagnen sowohl staatlicher als auch privatwirtschaftlicher Akteure führen die Idee eines freien Wissens- und Diskussionsraumes mit möglichst geringen 1. Zugangshürden, 2. Beschränkungen der Inhalte und 3. Verletzungen von Nutzerrechten ad absurdum. Der kürzlich veröffentlichte „Freedom on the Net“-Report3 beschreibt eine drastische Fragmentierung des ursprünglich als global erdachten Raums in kontrollier- und manipulierbare Subräume – zunehmend auch entlang nationaler Grenzen. Clyde Wayne Crews prägte den Begriff des splinternet als Zersplitterung eines globalen Internets in Abkopplungen nach nationalen, kommerziellen oder technologischen Gesichtspunkten. Das Ausmaß nicht nur möglicher sondern tatsächlich praktizierter politischer Manipulation verdeutlichte der Cambridge Analytica-Skandal u.a. im US-Wahlkampf 2016.4
Demokratietheoretisch von großer Bedeutung ist der Zerfall weniger (vorherrschender) öffentlicher Diskursräume in viele virtuelle Subräume, in denen die Diskurse in sich geschlossen und stark monopolisiert sind. Diese Fragmentierung virtualisierter „öffentlicher Plätze“ kann Gesellschaften spalten und damit demokratiegefährdend wirken. Soweit bekannt. Bei der Analyse von Diskursverformungen wird jedoch vielfach die politische Motivation technologischer Plattformen unterschlagen bzw. unterschätzt. Es ist nicht neu, aber es scheint ein Trend wohlhabender Trolle zu werden: rassistisch oder antisemitisch hetzende Oligarchen wie Donald Trump (Truth Social) oder Kanye West (Parler) kaufen sich nach der Einschränkung ihrer Entfaltungsmöglichkeiten auf Twitter, Instagram oder Facebook eine eigene Kommunikationsplattform und streiten dort nunmehr ungebremst gegen Zensur und für das Recht auf freie Pöbelei. Verglichen mit ihrer ehemaligen Reichweite ist dieser Ausweich ein in der Regel bescheidener Ersatz. Der Ansatz von Elon Musk reicht hingegen deutlich weiter: Er kauft das von ihm als zu stark zensierend kritisierte Twitter, ändert die Regeln und verbleibt auf dem dann runderneuerten Medium. Der reichste Mensch der Welt übernimmt die derzeit einflussreichste Kommunikationsplattform der Welt – mit Konsequenzen für (fast) die ganze Welt.
„Free-Speech-Absolutismus“
„Freie Meinungsäußerung ist die Grundlage für eine funktionierende Demokratie, und Twitter ist der digitale Marktplatz, wo Dinge diskutiert werden, die lebensnotwendig sind für die Zukunft der Menschheit“, sagte Musk in einem Statement.5 „Ich will Twitter besser als je zuvor machen.“ Elon Musk will den Algorithmus „öffnen“, um „Vertrauen zu erhöhen“. Nutzer:innen könnten dann sehen, welche Einträge warum ganz oben in ihrer Timeline landen. Es werde möglich sein, Änderungen vorzuschlagen – eine Entscheidung darüber läge allerdings beim Eigentümer Musk, ohne lästige Anteilseigner.
Musk nennt sich selbst einen „Free-Speech-Absolutisten“, der die Meinungsfreiheit auf dem „globalen Dorfplatz“ wiederherstellen werde. Sein Ideal scheint das weitgehend unzensierte Twitter der Anfangszeit zu sein. Wie die Meinungsfreiheit im Weltbild des Egozentrikers Musk aussieht, lässt sein Umgang mit Whistleblower:innen und Journalist:innen erahnen. Als im März ein Presseteam des ZDF das Tesla-Gelände bei Berlin besuchen wollte, bekam es keine Akkreditierung. Ein Interview mit Robert Habeck musste außerhalb des Werksgeländes geführt werden. Laut ZDF habe Tesla eine kritische Berichterstattung des Magazins Frontal 21 als Grund für die Nicht-Zulassung angeführt.
Und dann war da noch der Streit mit einem Höhlenforscher, der es gewagt hatte, eine Weltenretter-Idee von Musk als „PR-Trick“ zu kritisieren. Musk wollte die in einer Höhle eingeschlossene thailändische Jugend-Fußballmannschaft per Mini-U-Boot befreien. Auf Twitter beschimpfte Musk den Forscher als „pedo guy“ (Pädophilen). Einen Journalisten nannte er in diesem Kontext ein „fucking arsehole“ und forderte ihn auf, doch gefälligst nicht mehr derart positiv von diesem „Kinder-Vergewaltiger“ zu berichten.
Soweit also das Verständnis von absoluter Redefreiheit: Musk möchte also sagen können, was er will. Und alle anderen mögen auch sagen können, was er will.
Soziale Netzwerke funktionieren anders als öffentliche Plätze
Gemäß der Ankündigung von Elon Musk, soll Twitter nur Inhalte löschen, die das jeweilige nationale Gesetz verbietet. Die verlockend einfache Definition entpuppt sich jedoch als absurde Einladung zu einem Netz hemmungsloser Pöbelei. Der Großteil an Unsinn (teils mit gesundheitlichen Konsequenzen), viele Belästigungen und ausgrenzende oder verletzende Tweets, Spam, manipulierte Fotos und Gewaltdarstellungen sind nicht illegal.
Jede Online-Gemeinschaft braucht Gemeinschaftsstandards und menschliche Moderator:innen, die diese um- und durchsetzen. Die Beispiele Gab, Parler, Gettr und Truth Social zeigen eindrücklich wohin sich ‚unbetreute‘ virtuelle Redefreiheit entwickeln kann – in einen Anziehungspunkt für verwahrloste Diskriminierung. In den USA feiern Rechte und Rechtsradikale die geplante Übernahme. LGBTQ fürchten bereits, dass Musk ihr Leben zur Hölle machen könnte. Verbannte Verschwörungsfanatiker:innen hoffen darauf, auf Twitter zurückkehren zu dürfen.
Die Anonymität, die 4chan bot, führte kontraintuitiv zu einem vereinheitlichten Tonfall, da sich die Nutzer:innen dem vorherrschenden ‚Zeitgeist‘ der Seite anpassten und mehrheitlch nicht in der Lage waren, einen individuellen Ausdruck in Form und Inhalt zu finden. TikTok hatte zunächst seine Eigenheiten sorgfältig ausgearbeitet, um die Nutzer:innen in die von ihnen bevorzugte Richtung zu lenken, indem es Tanztrends förderte und politische Tiraden, wie sie beim Konkurrenten YouTube zu hören sind, unterbunden hatte.
Der Meta-Konzern hat die ökonomische Bedrohung der erfolgreichen Konkurrenz-Plattform TikTok erkannt und versucht, sowohl auf Facebook als auch auf Instagram die Anzahl der Inhalte von Menschen, denen man nicht folgt, zu erhöhen und somit mehr Viralität zu generieren. Im Laufe der Jahre haben einige der größten sozialen Netzwerke ihre ‚Eigenarten‘ abgelegt und haben über den ökonomschen Druck die Nutzer:innenzahl zu maximieren eine Gleichförmigkeit entwickelt, die für alle zugänglicher ist, selbst auf Kosten ihrer jeweiligen Alleinstellungsmerkmale: Twitters strikt textlastige, umgekehrt chronologische 140-Zeichen-Timeline wird jetzt algorithmisch kuratiert und bietet 280 Zeichen plus eine Reihe von Multimedia-Zusätzen; Instagram-Beiträge können in Stories im Stil von Snapchat weitergegeben werden, die auch Videos im Stil von TikTok enthalten; TikTok hat sich nun auch um politische Inhalte erweitert und spielt dort (neben Twitter) eine neue, führende Rolle.
Was resultiert, ist eine Homogenisierung der Nutzer:innen über den temporär vorherrschenden Trend, der sich in der Reichweitenbevorzugung bestimmter Inhalte und Formate algorithmisch codieren lässt. Die Steuerung der Reichweite (über eine Platzierung von Inhalten unterschiedlich weit oben in der individuellen Nachrichtenabfolge der Nutzer:in) wirkt dabei für diese Homogenisierung selbstverstärkend: Ich passe als Nutzer:in meine Inhalte an den von mir konstatierten Trend auf diesem Medium an, um möglichst viel Aufmerksamkeit (Anzahl an Followern) zu erzeugen. Der Algorithmus verstärkt diese Konformität rückkoppelnd, da er aus der Vielzahl an Nutzer:innen-Inhalten Trends ermittelt und ‚trendige‘ Inhalte dynamisch mit höherer Reichweite belohnt. Dieser sehr einfache Mess- und Steuerkreis als Basiszelle eines kybernetischen Systems zeigt mitunter komplexe, normative Auswirkungen auf das Nutzer:innenverhalten. Dessen Varianz kann je nach Algorithmus drastisch schrumpfen ohne wirklich statisch zu werden, denn eine überbordende Häufigkeit z.B. an Katzenvideos langweilt irgendwann zu viele Nutzer:innen um weiterhin als Trend zu funktionieren. Wir kommen später auf die Komplexität und den daraus resultierenden, möglichen Kontrollverlust zurück.
Eine bestenfalls naive Vorstellung von Redefreiheit
Tesla-Chef Elon Musk hat seine 108 Millionen Follower unter den Twitter-Nutzer:innen aufgefordert, über seinen Plan zur Beendigung des russischen Kriegs in der Ukraine abzustimmen. Er schlug von den Vereinten Nationen (UN) überwachte Wahlen in den vier besetzten Regionen vor, die die Regierung in Moskau nach sogenannten Referenden annektiert hat. „Russland geht, wenn das der Wille des Volkes ist“, schrieb Musk auf dem Kurznachrichtendienst. Die Krim, die 2014 von Russland erobert wurde, solle laut Musk formal zu Russland gehören, die Wasserversorgung dort solle sichergestellt werden und die Ukraine bleibe neutral. Er bat die Twitter-Nutzer:innen, mit „Ja“ oder „Nein“ über seinen Vorschlag abzustimmen!
Dass mit Elon Musk derzeit ein Einzelunternehmer weltweit darüber entscheiden kann, ob ein abgelegenes (Kriegs-)Gebiet mit schnellem Internet versorgt wird oder nicht, zeigt die Tragweite solcher „Twitterreferenden“. Das Starlink-System von Space-X ist derzeit das einzige Satelliten-gestütze Breitband-Internet mit prinzipiell weltweiter Verfügbarkeit. Mitte Oktober hat Elon Musk eine Anfrage der Ukrainischen Regierung abgelehnt, seinen Satelliten-Internetdienst Starlink für die Ukraine auf die von Russland 2014 überfallene und annektierte Halbinsel Krim auszudehnen. Das ukrainische Militär nutzt Starlink zur Kommunikation an der Front und auch zur Echtzeitkommunikation mit ihren Drohnen. Musk befürchtet, dass bei einem Rückeroberungsversuch der Krim durch die Ukraine die Situation eskalieren und zu einem Atomkrieg führen könnte. Eine durchaus berechtigte Sorge, aber sind diese heiklen und politisch komplexen Erwägungen, die über Krieg oder Frieden entscheiden etwas, worüber eine Twittergemeinde per Mehrheitsvotum oder gar ein Einzelunternehmer allein entscheiden sollten?
Mitte Oktober präsentierte der selbsternannte Weltpolitiker ebenfalls Vorschläge zum Thema Taiwan – man solle aus Taiwan eine „Sonderverwaltungszone“ unter chinesischer Herrschaft machen, hatte Musk in einem Interview mit der Financial Times gesagt.6 Musk halte einen Konflikt mit China um Taiwan unausweichlich und sei in Sorge, dass die Weltwirtschaft einen schweren Schlag erleiden könnte. Letzteres erklärt Musks Motivation – auch wenn er seine Besorgnis gern als neutrales friedenspolitisches Anliegen deklariert: Ein offener (Wirtschafts-)Krieg steht seinem verstärkten Engagement als Tesla-Chef, Autos in China abzusetzen entgegen.
Das Niveau seiner politischen Vorschläge reicht leider nicht weit über technologisch und ökonomisch pragmatische Ansätze hinaus. Die Akten zu Musks Rechtsstreit mit Twitter über dessen Übernahmekonditionen dokumentieren die selbstbewusste Schlichtheit seiner ad-hoc-Lösungen für komplexe Probleme: In der Gerichtsakte im Prozess Musk gegen Twitter am Gericht von Delaware, der eigentlich am 17. Oktober beginnen sollte (nun aber durch die Unternehmensübernahme obsolet sein wird), finden sich Textnachrichten, die Elon Musk mit einer Gruppe Vertrauter seit Beginn des Jahres zum Thema Twitter ausgetauscht hat: 7
Musk: Die EU hat ein Gesetz verabschiedet, das Russia Today und mehrere andere russische Nachrichtenquellen verbietet. Wir sind angewiesen worden, ihre IP-Adressen zu sperren. Eigentlich finde ich ihre Nachrichten recht unterhaltsam. Viel Blödsinn, aber auch einige gute Argumente.
Gracias (Gründer der Investmentfirma Valor): Das ist fucking irre … Du hast völlig recht. Ich stimme Dir 100% zu. Wir sollten es genau deshalb zulassen, weil wir es hassen … das ist der Sinn der amerikanischen Verfassung.
Musk: Ganz genau. Die Redefreiheit ist am wichtigsten, wenn es jemand ist, den man hasst und der das sagt, was man für Blödsinn hält.
Gracias: Ich bin zu 100 % bei Dir, Elon. Lass uns in den fucking Ring steigen, egal was passiert …
Die Dokumente fördern darüber hinaus zu Tage, wie sich führende Vertreter der Printmedien andienen, ein Stück vom milliardenschwerden Free-speech-Kuchen abzukriegen. Und das mit haarsträubenden Konzepten. Nach mehreren Anläufen, Elon Musk zum Kauf von Twitter zu bewegen, schlägt der Vorstandsvorsitzende des Axel-Springer-Konzern Mathias Döpfner am 6. April ein konkretes Reformprogramm für die Plattform vor, das Musk in Kooperation mit Springer nach dem Kauf umsetzen möge:
„Schritt 1: Von Zensur befreien, indem man die Nutzungsbedingungen (die jetzt Hunderte von Seiten umfassen) radikal auf das Folgende reduziert: Twitter-Nutzer stimmen zu: (1) unseren Dienst (nicht) zu nutzen, um Spam zu versenden oder Nutzer zu betrügen. (2) Gewalt zu propagieren. (3) illegale Pornografie zu verbreiten (umgedrehter Smiley).“
Es klingt so als wolle Döpfner den selbsternannten „Redefreiheits-Absolutisten“ Musk in vorgetäuschter Naivität und Rücksichtlosigkeit übertreffen. Twitter hat den Diskurstypus des Trolls zwar nicht hervorgebracht, aber zu dominanter Größe verholfen – mitunter gar zum US-Präsidenten gemacht. Und Twitter hat maßgeblich zum Putschversuch von Donald Trump 2021 beigetragen.
Twitter hat mehr Einfluss auf die sozialen und politischen Strukturen der Gegenwart als jede andere Plattform. Twitter ist zu einer Art Zentralorgan des politischen Lebens in rund der Hälfte der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen geworden – und das obwohl die Nutzer:innenzahlen weit unter denen von Facebook, Instagram und Tiktok liegen. Ein kleiner, aktiver Teil der Zivilgesellschaft, Aktivist:innen, Journalist:innen und Politiker:innen ringen hier um Deutungshoheiten – um das, was sie für die Wahrheit halten. Twitter wird als das Mikrofon von ‚Entscheider:innen‘ gehandelt. Nur wenige in Deutschland erstellen selbst Inhalte auf Twitter, ein Großteil spürt jedoch den Einfluss dieser Diskurs-Arena.
Diskursverformend wirken dabei nicht nur die durch das Format auferlegte Unterkomplexität, in der auch kompliziertere Sachverhalte auf 280 Zeichen einzudampfen sind. Die schiere Zahl von Fake-Mitteilungen sorgt für massive Verzerrungen bei Meinungsbildern. Über die Hälfte aller Inhalte im Internet werden von Bots produziert – von der Dating-Plattform bis zu Wikipedia. Twitter ist da keine Ausnahme – bis Dezember 2021 entdeckte Twitter über 200 Mio künstlich verbreiteter Tweets.8
Vor derartigen Diskursmanipulationen sind auch soziale Bewegungen nicht gefeit. Bereits die Bürger:innen-Bewegung gegen das Großprojekt der Deutschen Bahn Stuttgart 21 hatte mit „Astroturfing“ zu kämpfen, einer Kampagne angeblicher Fürsprecher:innen des Bauprojekts, die suggerierte, eine tatsächliche Strömung gesellschaftlicher Basis zu repräsentieren.9.
Twitter stellte dem Datenwissenschaftler Sinan Aral vom Massachusetts Institute of Technology Datensätze zur Verfügung, die bei den meisten Plattformen zu den Betriebsgeheimissen gehören. Mit denen konnte er die Wirkung jener Dynamik erforschen, die als Grundübel der sozialen Medien gilt: die virale Ausbreitung. Falschnachrichten verbreiten sich demnach sechs Mal so rasch wie echte Nachrichten. Und sie erreichen bis zu tausend Mal mehr Nutzer*innen. Der Grund dafür ist einfach. Falschnachrichten sind meist überraschend und erzeugen damit mehr Aufmerksamkeit. Werden sie gezielt gestreut, kann man damit leicht Empörung, Angst und Hass erzeugen. Das sind Emotionen, die Nutzer länger in sozialen Netzwerken halten als etwa Freude, Zuversicht und Zuneigung.
Schwer zu kontrollieren
Die von Musk angekündigte Kursänderung zur Stärkung der ‚Redefreiheit‘ (auch) für Propagandisten, Rassisten, Mobber, und viele andere könnte zu einer Rebrutalisierung des Netzwerks führen, die nachweislich in die nicht-virtuelle Welt zurückwirkt. Doch es wäre falsch mit der Übernahme von Twitter durch Elon Musk eine Zukunft zu zeichnen, in der Musk die Spielregeln des politischen Kommunikationsbetriebs zur zielgenauen Manipulation nutzen könnte. Die hohe Komplexität eines solchen kybernetisch-sozialen Systems mit derzeit 230 Mio aktiven Nutzer:innen macht es unmöglich, in eindeutigen Kausalketten vorherzusagen wie sich das Sozialverhalten verschiedener Nutzer:innen-Gruppen verändert, wenn einzelne Parameter des Algorithmus verändert werden. Das sollte jedoch nicht als Entwarnung missverstanden werden – im Gegenteil. Es ist nicht beruhigend wenn keiner versteht, warum C passiert, wenn man A auslöst, aber eigentlich B erzielen wollte.
In Kybernetik und Gesellschaft warnte Norbert Wiener schon 1950 davor, dass selbstlernende Maschinen sich der Kontrolle der Menschen entziehen und ihnen und ihrer Gesellschaft Schaden zufügen können. Je größer ein in sich geschlossenes System über einen Zeitraum hinweg wird, desto unkontrollierbarer wird es.
Es ist lediglich möglich, statistische Wahrscheinlichkeitsaussagen über aufwändige Parameterstudien zu treffen. Universitäten müssten damit anfangen, Simulationen sozialer Netzwerke durchzuführen: „Wir brauchen hunderttausend Student*innen, die die Physik sozialer Medien verstehen, um dann sichere Systeme zu bauen.“ 10
Die Komplexität des Systems wird weiter zunehmen, sollte Musk an seinen jüngsten Pläne festhalten und Twitter zu einer App X ähnlich der chinesische App Wechat weiterentwickeln. Also zu einer Universal-Plattform, die versucht sämtliche Anwendungen für das alltägliche Leben zu integrieren (Reservierungen, Bezahlungen, Buchungen, …). Die Nutzer:in soll so stark gebunden werden, dass es wenig Gründe für Internetaktivitäten jenseits der App X gibt.
Wiener identifizierte die Gesellschaft auf der Basis von Informationsübertragung: „Genaugenommen erstreckt sich eine Gemeinschaft nur soweit, wie eine wirksame Übertragung von Information reicht.“ 11 „In einer Gesellschaft, die für den direkten Kontakt ihrer Mitglieder zu groß ist, sind diese Mittel die Presse – d.h. Bücher und Zeitungen -, der Rundfunk, das Telefonsystem, der Fernschreiber, die Post, das Theater, die Kinos, die Schulen und die Kirche.“ 12
Die Kommunikation einer Gemeinschaft werde durch ihre hierarchische Struktur festgelegt oder wenigstens stark beeinflusst, so Wiener. Dies müssen wir heute als stark wechselseitigen Prozess verstehen: Die algorithmischen Vorgaben sozialer Medien beeinflussen über ihre jeweilige, spezifische Metrik der Aufmerksamkeitsökonomie ihrerseits ebenfalls die soziale Struktur. So ergaben sich in bewusst fürhrungslosen sozialen Bewegungen z.B. im arabischen Frühling 2011 oder auch bei der Gezipark-Bewegung 2013 in der Türkei informelle Hierarchien über die Twitter-Reichweite einzelner Protestbeteiligter.13
Mit ihren extrem langreichweitigen Wechselwirkungen sind internetbasierte soziale Medien das (bislang) historisch anfälligste Medium für Verzerrung, Echokammerbildung, Überverstärkung. Bei Medien kürzerer Reichweite sorgen Korrekturen über Kommunikationseinträge durch die Weiterverbreitenden für ein Diversifizieren einer Nachricht / Meinung und ein wahrscheinlicheres Abebben eines „viralen Bebens“. Das undifferenzierte Teilen, Liken, Retweeten einer Nachricht in sozialen Medien hingegen ermöglicht (temporär ungedämpfte) virale Überverstärkung.
Von social media zum Metaversum
Vor einem Jahr kündigte Mark Zuckerberg die neue Zukunft des Internet an, das Metaverse, welches auch gleich als Namensgeber für das neue Firmendach Meta über Facebook, Instgram und Co herhalten soll. Der Begriff des Metaverse geht auf Neal Stephensons Sci-Fi-Roman Snow Crash von 1992 zurück und ist kein scharf definierter Begriff. Heute könnte man darin einen Nachfolger des Internets in Form einer digitalen 3D-Parallelwelt mit eigener Ökonomie verstehen, die virtuelle Räume verbindet und von verschiedensten Geräten aus mit Avataren betreten werden kann.
War der Roman als Warnungen vor einer Zukunft gedacht, in der sich die Gesellschaft aus der Realität verabschiedet hat und in virtuelle Welten geflüchtet ist, weil die natürlichen und wirtschaftlichen Ressourcen zerstört sind, setzt Zuckerberg das Metaversum als positiven Bezugspunkt für einen technologischen Innovationsschub. Ein Sprung, der das bisher bekannte Internet ablösen soll und entweder rein virtuell (VR) oder aber als sogenannte „augmented reality“ (AR) also eine erweiterte Form der Wirklichkeit gedacht ist. In Zuckerbergs Präsentationen 2021 sah das Metaverse nach einer grafisch modernisierten Version des Computer-Spiels second life aus – per VR-Brille abgeschottet von der physischen Realität. Es gibt allerdings auch Konzeptionen für eine AR-Variante des Metaversums – etwa per Brille, die in das Sichtfeld zusätzlich zur physischen Realität interaktive virtuelle Elemente einblendet. Das Pendant in der Spielewelt wäre hier Pokémon-Go.
Viele winken ab und prognostizieren dem Metaversum das Aus bevor es richtig durchstartet. Das Werbeversprechen, bald schon brauche man keinen Arbeitslaptop mehr, klingt für viele wie eine Drohung angesichts der Probleme, die sie mit den bisher verfügbaren VR-Brillen haben (Schwindel, Kopfschmerzen). Die Softwaregrundlage /Horizon Worlds/, auf der Entwickler:innen 3D-Onlinewelte erschaffen sollen, sei zudem „verwirrend und frustrierend“.14
Allerdings müssen wir die Idee einer virtuell erweiterten Realität als Neuprägung von sozialräumlichen Strukturen ernst nehmen. Im Oktober 2022 haben sich Meta und Microsoft zu einer Metaverse-Kooperation entschieden. Apple ist in die Entwicklung von VR-Brillen eingestiegen. Die Fans der Virtualisierung glauben zudem in der Klimakrise eine Fürsprecherin für virtuelle Zusammenkünfte gefunden zu haben: Den eigenen Körper nicht mehr mit viel Energie durch die reale Welt bewegen, sondern von zu Hause aus virtuell durch die Welt reisen.15
Der Schritt von einer Social-Media-Plattform wie Facebook hin zum Metaversum bedeutet den Übergang von der Moderation von Inhalten hin zur Moderation von Verhalten.
Der Technik-Philosph David Cahlmers sieht die Möglichkeit dass sich virtuelle Welten langfristig mehr und mehr zu autonomen Gesellschaften mit eigenen Prinzipien entwickeln könnten. Die Schilderungen der Journalistin Yinka Bokinni von ihren ersten Gehversuchen im Metaverse im guardian lassen nichts Gutes erahnen:
„Die beiläufige Art und Weise, in der die Leute eine extrem gewalttätige, homophobe, rassistische und sexistische Sprache verwendeten, führte dazu, dass ich nach meinem dritten oder vierten Tauchgang in das Metaverse desensibilisiert wurde. Man konnte sehen, dass das auch bei anderen Leuten der Fall war. Es gab Räume, in denen die rassistischsten Unterhaltungen stattfanden, während andere Leute einfach nur chillten. Es ist ein Raum, in dem das normal geworden ist. (…)
Ich ging in Chat-Räume und die Leute beschimpften mich, schrien mich sogar an. Einmal umringten mich sieben Nutzer und versuchten, mich zu zwingen, meinen Schutzschild zu entfernen, damit sie Dinge mit meinem Körper anstellen konnten. Ich versuchte wegzulaufen, aber sie drängten mich mit dem Rücken gegen eine Wand, versuchten, mich zu begrapschen und machten sexuelle Bemerkungen. Das war das virtuelle Äquivalent eines sexuellen Übergriffs. Wenn Leute hier sexuelle Übergriffe auf dich ausüben, weiß ich, dass das nicht real ist. Das ist mir klar – ich kann nicht spüren, dass sie mich berühren. Aber diese Leute sind da, in ihren Häusern, und führen den sexuellen Übergriff physisch aus – sie benutzen ihre Hände, um nach dir zu greifen oder dich gegen eine Wand zu drücken. Dadurch wird die Mauer zwischen realem und virtuellem Verhalten durchbrochen. Wenn sie online so locker mit sexuellen Übergriffen umgehen, wenn sie das immer wieder tun und damit durchkommen, was hält sie dann davon ab, es in der realen Welt zu tun?“16
Guido Arnold ist Physiker und arbeitet im DISS zum Thema
digitalisierte Biopolitik.
1 Siehe auch: aktueller „Atlas der Zivilgesellschaft“, https://netzpolitik.org/2022/interview-mit-silke-pfeiffer-zivilgesellschaftliche-
handlungsraeume-werden-zunehmend-enger/
2 https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/HRBodies/HRCouncil/FFM-Myanmar/A_HRC_39_CRP.2.pdf
3 https://freedomhouse.org/report/freedom-net
4 Das Datenanalyseunternehmen Cambridge Analytica (CA) sprach sich selbst eine „entscheidende Rolle“ beim Zustandekommen von Trumps Wahlsieg zu. CA entwickelte Methoden zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen nach dem OCEAN-Modell und damit Profile von 220 Millionen US-Bürgern, die für eine zielgenaue politische Einflussnahme nach der Methode des Mikrotargeting genutzt wurde.
5 https://www.theguardian.com/technology/2022/apr/26/twitter-takeover-jack-dorsey-elon-musk
6 https://www.ft.com/content/5ef14997-982e-4f03-8548-b5d67202623a
7 https://bit.ly/3C8ANLN
8 https://blog.twitter.com/en_us/topics/company/2021/disclosing-state-linked-information-operations-we-ve-removed
9 Der Begriff Astroturfing ist von der amerikanischen Firma AstroTurf abgeleitet. Diese stellt Kunstrasen her, der täuschend echt aussehen soll. Klassisches Astroturfing will Graswurzelbewegungen vortäuschen, also so tun, als stecke eine soziale Bewegung hinter den Meinungen.
10 Frances Haugen auf der Code-2022-Konferenz, 16.9.22, https://www.youtube.com/watch?v=TgGtzTLCZZ0
11 Norbert Wiener: Kybernetik, 1968, S.194
12 Norbert Wiener: Kybernetik, 1968, S.198
13 Zeynep Tufekci: Twitter and Teargas, Yale University Press, 2017, https://www.twitterandteargas.org/downloads/twitter-and-tear-gas-by-zeynep-tufekci.pdf
14 https://www.theverge.com/2022/10/6/23391895/meta-facebook-horizon-worlds-vr-social-network-too-buggy-leaked-memo
15 Leider ist auch hier der Energieaufwand für das Betreiben der Rechner und Netzhardware beträchtlich.
16 https://www.theguardian.com/tv-and-radio/2022/apr/25/a-barrage-of-assault-racism-and-jokes-my-nightmare-trip-into-the-metaverse
Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal#44 aus dem November 2022. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.