Italienische Mediendiskurse zum Wahlsieg des Meloni-Bündnisses
Von Jörg Senf
Nach der Parlamentswahl vom 25. September 2022 steht Italien nun ein rechtspopulistisch „postfaschistisches“ Regierungs-Bündnis bevor, als Ministerpräsidentin zum ersten Mal eine Frau, die von der internationalen Presse unmittelbar als Italy‘s most far-right prime minister since Mussolini eingeschätzt wird (CNN 25.9.). Ein Ereignis dieser Tragweite ließe eine turbulente Dynamik im italienischen Mediendiskurs erwarten. Ausgehend vom Wahlplakat der Mehrheitspartei Fratelli d’Italia (FdI), auf dem Giorgia Meloni sich mit dem Schlagwort Pronti – „(Wir sind) Bereit“ – präsentiert (s. Abb.), sind Auseinandersetzungen über die Frage vorauszusehen: Wozu ist sie bereit? Wozu ihre Partei, wozu ihre Bündnispartner Berlusconi und Salvini, wozu ihre Wählerschaft?
Ein erster Blick auf den italienischen Mediendiskurs vor, zu und kurz nach den Wahlen1 erweist sich hier jedoch überraschenderweise als nicht allzu ergiebig. Turbulente politisch mediale Deutungskämpfe (man erinnere sich etwa an die Anomalia Berlusconi 20102) sind nicht zu beobachten. Dies zum einen, weil die Berichterstattung und Kommentierung der Innenpolitik auch zu dieser Zeit von offenbar diskursmächtigeren Nachrichten – etwa über die Royal Family, vor allem aber fortdauernd vom ‚atlantisch‘ hegemonialen Kriegs-Diskurs (La guerra di Putin) – überlagert wird. Zum anderen ist den Leitmedien nahezu aller Positionen bereits zu Beginn des Wahlkampfs zu entnehmen, der Wahlsieg des Meloni-Berlusconi-Salvini-Bündnisses stehe laut Umfragen bereits fest.3 Es liegt somit eine gewisse Homologisierung der Medien vor, durch die der Wahlausgang von vornherein weitgehend normalisiert wird. Der unerwartet schwache linke Gegendiskurs, insbesondere seitens des Partito Democratico (PD)4 vor und während der Wahlkampagne, wird in der Folge von den PD-nahen Medien in unterschiedlichen Deutungsansätzen thematisiert, häufig gerechtfertigt. Die Gesellschaft habe sich, so etwa ein Leitartikel des ESPRESSO (2.10.), „als anders erwiesen, als die progressisti es sich vorgestellt hatten“. Relativiert wird die Brisanz des Wahlergebnisses durch das Argument der stetig sinkenden Wahlbeteiligung. Die Rechte habe „heute ungefähr die gleiche Stimmenzahl wie vor vier Jahren“, lediglich 15,8% der wahlberechtigten Italiener haben Meloni gewählt, sie habe ihren Wahlsieg einzig dem „immer kleineren Gemüsegarten“ der Wahlbeteiligung zu verdanken (De Gregorio, REPUBBLICA 30.9.).
Eindeutig gesunken ist das Medieninteresse an Matteo Salvini und seiner Lega. Nach seiner Wahlniederlage speist Salvini nur noch wenige Bilder und Titel selbst im Berlusconi-eigenen IL GIORNALE. Unberechenbar in seinen politischen Faux pas‘ noch während des Wahlkampfs, so geht aus den Medien hervor, sei er zum (zu begrenzenden) Risiko für Melonis Regierungspläne geworden. Der Satiriker Makkox zeichnet Salvinis rapiden Stimmenverlust in zwei Menschen dunkler Hautfarbe nach, die mit dem Zuruf „Lass dich nicht unterkriegen, halte durch, Matteo!“ erhoffen, die Lega auch künftig klein zu halten (ESPRESSO 2.10.). Für die nächsten Wochen zeichnet sich die mediale Thematisierung von Salvinis Nachfolge ab.
Auch Berlusconi hat, seinem Medienimperium MEDIASET zum Trotz, an Diskursmacht verloren. Bis heute andauernde Gerichtsverfahren, sein Verharren auf Positionen, die bereits zu seiner Regierungszeit häufig als obsolet gedeutet wurden, lassen ihn, wie Salvini, als für den aktuellen rechten Machtkampf wenig förderlich erscheinen. Bedeutend jedoch – und dies kommt in den Medien vereinzelt zur Sprache – bleibt sein historischer Einfluss auf die Meinungsbildung auch heutiger Wähler. Über den systematischen Abbau des Demokratieverständnisses während Berlusconis zwanzigjähriger „antipolitischer“ Hegemonie ist mittlerweile ausreichend geschrieben worden, u.a. vom PD-nahen Publizisten Michele Serra, der auf den „Erfinder des italienischen Populismus“ die „Scharen von Italienern“ zurückführt, die sich heute „wesenshaft pueril“ an die Wahlurnen begeben (VENERDÌ/REPUBBLICA 23.9.). Seit Berlusconi versetzen Begriffe wie „mündiger Bürger” selbst Studierende der Politikwissenschaften in Erstaunen. Politik präsentiert sich vorrangig als Wahl-Marketing, gerichtet an Kunden, die ihr Wissen bequem verkürzt und bebildert über soziale Netzwerke (in Italien vornehmlich FACEBOOK) beziehen.
Was Giorgia Melonis Inszenierung ihrer identità femminile als erste weibliche Premier-Kandidatin betrifft, so vollzieht sich diese im Wesentlichen auf eben dieser Ebene der sozialen Netzwerke. Massenhaft angeklickt wurde im Sommer auf FACEBOOK ihr Rap-Song Io sono Giorgia, sono donna, sono madre, sono cristiana, sowie, bei Erscheinen der ersten Wahlergebnisse, ihr wortloser Auftritt auf TIKTOK: Zwei Melonen vor die Brust haltend spielt sie augenzwinkernd auf die Zweideutigkeit ihres Nachnamens an – und speist damit an Berlusconi erinnernde sexistische Praktiken. Erste gezielte Anti-Meloni-Gegendiskurse wurden folgerichtig von Seite feministischer Aktivistinnen laut, etwa der Bewegung Non Una Di Meno anlässlich der Demonstration für die Erhaltung des Rechts auf Abtreibung am 28.9. in Rom.
Als sicherlich markantester, bewegtester Diskursverlauf sticht jedoch in den untersuchten Medien Melonis drastisches Umschwenken „von Aggressivität in Verantwortungsgefühl“ hervor. Im linksliberalen Mediendiskurs weitgehend geteilt wird Bartezzaghis Darstellung eines fascismo dissimulato seitens einer Politikerin, die in ihrer ersten Phase an der vom Schreien „konstant angespannten Kehle“ erkennbar ist, die als militante Systemgegnerin und während der Covid-19-Einschränkungen als „Horror für die Virologen“ auftritt, die durch Ostentation ihrer Rolle als Donna, madre, cristiana „die Nostalgiker in Verzückung bringt“, mit Beginn des Wahlkampfs jedoch ihre „harte Miene“ abrupt in ein, wenngleich „leicht spöttisches Lächeln“ verwandelt, den Modus ihres Auftretens „von beunruhigend in beruhigend“, ihre politischen Ziele in hegemonial angepassten atlantismo und europeismo. Bartezzaghi deutet dieses Umschwenken schlicht als rebrandig, als gängige Marketing-Strategie: anfangs lautstark Aufmerksamkeit erregen, danach (zwecks institutioneller Machtübernahme, in diesem Falle) „die Töne mäßigen“ (REPUBBLICA 30.9.). Eine bemerkenswerte Umdiskursivierung also, die maßgeblich durch radikale Tabuisierung brisanter Positionen erreicht wird. Was die diskursive Praxis ihrer Mit-Akteure angeht, setzt Meloni zum Wahlkampf – so geht aus den linksliberalen Medien hervor – ein ebenso radikales Mund-(sowie beispielsweise Hitlergruß-)Verbot für alle weniger präsentablen Verbündeten, einschließlich Salvini und Berlusconi, durch. Zur Regierungsbildung verspricht sie, „nur die Besten“ aufzustellen, möglicherweise auch parteiunabhängige esperti.
Besonders schlüssig geht diese Umdiskursivierung aus dem 25-Punkte-Programm hervor, das FdI zur Eröffnung der Wahlkampagne Anfang September publiziert. Der Titel des Programms greift Melonis auf dem Wahlplakat verkündete Regierungs-„Bereitschaft“ auf: Pronti a risollevare l’Italia – die Nation soll „wieder aufgerichtet”, ihr soll „die Moral gehoben” werden. Untersucht man dieses 9.520 Wörter umfassende Diskursfragment auf die Worthäufigkeit,5 so erscheinen gerade diejenigen Themen an den Rand des Sagbarkeitsfelds gedrängt, die für die rechten Koalitionspartner Berlusconi und Salvini, aber auch für Meloni selbst, bisher konstant im Zentrum des Diskurses gestanden hatten. Die Themen donna, madre, cristiana werden mit jeweils 6, 0, 1 Okkurrenzen ins Irrelevante abgestuft, das Wort „Familie“ kommt lediglich 20mal vor. Die von Berlusconi über Jahrzehnte attackierte „Justiz“ wird nur 13mal erwähnt, auf bloß 6 Okkurrenzen kommt das von Salvini bevorzugte Thema „Immigration“. Häufigstes Substantiv im FdI-Wahlprogramm bleibt dagegen „Italien“ (104), entsprechend auch „Nation“ (40), dem jedoch eine gleich hohe Frequenz des Wortes „Europa“ (40) gegenübersteht. An zweiter Stelle „Unternehmen“ (57) gleichrangig mit „Arbeit“ (57). Daneben treten aktuelle Themen des EU-Haushalts wie „Energie“ (31) und PNRR (8) in den Vordergrund.
Gerade bezüglich des von Mario Draghi auf den Weg gebrachten Nationalen Wiederaufbaufonds PNRR hatten sich Befürchtungen politischer Diskontinuität gehäuft, welche jedoch durch diese Umdiskursivierung und entsprechende diskursive Praktiken entkräftet wurden. Bei Melonis erstem öffentlichen Auftritt nach der Wahl (beim Bauernverband Coldiretti) konstatiert REPUBBLICA (2.10.): „Meloni imitiert Draghi“. Zumindest auf der Diskursebene internationaler und insbesondere europäischer Finanzpolitik herrscht vorerst weiterhin die Deutung vor, Giorgia Melonis Wahlsieg verdiene im Höchstfall concern but not panic (FINANCIAL TIMES 27.9.).
Bei der Frage schließlich, zu welchem Maß an demokratiefeindlicher Praxis Italiens rechtsextremer Teil der Wählerschaft sich künftig bereit finden wird, erscheint es ratsam, den Diskursverlauf erklärt neofaschistischer Gruppen wie CasaPound weiter zu beobachten, die in ihrem Organ PRIMATO NAZIONALE (4.10.) – wo übrigens nicht gegendert wird, beharrlich ist von „dem künftigen Ministerpräsidenten“ (il futuro premier), die Rede – bereits jetzt wissen lässt, gegenüber Melonis Zugeständnissen an die Linke gelte es, wachsam „die Antennen hochzufahren“.
Jörg Senf ist Professor für Deutsche Sprache i. R. des Fachbereichs Politikwissenschaften an der Università di Roma ‚Sapienza‘.
1 Eine systematische Ausarbeitung steht zu diesem Zeitpunkt noch aus.
2 Vgl. Jörg Senf: Das Ende der Berlusconi-Ära? Deutungskämpfe und Sagbarkeitsfelder in den italienischen Medien, in: Rolf van Raden/ Siegfried Jäger (Hg.): Im Griff der Medien. Krisenproduktion und Subjektivierungseffekte, Münster: Unrast 2011, 201-222.
3 Er sei sogar, ist zu lesen, bereits „mit Mario Draghi abgesprochen”.
4 Parteisekretär Enrico Letta tritt nach der Wahlniederlage zurück. Die mediale Thematisierung seiner Nachfolge und der Neugründung des PD ist für die nächsten Wochen zu erwarten.
5 Benutzt wurde der Online word frequency counter WRITEWORDS, manuell hinzugefügt Lemmatisierungen wie „Italien-Italiener-Italienerin-italienische-italienischen”.
Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal#44 aus dem November 2022. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.