Die Neonazi-Mordserie als Rassismus der Mitte

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Rezension von Thomas Schwarz ((Thomas Schwarz war als DAAD-Lektor in Südkorea und Indien tätig. Arbeitsgebiete: Exotismus, Kolonialismus, postkoloniale Kritik)). Erschienen in DISS-Journal 24 (2012)

Ein Team von Autoren um den Berliner Verleger Lutz Hunger hat mit diesem Buch in zweiter Auflage eine kompakte Handreichung für all diejenigen vorgelegt, die sich über die Mordserie der Neonazi-Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) informieren wollen. Sie enthält Kurzportraits der mutmaßlichen Täter Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, aber auch von Beate Zschäpe und weiteren Unterstützern des Kerntrios. Eine Zeittafel rekonstruiert die Chronologie der Ereignisse seit Januar 1998 (202ff.).

Zahlreiche Dokumente haben Eingang in den Band gefunden, darunter auch die Rede von Angela Merkel im Februar 2012 anlässlich der zentralen Gedenkfeier für die Opfer. In ihr bittet die Kanzlerin die Angehörigen um Verzeihung, weil die Ermittler sie fälschlich verdächtigt haben (55-62). Die orientalistischen Szenographien, mit denen sich diese die Motive der Täter zurechtgelegt hatten, reichten von ‚Familienfehde‘ und ‚Ehrenmord‘ bis ‚Drogenmafia‘ und ‚Menschenhandel‘. Dokumentiert ist auch die Rede von Semiya Simsek, der Tochter des ersten Opfers. Sie erklärt, dass ihre Familie mit dem bedrückenden Verdacht zu leben hatte, einer aus ihrer Mitte sei der Täter und der Vater sei ein krimineller Drogenhändler (63f.). Die Rede von den „Döner-Morden“, mit der die Verbrechen einem türkischen Milieu untergeschoben werden sollte, avancierte zum Unwort des Jahres 2011 (vgl. 22). Das Buch sammelt nicht nur Reaktionen aus Politikerkreisen (66ff), die Autoren haben darüber hinaus auch einen umfangreichen Pressespiegel zusammengestellt, der neben der nationalen auch die internationale Presse auswertet, insbesondere die türkische (72-93). Dort wendet sich zum Beispiel die Zeitung Zaman gegen einen Vergleich von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, der den Kampf gegen den Rassismus und gegen den „islamischen Terror“ in eine Reihe gestellt hatte. Zaman stellte sich hinter den türkischen Außenminister Ahmet Davutoglu, der sich gegen Friedrichs Äußerung verwahrte und ihr entgegensetzte, dass er die „Neonazi-Morde auch nicht ‚christlichen Terror‘“ nenne (87). Das Massenblatt Sabah fragt mit einem Verweis auf entsprechende Äußerungen des stellvertretenden türkischen Ministerpräsidenten Bekir Bozdag, ob die NSU-Mörder von staatlichen Stellen beschützt worden seien (90). Die auflagenstarke Hürriyet skandalisiert, dass das Bundeskriminalamt angeblich Ermittlungsdaten gelöscht habe (91).

Die rassistische Gewalt im Kontext

Breiten Raum räumt der Band der aktualhistorischen Kontextualisierung der Mordserie ein. Ein Beitrag von Aslan Erkol und Nora Winter rekapituliert die Geschichte neorassistisch motivierter Gewalttaten seit Beginn der 90er Jahre (94ff.). Das Buch lässt den Mord an Amadeu Antonio im November 1990 in Eberswalde, den Brandanschlag auf das Asylbewerberwohnheim in Hoyerswerda im September 1991 und die pogromartigen Ausschreitungen gegen Asylbewerber von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 Revue passieren (98-106). Es folgt ein Abschnitt zum Brandanschlag im schleswig-holsteinischen Mölln im November 1992, dem in zwei von türkischen Familien bewohnten Häusern drei Bewohner zum Opfer gefallen sind (107ff.). Beim nächsten Brandanschlag, der dem Muster von Mölln folgte, starben Ende Mai im nordrhein-westfälischen Solingen fünf Menschen, kurz nachdem der Bundestag das Asylrecht verschärft hatte (108ff.). Der Anhang zum Buch listet namentlich 182 Todesopfer rechtsradikaler Gewalt auf (174-201), während das Bundesinnenministerium nur 58 Tote angibt (96).

Simone Rafael geht in ihrem Beitrag zur Frage, wie viele Nazis es in Deutschland gebe, von einer Zahl von 25000 aus. Unter diesen gelten 9500 als gewaltbereit (136). Die Autoren des Bandes erklären auch, wie sich 5600 Neonazis in ‚Kameradschaften‘ vernetzen. Der „Thüringer Heimatschutz“, zu dem das Terrortrio organisatorische Verbindungen unterhalten hat, fungiert für solche Gruppen als eine Art Dachverband (122ff.). Diskutieren ließe sich die Vermutung, dass ein „Machtvakuum“, die „fehlende Unterdrückung der alten Machthaber in der DDR“ in den „neuen Bundesländern“ im Zusammenhang mit der Erfahrung des Verlusts von Arbeitsplätzen und Polikliniken zu einer rassistischen Radikalisierung der Szene beigetragen haben. Als entscheidender Faktor könnte der nationale Taumel im Gefolge der Wiedervereinigung gewirkt haben (125f.).

Die Autoren des Bandes gehen von der Annahme aus, dass der „Rassismus der Mitte“ das Problem sei, dass also die „rassistischen Diskurse aus der Mitte der Gesellschaft“ kommen (145, 148). Nimmt man diese These, die auf Ausführungen von Seymour Martin Lipset zurückgeht, ernst, dann wären die Neonazis Extremisten, die bürgerliche Vorstellungen einer deutschen Normalität radikalisieren. Für die Neonazis, die außerhalb des Systems als seine entschiedensten Wächter agieren, scheinen integrierte Ausländer die schlimmsten Feinde zu sein. Symptomatisch ist, dass sie auch Obdachlose töten. Sie brechen das staatliche Gewaltmonopol, weil sie offenbar glauben, dass dessen Repräsentanten ihrer Arbeit nicht konsequent nachgehen. Schließlich geraten auf ihre Todesliste sogar die offiziellen Grenzwächter selbst, die aus der Sicht der Nazis bei der Sicherung der deutschen Matrix versagen. Das Fatale ist, dass die Neonazis die bürgerliche Gesellschaft in ihrer ideologischen Verblendung dann nicht einfach falsch sehen, sondern sie im Gegenteil ganz richtig als potentiellen Bündnispartner ihrer Umtriebe wahrnehmen. So betrachtet, könnte ein Neonazi widerspruchsfrei zum Doppelagenten werden, dessen Name auch auf der Gehaltsliste des Verfassungsschutzes steht.

 Eine Verschwörung auf der Ebene der Ermittlungen?

Leider versteigen sich die Verfasser des Buches in eine äußerst fragwürdige Verschwörungstheorie. Sie nehmen an, dass jeder Mord, den der NSU verübt hat, an einem für die Neonazis symbolträchtigen Tag und Ort begangen worden sei. Auf diese Weise hätten sie eine Art Bekennerschreiben hinterlassen, das darauf hinweist, dass die Täter aus der Neonazi-Szene stammen. Das erste Opfer beispielsweise, der Blumenhändler Enver Simsek, war am 9. September 2000 getötet worden. Die Mörder hätten den Tag bewusst gewählt, um an das 86 Jahre zuvor von Reichskanzler Bethmann-Hollweg verkündete Programm der deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg zu erinnern. Nürnberg hätten sie sich als Tatort wegen seiner historischen Bedeutung als der „Stadt der Reichsparteitage“ ausgesucht. Die acht Schüsse auf den türkischen Händler verwiesen auf den achten Buchstaben des Alphabets, H wie Hitler (42). Der Mord an dem Kioskbesitzer Mehmet Kubasik fand am 4. April 2006 in Dortmund statt. Die Stadt habe als Standort des größten Gestapo-Gefängnisses der Nazi-Diktatur gedient. Und am 4. April 1944 habe ein gewisser Ernst Kutscher eine antisemitische Rede gehalten, der es in der Bundesrepublik dann zum Karrierediplomaten bringen sollte (18). Da Deutschland zwischen 1933 und 1945 flächendeckend Schauplatz von Reden und Taten des Nazi-Regimes war, kann auch jeder einzelne Tag dieser zwölf Jahre symbolisch aufgeladen werden. Diese Methode erklärt jedoch wenig. Eine ganze Reihe der Daten und Fakten, die im Buch als spezifische Nazi-Chiffren eruiert worden sind, dürfte selbst spezialisierten Historikern nicht geläufig sein. Sie sind in Neonazi-Kreisen wohl kaum hinreichend bekannt, um dort signalisieren zu können, dass bestimmte kriminelle Machenschaften auf das Konto von Tätern aus ihrem Milieu gehen.

Claudia Roth, die Bundesvorsitzende der Grünen, stellt in ihrem Geleitwort zur zweiten Auflage nicht die Frage, ob es eine „schützende Hand im Hintergrund“ gebe, sondern wem sie gehöre (8). Kritisch beleuchtet das Buch der Autoren Hunger, Yumusak und Kaul in diesem Sinn die polizeilichen Ermittlungen. Es bemüht sich um eine Rekonstruktion des Umfeldes der mutmaßlichen Unterstützer und den Verbindungen der Neonazis zu Organen des Verfassungsschutzes. Der Mann, der dem Trio die Mordwaffe besorgt hatte, war phasenweise als V-Mann für den brandenburgischen Verfassungsschutz tätig (39). Eine dritte Auflage des Buches wird die Ereignisse im Licht der Erkenntnisse beleuchten müssen, die unter anderem auch der Untersuchungsausschuss des Bundestags unter der Leitung des sozialdemokratischen Abgeordneten Sebastian Edathy erarbeitet. Im Zusammenhang mit einem Unterlassungsbegehren musste der Teia-Verlag die aktuelle Auflage des Buches an verschiedenen Stellen schwärzen. Die Autoren hatten eine Darstellung der BILD-Zeitung bezüglich einer vermuteten Löschung von Daten eines Beschuldigten-Handys bei der Bundespolizei übernommen, die BILD später zurückziehen musste.

Ali Yumusak / Lutz Hunger / Peter Kaul
Rechter Terror in Deutschland
Die Neonazi-Mordserie
Zweite Auflage, mit einem Geleitwort von Claudia Roth.2012 Berlin: Teia,
223 S., 9,95 €.