Sprung nach links?

  • Lesedauer:12 min Lesezeit

Zu den jüngsten Wendungen im FAZ-Feuilleton. Von Sebastian Friedrich. Erschienen in DISS-Journal 23 (2012), 35-37

Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), erklärte im Sommer 2011, er beginne zu glauben, dass die Linke recht hat. Drei Monate später feierte er ebenfalls im FAZ-Feuilleton ein Buch des Anarchisten David Graeber als „Befreiung“. Lorenz Jäger erklärte zuvor an gleicher Stelle, er sei nun kein Rechter mehr. Steuert mit dem FAZ-Feuilleton das Leitmedium der konservativen Elite nach links?

Ausgangspunkt für Schirrmachers vermeintliches Linksbekenntnis war ein Aufsatz des konservativen Publizisten Charles Moore mit dem Titel „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“, der im Juli 2011 im Daily Telegraph abgedruckt wurde und in England eine Debatte auslöste. Moore äußerte in seinem Rundumschlag Kritik am Bankenwesen und an den verantwortlichen Politikerinnen. In seinem Beitrag wartete er mit links-konnotierten Diskursfragmenten auf, etwa, dass die Arbeiterinnen ihre Jobs verlören, damit die Bänkerinnen in Frankfurt und die Bürokratinnen in Brüssel beruhigter schlafen können. Frank Schirrmacher bekannte sich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) am 14.8.2011 in ähnlicher Weise wie Moore. Er überschrieb seinen Beitrag mit dem gleichen Titel und zitierte Moore mit Sätzen wie

„Globalisierung (…) sollte ursprünglich nichts anderes bedeuten als weltweiter freier Handel. Jetzt heißt es, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation verteilen.“

Schirrmacher stimmte Moore zu und fragte sich, ob er angesichts dieser Entwicklungen als Konservativer richtig gelegen habe. ((Schirrmachers Bekenntnis folgten kurz darauf weitere Beiträge von Gastautoren, die in eine ähnliche Richtung gingen. Zum Beispiel Jens Beckert und Wolfgang Streeck am 20.8.2011 oder Stephan Schulmeister zwei Wochen später.)) Die Beiträge von Moore und Schirrmacher ließen linksliberale Kommentatorinnen zuweilen jubeln. Nur wenige, wie Wolfgang Michal im Freitag (25.8.2011), zeigten sich skeptisch: „Während die ausgedörrte Linke frohlockt und sich dankbar zeigt, dass der politische Gegner einsieht, ein Leben lang an etwas Falsches geglaubt zu haben, geht es den Konservativen doch eher um die Erlangung der benötigten Persilscheine – so kurz vor dem befürchteten Kladderadatsch.“ Und in der Tat: Auf den zweiten Blick geht es weder in den Beiträgen Moores noch in dem Artikel Schirrmachers um eine Hinwendung zu linken Ideen, sondern viel eher um eine Restauration des Konservativismus und um die Rettung der Sozialen Marktwirtschaft.

So zielt etwa die Kritik Moores nicht auf die Idee des Kapitalismus, sondern im Gegenteil auf die Politikerinnen, die sich in das Gewinnen und Verlieren des freien Marktes einmischen. Moore stellt dem jetzigen System kein ‚linkes’ entgegen, sondern einen marktfundamentalistischen Neoliberalismus im Sinne von Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Auch Schirrmacher plädiert letztlich für das Wiederfinden „bürgerlicher Gesellschaftskritik“. Dass sein Beitrag nicht als Aufkündigung der Verbindung von Konservativismus und Kapital zu deuten ist, zeigt sich an seiner Huldigung von Ludwig Erhard. So wäre etwa ein Schweigen wie das von Angela Merkel zum Bruch aller bürgerlich-moralischen Maßstäbe in der Krise unter Erhard undenkbar gewesen. Sprachlos machte Schirrmacher überdies der „endgültige Abschied von Ludwig Erhards aufstiegswilligen Mehrheiten“. In dieser Sprachlosigkeit kommt konservatives Klassendenken zum Ausdruck. Zwar wünscht Schirrmacher die Chance des sozialen Aufstiegs und kritisiert somit implizit den klassischen Konservativismus, bei dem alles so bleiben soll, wie es ist: Der Sohn des Bauern bleibt Bauer, der Sohn des Arztes bleibt Arzt. Aber Schirrmacher hält weiter an der Klassengesellschaft fest, in der es neben den aufsteigenden Gewinnern nun mal auch Verlierer geben muss.

Alle, die nur an eine kurze Laune des Feuilletons dachten, wurden Anfang Oktober 2011 überrascht. Eine offizielle Bekanntmachung von Lorenz Jäger (5.10.2011) löste allgemeine Aufregung aus: Der von Habermas einst als Rechtsaußen des FAZ-Feuilletons bezeichnete Lorenz Jäger verkündete, dass er fortan kein Rechter mehr sei. Er verstehe nicht mehr, warum die Konservativen zum Beispiel „den menschengemachten Klimawandel für Panikmache von Gutmenschen und die Umweltauflagen gegenüber der Industrie für eine sozialistische Erfindung halten“. Der Konservativismus sei zu einer „Ideologie der Großindustrie und der Kriegsverkäufer geworden“ und habe sich selbst verraten, weshalb die Zeit gekommen sei, „Adieu“ zu sagen. Mit dieser Sichtweise betreibt Jäger jedoch das, was man auch Geschichtsklitterung nennt. Denn bekanntlich hat sich der deutsche Konservativismus bislang immer als zuverlässiger Bündnispartner von Militär und Großindustrie sowie als Gegner der Demokratie erwiesen, wie Volker Weiß anlässlich der Erklärung von Jäger bei publikative.org treffend (23.10.2011) festgestellt hat. Nach 1945 hat sich, so Volker Weiß, der Konservativismus neu orientiert, um die von ihm nicht favorisierte Demokratie und Massengesellschaft einigermaßen kontrollieren zu können. Das Bemerkenswerteste an Jägers rufendem Abgang sei, dass dieser „seinem Lager mit den urkonservativen Argumenten der politischen Souveränität, der gesellschaftlichen Balance und des Bewahrens der Schöpfung von der Fahne geht“. Jäger verabschiedet sich also keinesfalls vom Konservativismus, sondern nur von einem, wie er es nannte, „Pseudokonservativismus“ und „Neokonservativismus“, der ihm zu widersprüchlich, zu zahnlos und stumpf geworden ist. Hinter Jägers „Adieu“ steckt, wie auch bei Frank Schirrmacher, der Wunsch nach Restauration des deutschen Konservativismus und nach Abgrenzung von den Schmuddelkindern rassistischer Islamkritik und der Großindustrie.

Bürgerliches Unbehagen

Anfang November 2011 war es erneut Frank Schirrmacher, der die Aufmerksamkeit auf sich zog. Er schrieb, dass die Demokratie mehr und mehr zu Ramsch verkomme (FAZ vom 2.11.2011). Grund für diese Einschätzung war die öffentliche Kritik an der überraschenden Ankündigung des damaligen griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou, ein Referendum über die Sparauflagen abhalten zu lassen, die zuvor beim Euro-Gipfel in Brüssel beschlossen worden waren. Die Kritik an Papandreou zeige, so Schirrmacher, dass beim Machtkampf um den Primat zwischen Ökonomie und Politik letztere massiv an Boden verloren habe. Fast verzweifelt fragte sich der FAZ-Mitherausgeber: „Sieht man denn nicht, dass wir jetzt Ratingagenturen, Analysten oder irgendwelchen Bankenverbänden die Bewertung demokratischer Prozesse überlassen?“ Weniger Tage später sprang Jürgen Habermas Schirrmacher in seiner Sorge um die Postdemokratie zur Seite. Das griechische Desaster sei eine deutlich Warnung vor dem „postdemokratischen Weg“ von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy.

Die Beiträge von Schirrmacher und Habermas ließen einen maßgebenden Impuls für die Offensive im FAZ-Feuilleton zum Vorschein bringen: die Angst der intellektuellen Elite, zugunsten von ökonomischen „Sachzwängen“ und postulierter „Alternativlosigkeit“ kaum noch Gehör bei den wesentlichen Debatten zu finden. Diese nicht von der Hand zu weisende Befürchtung wird in der FAZ wesentlich über den Begriff „Postdemokratie“ in Anlehnung an Colin Crouch (2008) vermittelt. Crouch zufolge werden die demokratischen Institutionen zunehmend ausgehöhlt durch die Eliten der Wirtschaft, auf die sich die Macht in wachsendem Maße konzentriere. Crouchs Überlegungen werden seit Erscheinen seines Buchs breit rezipiert, wobei „Postdemokratie“ häufig verkürzt als Legitimations- oder Repräsentationskrise verstanden wir. Seltener wird in der Rezeption darauf verwiesen, dass nach Crouch in einer Postdemokratie auch die Klassenverhältnisse verdeckt werden. In Johannes Agnolis und Peter Brückners „Transformation der Demokratie“ (1967) wurde dieser Aspekt noch klarer herausgearbeitet. Agnoli / Brückner zeigten knapp 40 Jahre vor Crouch, dass der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital zu einem bloßen Interessenspluralismus reduziert wird, bei dem es im Wesentlichen um die Machtkonkurrenz unterschiedlicher Führungseliten geht. Diese Aspekte des Klassencharakters der „Postdemokratie“ werden auch gegenwärtig im bürgerlichen Feuilleton nicht thematisiert – die Analysen verbleiben auf der Ebene eines Unbehagens.

Im Herbst des vergangenen Jahres schien sich das FAZ-Feuilleton von Woche zu Woche zu radikalisieren. Weiterer Ausdruck dieser vermeintlichen Radikalisierung war eine Rezension von David Graebers Buch „Debt“ (2011). Graeber zufolge wirkten Schulden seit jeher als Herrschaftsinstrument, und umgekehrt entstanden Revolutionen fast immer aus einer Situation der Überschuldung. Schirrmacher feierte das Buch in der Sonntagsausgabe vom 13.11.2011 als „Befreiung“. Es sei ein „herrliches und hilfreiches Buch“, eine „Offenbarung“. Graeber würde es schaffen, „dass man endlich nicht mehr gezwungen ist, im System der scheinbar ökonomischen Rationalität auf das System selber zu reagieren“. Schirrmacher war tief beeindruckt von Graebers Buch, insbesondere weil die letzten Seiten etwas mit Gehirn und Bewusstsein tun würden: „Sie machen klar, dass wir es selber sind, die über unsere Symbole und deren Macht entscheiden.“ Dieses überschwängliche Lob korrespondiert mit der durchgängig positiven Bezugnahme auf die Occupy-Bewegung im FAZ-Feuilleton. ((In dichter Folge erschienen nach der Rezension von Graebers Buch vier weitere Beiträge in der FAZ, die sich der Debatte widmeten. Der linke Sozialdemokrat Albrecht Müller erhoffte sich einen Pakt „gegen Zyniker, Spieler und Spekulanten, einen Pakt aller Werte schaffenden und an Werten orientierten Bürgerinnen und Bürger“, der von „Wertkonservativen bis zu demokratischen Linken“ reiche (23.11.2011). Anschließend kam zweimal Michael Hudson zu Wort, an dem sich auch Graeber orientiert (3.12./4.12.2011). Für den nächsten Coup sorgte dann Sahra Wagenknecht, die darauf insistierte, sich von der Abhängigkeit von den privaten Kapitalmärkten zu befreien (8.12.2011).))

Seit Januar 2012 ist es vergleichsweise ruhig im FAZ-Feuilleton geworden. Abgeflaut ist die Debatte aber keinesfalls. Das Feuilleton schielt nach wie vor demonstrativ nach links. So fragte etwa am 28.1.2012 Uwe Ebbinghaus auf zwei ganzen Seiten, ob nach dem Scheitern des Sozialismus der Anarchismus die linke Utopie der Zukunft sei. Ebbinghaus schaffte es zwar, eindringlich über die Protestformen der Occupy-Bewegung zu schreiben, den Bogen über die Piratenpartei und Stuttgart 21 zu schlagen und nach kurzen Erörterungen der Ideen Bakunins und Kropotkins viele der aktuellen Protestbewegungen als irgendwie anarchistisch zu kennzeichnen. Zur Absicherung seiner Aussagen zog er David Graeber heran. Mit keinem Wort erwähnte er allerdings den inhaltlichen Gehalt anarchistischer Politik jenseits von horizontalen Strukturen, Konsensprinzip und Guy-Fawkes-Masken. Proteste, die tatsächlich Überschneidungen mit anarchistischen Praxen im ‚Hier und Jetzt‘ aufweisen, werden lediglich in ihrer Form positiv bewertet.

Krise und Restauration des Konservativismus

Auch die Beiträge, die in den letzten Wochen und Monaten im FAZ-Feuilleton erschienen sind, beinhalten im Wesentlichen die Aussagen, die hier exemplarisch dargestellt wurden. Es wird ein „Ausufern“ des Kapitalismus und eine Tendenz in Richtung Postdemokratie im Sinne von Crouch ausgemacht. Diese Probleme werden auf die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte und das sich Abkapseln der politischen und insbesondere der wirtschaftlichen Elite zurückgeführt. Grundsätzlich hätte sich die Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft abgekoppelt und zu einem „Finanzkapitalismus“ entwickelt. Dieser wird kritisiert, während der „Realkapitalismus“ positiv besetzt bleibt. Der vermeintliche „Antikapitalismus“ stellt sich insbesondere als Verteidigung bzw. Plädoyer für die Rückeroberung der Sozialen Marktwirtschaft dar. Dabei lässt die FAZ durchaus auch ‚linke’ Stimmen zu Wort kommen. Die Entwicklung in Richtung Postdemokratie und radikalem Finanzkapitalismus müsse schnell gestoppt werden. Protestbewegungen wie die Indignados in Spanien und die Occupy-Bewegung werden positiv dargestellt.

Von vielen Linken, Sozialdemokratinnen und Linksliberalen wurde die Tendenz im FAZ-Feuilleton mit Aufmerksamkeit und Zustimmung aufgenommen. So verfolgte beispielsweise Albrecht Müller die Entwicklungen ausführlich auf den Nachdenkseiten und bot ein Dossier mit den wichtigsten Beiträgen an. Wie in seinem Beitrag in dieser Reihe selbst, kommentierte er auch am 9.12.2011 auf den Nachdenkseiten sehr positiv: „Die Frankfurter Allgemeine leistet mit einer Serie von Essays in FAZ und FAS einen bemerkenswerten Beitrag zur Aufklärung über die Finanzkrise, über die Abhängigkeit der Politik von der Finanzwirtschaft und damit über die Gefährdung der demokratischen Willensbildung.“

Und es kann in der Tat von Nutzen für die Linke sein, wenn auch in der konservativen Presse teilweise linke Positionen zu Wort kommen. Doch die scheinbare Wende im FAZ-Feuilleton und das ‚Umgarnen‘ durch die (oder ‚der‘) Linke(n) könnten auch einen fatalen Effekt mit sich bringen. Karl Kraus merkte einmal an: „Das Geheimnis des Agitators ist, sich so dumm zu machen, wie seine Zuhörer sind, damit sie glauben, sie seien so gescheit wie er.“ Übertragen auf die Debatte um das FAZ-Feuilleton bedeutet das, dass die als ‚links’ erscheinenden Geistesblitze in den bürgerlichen Feuilletons darauf abzielen und bewirken, die kulturelle Hegemonie über Gesellschaftskritik weiter zu festigen.

Denn zugleich haben wir es derzeit mit einer Situation zu tun, in der keine ernsthafte ‚Gefahr’ von links ausgeht. Wäre dies der Fall, wären die zitierten Linksbekenntnisse seitens der Konservativen als Strategie denkbar, ‚linke’ Positionen in einen gesamtgesellschaftlichen Konsens einzubinden und sie im Sinne des kapitalistischen Projekts zu normalisieren. Doch davon kann momentan keine Rede sein. Obwohl selten antikapitalistische Thesen so sehr bestätigt wurden wie in der billionenschweren Rettung von Banken, vermochte es die ‚Linke’ bisher nicht, von einer der schwerwiegendsten Legitimationskrisen des Kapitalismus zu ‚profitieren‘. Es fehlt ihr offenbar an schlagkräftigen Analysen und vor allem an der offensiven Vermittlung der vorhandenen.

Da von der ‚Linken’ aber im Augenblick wenig zu befürchten ist, muss sie als Gegner im Kampf um Deutungshoheit auch nicht besonders ernst genommen werden und kann daher als diskursives Ersatzteillager Verwendung finden. Beides zusammengedacht, einerseits die schwache Position linker Ideen in den Deutungskämpfen und andererseits soziale Proteste wie in England, aber auch in vielen anderen Ländern, ergibt folgende Situation: Die Verhältnisse spitzen sich zwar zu, gleichzeitig sind explizit linke Alternativen im Mainstream bedeutungslos. Genau diesen Zustand nutzt die ‚bürgerliche Gesellschaftskritik‘ für sich. Linker Antikapitalismus wird ersetzt durch (sozial-)marktwirtschaftliche ‚Kapitalismuskritik‘, die sich nicht gegen die Logik der Wirtschaftsordnung richtet, sondern gegen einzelne „Auswüchse“. Die hin und wieder geäußerte Gesellschaftskritik versickert oder wird kanalisiert, indem kapitalismuskritische Positionen eingebunden werden. Die im Feuilleton sich äußernde Krise des Konservativismus als moralischer Bodyguard des Kapitalismus ist insofern nicht zwingend ein Grund zu Freude.