Recht auf die Stadt

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Mehr Bewegung in der festgefahrenen Entwicklung Duisburgs? Von Niels Jansen und Björn Ochs. Erschienen in DISS-Journal 23 (2012), 38-43

„Woanders ist auch scheiße“, so lautet die Überschrift eines Spiegel-Online-Berichts über Kultur und Nachtleben in Duisburg. Doch ist es wirklich woanders genau so schlecht? Gibt es noch Hoffnung für die westlichste Stadt im Ruhrgebiet, die gezeichnet ist von hoher Verschuldung und zunehmender Perspektivlosigkeit ihrer BewohnerInnen? Duisburg, nach wie vor eine der größten Städte in der BRD, produzierte in den letzten Jahren keine positiven Schlagzeilen, die das Image großartig verbessert hätten. Allen Strukturwandelprojekten zum Trotz bleibt unterm Strich eine langsam untergehende Stadt: Verfallende Stadtteile, hohe Arbeitslosigkeit, soziale Segregation, eine mit sich selbst und mit Korruption sowie Inkompetenz belastete Stadtverwaltung zeigen das aktuelle Gesicht der Stadt. Gegen diese Misstände engagieren sich seit geraumer Zeit Menschen, die ‚ihre‘ Stadt noch nicht aufgegeben haben.

Mit einer Nachttanzdemo ((Vgl. http://www.ruhrbarone.de/interview-zur-duisburger-nachttanzdemo-man-bleibt-hier-gerne-alten-mustern-treu/.)) sollte auch Anfang Juni 2012 den Forderungen nach einem Ort für selbstverwaltete, unabhängige Kultur und Politik in Duisburg Nachdruck verliehen werden. In den Nachbarstädten Mühlheim und Oberhausen existieren solche autonomen bzw. sozio-kulturellen Zentren. Warum aber gibt es in Duisburg, das mehr als doppelt so viele Einwohner wie diese beiden Städte zusammen hat, keinen solchen Ort?

Duisburg hat eine dynamische Entwicklungsgeschichte, die vor allem durch Industrialisierung und Deindustrialisierung geprägt ist. Zu Beginn der 1970er Jahre wurden in Duisburg etwa 45% des gesamten Roheisens und -stahls der Bundesrepublik Deutschland hergestellt; die drei Stahlunternehmen Thyssen, Krupp und Mannesmann erwirtschafteten annähernd 2/3 des Industrieumsatzes der Stadt und beschäftigten 1970 mehr als 25% aller Arbeitnehmer. (vgl. Glock 2006. 82)

Von 1976 bis 2002 sank die Zahl der insgesamt sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Duisburg um annähernd 30%. Dies drückt sich auch in den Arbeitslosenquoten aus, die von 1985 bis 2005 durchschnittlich bei 14% lagen. (Vgl. ebd., 85 ff.) Neben der ökonomischen ist auch eine demographische Schrumpfung in  Duisburg zu beobachten. ((Vgl. http://www.duisburg.de/micro2/pbv/medien/bindata/news_demographische_entw.pdf.))Dabei verliert die Stadt seit 1975 (615.388), mit Ausnahme der Jahre um die Wiedervereinigung, kontinuierlich Einwohnerinnen. Ende Juni 2010 wohnten noch 488.410 Menschen in Duisburg. ((Vgl. http://www.it.nrw.de/statistik/a/daten/amtlichebevoelkerungszahlen/rb1_juni2011.html.)) Die Schrumpfung verläuft zwar langsamer als früher, dennoch sehen die Prognosen nicht positiv aus. Im Jahr 2030 werden voraussichtlich nur noch 453.100 Menschen in Duisburg wohnen, ((Vgl. http://www.it.nrw.de/presse/pressemitteilungen/2009/pdf/69_09.pdf.)) was nur noch etwa 74% gegenüber 1975 wären.

Mit dem Übergang vom Fordismus zum Postfordismus geht ein Strukturwandel der industrialisierten Städte einher. Typische Phänomene postfordistischer Stadtentwicklung werden auch in Duisburg deutlich. In einer Ende 2006 veröffentlichten Studie von Birgit Glock, in welcher sie die Stadtentwicklungspolitik Duisburgs und Leipzigs vergleicht, wird herausgearbeitet, dass Duisburg „mit einer Strategie der Standortprofilierung auf die anhaltenden Arbeitsplatz- und Einwohnerverluste“ reagiert und diese mit der Umsetzung von „prestigeversprechende(n) große(n) Projekten“ zu erreichen hofft. Die Standortprofilierung, mit der die Städte ein möglichst investitions- und wachstumsfreundliches Umfeld schaffen möchte, wird als „herkömmliche Therapie“ bezeichnet. (Vgl. Glock 2006, 196.) Größere Bauprojekte spielen im Bereich der Innenstadt eine Rolle in der Stadtentwicklung. (Vgl: ebd., S.122 ff.) Ebenso sind Ökonomisierung und Privatisierung zu beobachten. ((Vgl. http://www.duisburg.de/vv/I_01/medien/Verzeichnis_aller_unmittelbaren_Beteiligungen.pdf.)) Der Masterplan für den Innenhafen bzw. die Innenstadt hebt vor allem städtebauliche Veränderungen hervor. Die städtische Gesellschaft „Duisburger Gemeinnützige Baugesellschaft AG“ (Gebag) scheiterte mit einem ‚Leuchtturmprojekt‘ in Form eines architektonisch auffälligen Museumsbaus. ((Vgl. http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/wird-die-kueppersmuehle-in-duisburg-zum-teuersten-museum-der-welt-id4688773.html und http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/kueppersmuehle-in-duisburg-ist-ein-luftschloss-ohne-genehmigungen-id6732380.html)) Die Problematik von großen Bauprojekten, Public Private Partnerships und Korruption wird auch in Duisburg deutlich. ((Vgl. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,802526,00.html.))

„Die fortlaufenden demographischen Veränderungen werden die Anforderungen an die Stadtentwicklungsplanung der Stadt Duisburg in den kommenden Jahren nachhaltig beeinflussen.“ ((http://www.duisburg.de/micro2/pbv/stadtentwicklung/sonstiges/102010100000350295.php.)) Die Stadt Duisburg hat eine Studie in Auftrag gegeben, die folgender Frage nachgeht: „Was kann und was muss die Stadt Duisburg für ihre Bürger in Zukunft leisten?“ Hierbei geht es vor allem um infrastrukturelle Einrichtungen. Eine zentrale Empfehlung dieser Studie ist die Erstellung eines integrativen Stadtentwicklungskonzepts.

„Die Weichen zur räumlichen und funktionalen Entwicklung der Stadt müssen kurzfristig gestellt werden. Ziel ist ein integratives Stadtentwicklungskonzept, das in erster Linie einen langfristig angelegten Prozess definiert und nicht vordergründig ein stadträumliches Bild entwirft. (…). Die in den nächsten zwei Dekaden noch moderat vorhandenen Entwicklungsspielräume für den Stadtumbau müssen genutzt werden, um Duisburg für die dann erwartete Zeit deutlich eingeschränkter Möglichkeiten vorzubereiten.“ ((http://www.duisburg.de/micro2/pbv/medien/bindata/sid_040906_vortrag.pdf, 24))

Deutlich eingeschränkte Möglichkeiten bedeuten auch, dass sich die lokale Ebene des Staates auf ihre Kernaufgaben  beschränkt. Auch im kulturellen Sektor, welcher nur etwa 2,67% des Haushalts der Stadt Duisburg ausmacht, soll gespart werden. Die Bürgerinnen sollen an der Entscheidung, welche Mittel gekürzt werden, beteiligt werden. ((Vgl. http://buergerbeteiligung.duisburg.de/vorschlag/detail/vorschlag/55.))„Vernetzung, neue Formen der Partizipation, Empowerment, Quartiersmanagement – all dies ist sinnvoll, um Kommunikation zu stärken und Netzwerke zu stiften – aber das zu erwartende Optimum ist voraussichtlich lediglich eine ordentlich verwaltete Marginalität.“ (Häußermann 2008, 278)

Bei der kulturellen Stadtentwicklung nimmt man Partizipation von Bewohnerinnen kaum jenseits von Beteiligungsprozessen an der Erstellung eines strategischen Stadtentwicklungskonzepts (Duisburg 2027) wahr. In diesem Bereich setzt man neben kulturellen ‚Leuchttürmen‘ auch auf ‚Großevents‘, also eine Kulturalisierung bzw. Festivalisierung als Merkmale einer postfordistischen Stadtentwicklungspolitik auch in Duisburg. Die Bemühungen, die Bundesgartenschau 2011 in Duisburg stattfinden zu lassen, waren erfolglos. 2010 wurde die Loveparade in Duisburg veranstaltet und endete nach einer Massenpanik mit 21 Toten. Auch an der Großveranstaltung ‚Kulturhauptstadt Europas – Ruhrgebiet 2010‘ war Duisburg beteiligt. (Vgl. Pachaly 2008) Die Nachhaltigkeit dieser Veranstaltungen scheint zumindest diskussionswürdig. ((Vgl. Betz 2010, 324-342 und http://www.zeit.de/2010/02/Essen-2010.)) Auf der anderen Seite ist auch eine Nachhaltigkeit kultureller Entwicklung durch die Sparmaßnahmen des kommunalen Haushalts gefährdet. ((Vgl. http://www.duisburg.de/news/ 102010100000347023.php.))

Veränderungen ‚von unten‘ herbeiführen – ein sozio-kulturelles Zentrum

In Duisburg setzten sich verschiedene Initiativen und Vereine seit vier Jahrzehnten für selbstverwaltete sozio-kulturelle Zentren ein. Bereits 1973 eröffnete in Duisburg das ‚Eschhaus‘, eines der ersten selbstverwalteten Jugendzentren in der Bundesrepublik Deutschland. Zu Beginn des Jahres 1987 kündigte die Stadt den Vertrag mit dem Trägerverein und das Eschhaus wurde geschlossen. (Vgl. Claßen 1989.) Nun versuchte der Alte Feuerwache e.V. ein vergleichbares Zentrum in Hochfeld zu etablieren, bekam dann aber von der Stadt ein alternatives Gebäude zu Verfügung gestellt und eröffnete 1998 das ‚Hundertmeister‘. Der Fabrik e.V. mietete Räumlichkeiten an, um ein selbstverwaltetes sozio-kulturelles Zentrum auch ohne ein von der Stadt zur Verfügung gestelltes Gebäude und Subventionen zu ermöglichen. Die ‚Fabrik‘ existierte bis 2003, als dem Verein wegen Differenzen mit dem Vermieter gekündigt wurde.

Der auch aus der Schließung der ‚Fabrik’ hervorgegangene und 2005 gegründete Mustermensch e.V. bemühte sich um passende Räumlichkeiten für ein unabhängiges Kulturzentrum. Im Oktober 2008 wurde eine ehemalige Kneipe angemietet und umgebaut. Das ‚T5‘ existierte ein halbes Jahr ohne jegliche Förderung durch die Stadt Duisburg, bevor es wegen Lärmproblematik bzw. zur Schallisolierung nicht geeigneter Bausubstanz geschlossen werden musste. ((Vgl. http://www.mustermensch.org/retrospektive/.)) Seither befindet sich der Verein wieder auf der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten.

Anfang 2011 wurde die Kampagne ‚DU It Yourself‘ gestartet, um

„eine Bewegung in Gang (zu) setzen, die in dieser Stadt Räume erobert. Um Jugendkultur Raum zu geben. Um freie Entfaltung des Individuums zu ermöglichen. Um kreative Freizeitgestaltung zu fördern. Und um sozialem wie politischem Engagement im Allgemeinen wieder seinen nötigen Spielraum zu verschaffen.“ ((http://duityourself.org/selbstverstandnis/))

Im Jahr 2011 musste obendrein das ‚Hundertmeister’ wegen finanzieller Probleme schließen. Hinzu kam, dass es den Bedürfnissen einer freien und unkommerziellen Kunst- und Kulturszene nicht gerecht wurde. AktivistInnen scheiterten bei dem Versuch mit einer Besetzung des Gebäudes eine Wiedereröffnung möglich zu machen. ((Vgl. http://www-stud.uni-due.de/~sfanfall/du-kultur/?page_id=186.)) Anstatt es Menschen aus verschiedenen Initiativen und Vereinen zur Verfügung zu stellen und einen Ort sozio-kultureller Selbstverwaltung zu schaffen, entschied sich der Stadtrat für eine Streichung der Zuschüsse und die Vermietung des Gebäudes an einen kommerziellen Musikkneipenbetreiber.

Vorschriften für Genehmigungsverfahren werden seit dem Loveparadeunglück auch für kleinere Veranstaltungen und Veranstaltungsorte von der Stadtverwaltung sehr restriktiv ausgelegt. Unter dem Vorwand „brandschutztechnischer Mängel“ wurden auch die Besetzerinnen eines leerstehenden Schulgebäudes in Duisburg-Laar von Vertretern der Stadtverwaltung und einer Einsatzhundertschaft der Polizei zur Aufgabe ihres Vorhabens gezwungen. In dem zuvor von den Aktivistinnen aufgeräumten und gesäuberten, sowie mit Inneneinrichtung, Veranstaltungstechnik und Feuerlöschern versehenen Gebäude sollte für eine Woche ein provisorisches selbstverwaltetes Stadtteilzentrum eröffnet werden. ((Vgl. http://www.ruhrbarone.de/besetzung-duisburg-laar-hundertschaft-in-voller-montur-vor-ort/.)) Statt die als Folge der demographischen Schrumpfung entstehende infrastrukturelle Fehlauslastung, z.B. leerstehende Schulgebäude, Akteuren der städtischen Zivilgesellschaft, welche ein so oft gefordertes „bürgerschaftliches Engagement“ zeigen und Gebäude mit Leben füllen und auch zur Instandhaltung beitragen könnten, zur Verfügung zu stellen, lässt die Stadt weiterhin Immobilien verfallen und spekuliert auf Investoren für die betreffenden Grundstücke.

Problemlagen der (herkömmlichen) Partizipation

In einer Großstadt unterscheiden sich die Lebenswelten mitunter sehr stark voneinander; die Stadtgesellschaft setzt sich aus einer Vielzahl von Individuen und Gruppen zusammen, die teils sehr unterschiedliche Ansichten von Politik, Kultur, Sozialem und Gesellschaft haben. Ihre Ansichten und Lebenseinstellungen sind abhängig von ihrer Sozialisation, ihrem Status, und insbesondere den (Sub-)Milieus, in welchen sie sich bewegen und zugehörig fühlen. Aus dieser Vielfalt an Meinungen und Interessen bestimmte Intentionen abzuleiten, welche Richtung die Stadtentwicklung einschlagen soll, ist also mehr als schwierig.

Aus der Perspektive der Zivilgesellschaft müssen für die Partizipation förderliche Rahmenbedingungen geschaffen werden und das nicht nur bei städtebaulichen Großprojekten, bei denen eine Beteiligung der Öffentlichkeit ohnehin vorgeschrieben ist, oder bei der Entwicklung gesamtstädtischer Leitbild- und Strategieprozesse. Die Potentiale der Zivilgesellschaft in Form von Vereinen, Initiativen und Protestbewegungen für die Entwicklung der Stadt sollten gleichfalls erkannt werden. Die Akteure sollten als Kooperationspartner auf Augenhöhe begriffen werden, damit die Stadt sich auch unter ungünstigen demographischen und ökonomischen Rahmenbedingungen nicht nur hinsichtlich marktwirtschaftlicher Aspekte entwickeln kann, sondern auch ein Ort sozialer und kultureller Innovation, Entwicklung und Emanzipation sein kann.

Die heute vorherrschenden Planungsansätze intendieren die prinzipielle Möglichkeit von Anerkennung, Einbindung und Ausgleich von verschiedenen Interessen in Partizipationsprozessen, damit kollektive Entscheidungen möglich sind, die idealerweise alle beteiligten Interessen berücksichtigen. Eine „offene, wertfreie und vollständige Kommunikation zwischen Akteuren“, (Schneider 1997, 41) wie es z.B. die Planungsansätze nach einem kommunikativen Politikverständnis und insbesondere die Befürworter einer herrschaftsfreien Kommunikation fordern, ist aber beispielsweise aufgrund von „Zeitdruck, Machtgefälle(n) zwischen den Akteuren, ungünstige(n) Organisationsstrukturen und politische(r) sowie mediale(r) Beeinflussung von Beteiligungsprozessen“ (ebd., 39ff.) nicht gegeben.

Im Rahmen der postulierten ‚Bürgergesellschaft / -kommune‘ und der gleichzeitigen finanziellen Misere der Städte näherten sich die Verantwortlichen des politisch-administrativen Systems in den 1990er Jahren scheinbar den Beteiligungsformen wieder an; der Umbau der Städte konnte und kann nicht ohne die Bürgerinnen geschehen. Während die soziale und kulturelle Teilhabe am städtischen Leben theoretisch für alle BewohnerInnen offen steht, bleibt die direkte politische Einflussnahme hingegen vielen, auch aufgrund fehlender BürgerInnenrechte, verwehrt. Doch gerade die Partizipation bildet den wesentlichen Standard demokratischer Politikgestaltung. (Vgl. Lüttringhaus 2000, 24) Die Herausforderung der Partizipation für die Menschen liegt in dem Zusammenspiel von ihren rein individuellen Interessen und der Fähigkeit, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. „Nur wenige Menschen sind sich heute dessen bewusst, dass das ausgleichende gesellschaftliche Gegenstück zur Freiheit nicht Pflicht ist, die stets von außen von anderen auferlegt wird, sondern die Verantwortung, die man selbst, aus eigener Entscheidung und Einsicht, als mündiger Mensch übernimmt.“ (ebd., 48) Aber Partizipation ist nicht per se auch ein Generalschlüssel zu mehr Demokratie. Trotz dem Leitbild der Bürgerkommune ist es auch im 21. Jahrhundert noch so, dass vielerorts eine starke Spannung zwischen Verwaltung und BürgerInnen herrscht und Partizipation als Gefahr für eigene Interessen und das eigene Können gesehen wird.

Rat und Verwaltung initiieren als zentrale Akteure der Stadtentwicklung Partizipationsverfahren, aber es existieren nicht nur diese Top-Down-Konstellationen. Die dezentral gestaltete Selbstorganisation verschiedener Interessengruppen ist für die Stadtentwicklung in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger geworden, da der Staat sich aus elementaren Bereichen der Daseinsvorsorge zurückgezogen hat. Dabei wirken auch informelle Akteure wie Bürgerinitiativen und nachbarschaftliche Selbsthilfegruppen sowie Bürgerbewegungen und städtische Proteste auf eine Demokratisierung der lokalen Politik ein. Diese Akteure wenden sich gegen die Entscheidungen öffentlicher Steuerung und versuchen durch Proteste, z.B. in Form von Hausbesetzungen als Widerstand gegenüber Sanierungsplänen, auf das Handeln anderer Akteure (z.B. der Stadt oder wirtschaftlicher Akteure) zu ihren Gunsten Einfluss zu nehmen. (Vgl. Koch 2010, 105.)

„Statt einer ‚Planung von oben’ suggerieren die ‚behutsamen’ Stadterneuerungsstrategien die Einbeziehung der Betroffenen. Die aktuelle Planungskultur hat dazu wohlklingende Worthülsen hervorgebracht: von ‚kommunikativer Planung’ ist ebenso die Rede wie von ‚Beteiligungsplanung’ und ‚Partizipationsinstrumenten.’ Die Einbeziehung der BewohnerInnen in die Gestaltung ihrer Stadtteile steht dabei jedoch nur scheinbar hoch im Kurs. Denn verhandelbar in den Programmen sind meist nur kleine, abgrenzbare Projekte und eben nicht die allgemeinen Zielstellungen und Instrumente der Stadterneuerung. So ist der schöne Schein der Partizipation letztlich vor allem eine Entpolitisierung, also die Verhinderung einer öffentlichen Debatte um die grundlegenden Voraussetzungen der gesellschaftlichen Entwicklung.“ (Holm 2010, 49)

„Am Ende verbleibt der Eindruck: Gut ist, was die vorgegebene Planung nicht stört.“ (Lüttringhaus 2000, 97)

Zudem zeigt sich, dass die Möglichkeiten zur Partizipation überwiegend von Angehörigen der Mittelschicht wahrgenommen werden; unorganisierte Interessen von Einzelnen und Unterprivilegierten werden hingegen kaum gefördert. Besonders die A-Gruppen (Alte, Ausländer, Arbeitslose) gelten als partizipationsfremd. Durch ihre bereits bestehende soziale und räumliche Segregation verschlechtern sich auch ihre Chancen der Beteiligungsmöglichkeiten. Eine bewusste Betroffenenaktivierung bleibt aus – unabhängig davon, ob es sich um alte oder neue Formen der Partizipation handelt. Die derzeitigen Strukturen der Partizipation fördern somit eher die Ungleichheit; es engagieren sich die, die es sich leisten können und diese entscheiden dann mit über jene, die nicht können oder gar nicht wollen.

Gefordert sind nun die EinwohnerInnen der Städte und Gemeinden, diesen Trend entweder umzukehren oder in sozialverträgliche Bahnen zu lenken. Dies kann nur durch Beteiligung, durch demokratische Teilhabe an der weiteren Entwicklung der Städte geschehen. Denn der Mensch lebt in der Gesellschaft, nicht neben ihr. „Partizipieren bedeutet somit ganz grundsätzlich, am Geschehen in der jeweiligen Umwelt zusammen mit anderen Menschen teilzuhaben oder kurz: gesellschaftliche Prozesse mitzugestalten. Der Begriff der Partizipation erstreckt sich damit auf alle Lebensbereiche und umfasst die soziale, kulturelle sowie die politische Teilnahme.“ (Lüttringhaus 2000, 19)

Das „Recht auf die Stadt“

Es ist Zeit, sich nach Alternativen zum herrschenden ‚Normalzustand’ umzuschauen. Unter dem Eindruck der Krise der Städte in den 1970er Jahren, dem normierten Dasein der Menschen in funktionalistischen Städten, dem westlichen Imperialismus dieser Zeit, entwickelte Henri Lefebvre bereits in den frühen 1970er Jahren das ‚Recht auf die Stadt‘, (Lefebvre 1973) und verstand darunter „das Recht, nicht in einen Raum abgedrängt zu werden, der bloß zum Zweck der Diskriminierung produziert wurde.“ (Schmid 2011, 26) Das ‚Recht auf die Stadt‘ bezieht sich dabei auf die Teilhabe am urbanen Leben, auf die Orte des Treffens, um einen ganzheitlichen Gebrauch dieser Orte: „Es lässt sich nur als das Recht auf ein transformiertes, erneuertes urbanes Leben formulieren.“ (ebd., 27) Lefebvre erweiterte dieses Recht auf bekannte Grundbedürfnisse um die spezifisch städtischen Qualitäten, Ressourcenzugang für alle und die Möglichkeit, alternative Lebensentwürfe angehen zu dürfen.

Auch wenn heute eine andere Situation herrscht als zu der Zeit, in der Lefebvre sein ‚Recht auf die Stadt‘ formulierte, so ist es doch aktueller denn je. Drei Tendenzen stechen dabei hervor:

  • Im Vordergrund stehen wieder grundlegende Bedürfnisse der Menschen, wie Wohnung und Bildung; diese sind in unsicheren Zeiten wie diesen nicht unbedingt garantiert.
  • Das ‚Recht auf die Stadt‘ ist eine Reaktion auf den Rückzug des Staates / der Regierenden aus der Gesellschaft, wichtige Aufgaben werden auf die unterste staatliche Ebene übertragen: „Dies hat nicht nur zu einer neuen Bedeutung des Lokalen, sondern auch zu verstärkter Fragmentierung, Segregation und Ungleichheit geführt.“ (ebd., 46)
  • Diese Zersplitterung der Stadt führt zu neuen, bisher nicht gekannten Allianzen, die aus einem anfänglichen Pragmatismus heraus neue urbane Gesellschaftsentwürfe denken und leben können. (ebd.)

„Bereits vor über einem Jahrzehnt hat John Friedmann in seinem Text »The right to the city« konstatiert: »A city can truly be called a city only when its streets belong to the people« (…). Lefebvre ging noch einen Schritt weiter und forderte eine allgemeine Selbstverwaltung. Letztlich wird damit unter neuen Vorzeichen ein altes Selbstbestimmungsrecht eingefordert, das erst eine andere Gesellschaft ermöglichen kann.“ (ebd. 46f.)

Die Stadtpolitik soll wieder politisiert werden; Angelegenheiten, von denen alle betroffen sind, sollen öffentlich verhandelt werden. Peter Marcuse unterscheidet daher zwei Arten des ‘Rechts auf die Stadt’ und bildet daraus zwei Gruppen. Er versteht das ‘Recht auf die Stadt’ einerseits als Forderung der Menschen, „deren elementarste materielle Bedürfnisse nicht befriedigt werden“, und als Aufruf von den Menschen, „die zwar oberflächlich integriert aber entfremdet sind.“ (zitiert nach ebd., 12) Das Besondere am ‘Recht auf die Stadt’ ist auch, dass es ein sehr flexibles Konzept ist und unterschiedlich interpretiert und genutzt wird.

„Doch hinter der scheinbaren Beliebigkeit lassen sich verschiedene Grundperspektiven erkennen, die in fast allen Bezügen zum Recht auf die Stadt (…) aufgegriffen oder zumindest anerkannt werden. Das Recht auf die Stadt ist erstens eine Chiffre für eine an Lefebvre orientierte Perspektive auf die Stadt, es bietet zweitens Projektionsmöglichkeiten für gegenhegemoniale Visionen der Stadtentwicklung, es wird drittens als Sammelbegriff für realpolitische Forderungskataloge verstanden und steht viertens für einen spezifischen, eher horizontalen Organisierungsansatz sozialer Bewegungen.“ (ebd., 13)

Gerade der letztgenannte Punkt geht über die bisherige Form der Mobilisierung sozialer und städtischer Bewegungen hinaus. Er vermittelt einen emanzipativen Weg für neue Koalitionen, wie er insbesondere in der Geschichte der deutschen Protestbewegungen bisher nicht gegangen wurde.

Die Beobachtung der gegenwärtigen ‚Recht auf Stadt‘-Bewegung in Deutschland zeigt aber auch eine bestimmte Problematik auf: Die Bewegung ist zwar heterogen, doch setzt sie sich hauptsächlich aus dem linksalternativen Milieu zusammen, mit einem starken Bezug zur Mittelklasse. Diese soziale Zusammensetzung sollte sich dahingehend noch ändern, dass wirklich ein breiteres Spektrum städtischen Lebens und Protests abgebildet wird. So ist das ‚Recht auf die Stadt‘ gleichzeitig auch als eine Forderung an die Bewegung selbst zu verstehen, sich weiter zu entwickeln und dem eigenen Anspruch gerecht zu werden. (Vgl. Holm / Gebhardt 2011, 11f.)

Für die alltägliche Praxis der urbanen Protestbewegungen bedeutet dies, die Theorie, wie es Lefebvre sagte, in die Praxis einzutauchen. Ausgangspunkt ist der Alltag, und diesen zu verändern ist nichts anderes als Revolution. Oder mit Worten aus dem Memorandum „Auf dem Weg zu einer nationalen Stadtentwicklungspolitik“ des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: „Jeder und jede muss vor Ort Chancen finden und nutzen können, um in eigener Verantwortung eigene Lebensentwürfe zu verwirklichen. (…) Die Entwicklung der Städte als Ausdruck gesellschaftlichen Wandels wahrzunehmen und sie durch transparente Verfahren in produktiver Kooperation unterschiedlichster Akteure steuern zu lernen: Dies sollte im Selbstverständnis einer Zivilgesellschaft eine Gemeinschaftsaufgabe von höchstem Rang sein – eine Gemeinschaftsaufgabe, die weder den gerade politisch oder wirtschaftlich Mächtigen noch einer technokratischen Funktionselite überlassen werden darf.“ (Durth 2007, 10)

Zusammen mit anderen engagierten Bewohnerinnen und Gruppen versuchen Initiativen und Vereine wie DuIY und Mustermensch e. V., frei nach der vierten Perspektive der horizontalen Bündnisse ((Vgl. http://www.ruhrbarone.de/besetzung-duisburg-laar-hundertschaft-in-voller-montur-vor-ort/.)), neue Strategien ‚von unten‘ zu erproben und die spezifischen Missstände in Duisburg anzugehen. Es wird sich zeigen, wie lange Stadt und Verwaltung den Begriff Freiraum weiterhin nur einseitig im stadtplanerischen Sinne als unbebaute Grünfläche auslegen können. Dass ein Freiraum auch kultureller oder sozialer Art sein und ein selbstbestimmteres Leben in der Stadt ermöglichen kann, bündelt sich in der Forderung nach einem Ort für basisdemokratisch organisierte Kultur und Politik. An der Ermöglichung des Selbigen oder dem Verharren bei der temporären Bereitstellung von Räumen zum Tanzen wird sich zumindest teilweise der Erfolg messen lassen. Wie sich aber die Initiative für ein selbstverwaltetes sozio-kulturelles Zentrum entwickelt, bleibt abzuwarten. Aus welcher Perspektive man diese heterogene Protestbewegung auch beleuchtet, es wird (noch) nicht ganz klar, ob sie ein Stück vom Kuchen oder die ganze Bäckerei, das Kuchenrezept von Grund auf ändern oder einfach nur beim Backen in Ruhe gelassen werden will und wie sich Stadtpolitik und Verwaltung zu ihr in Zukunft verhalten.

Literatur

Betz, Gregor 2010: Das Ruhrgebiet – europäische Stadt im Werden? Strukturwandel und Governance durch die Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010, in: Frey, Oliver / Koch, Florian: Die Zukunft der Europäischen Stadt, 324-342.

Claßen, Ludger 1989: „… uns selbst eine kulturelle, politische Heimat zu schaffen…“ Das Eschhaus Duisburg, in: Claßen, Ludger / Krüger, Heinz-Hermann / Thole, Werner: In Zechen, Bahnhöfen und Lagerhallen. Zwischen Politik und Kommerz – soziokulturelle Zentren in Nordrhein-Westfalen, Essen, 39-59.

Durth, Werner 2007: Vortrag anlässlich der Verleihung des Deutschen Städtebaupreises am 11.11.2006 in der Akademie der Künste, Berlin, zitiert nach: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung / Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hg.): Auf dem Weg zu einer nationalen Stadtentwicklungspolitik – Memorandum, Berlin.

Frey, Oliver / Koch, Florian 2011: Die Zukunft der Europäischen Stadt: Stadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel. Wiesbaden.

Glock, Birgit 2006: Stadtpolitik in schrumpfenden Städten. Duisburg und Leipzig im Vergleich, Wiesbaden.

Häußermann, Hartmut u.a 2008.: Stadtpolitik, Frankfurt a. M.

Holm, Andrej 2010: Wir bleiben alle! Gentrifizierung – Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung. Münster.

Holm, Andrej / Gebhardt, Dirk 2011: Initiativen für ein Recht auf Stadt. in: Holm, Andrej / Gebhardt, Dirk (Hg.): Initiativen für ein Recht auf Stadt. Theorie und Praxis städtischer Aneignungen. Hamburg, 7-23.

Koch, Florian 2010: Die europäische Stadt in Transformation. Stadtplanung und Stadtentwicklungspolitik im postsozialistischen Warschau, Wiesbaden.

Lefebvre, Henri 1973: Le droit à la ville. Paris.

Lüttringhaus, Maria 2000: Stadtentwicklung und Partizipation. Fallstudien aus Essen-Katernberg und der Dresdner Äußeren Neustadt, Bonn.

Pachaly, Christina 2008: Kulturhauptstadt Europas Ruhr 2010. Ein Festival als Instrument der Stadtentwicklung, Berlin 2008, http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2008/1868/pdf/Graue_Reihe_Heft_12_Kulturhauptstadt_Ruhr_2010.pdf (Abruf 18.6.2012).

Schmid, Christian 2011: Henri Lefebvre und das Recht auf die Stadt. in: Holm, Andrej / Gebhardt, Dirk (Hrsg.): Initiativen für ein Recht auf Stadt. Theorie und Praxis städtischer Aneignungen. Hamburg, 25-51.

Schneider, Herbert 1997: Stadtentwicklung als politischer Prozeß, Stadtentwicklungsstrategien in Heidelberg, Wuppertal, Dresden und Trier, Opladen.