Krise des Kapitalismus und Suche nach Alternativen

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Ein Tagungsbericht von Wolfgang Kastrup. Erschienen in DISS-Journal 23 (2012), 31-32 ((Eine ungekürzte Version dieses Artikels mit Berichten zu allen Referaten dieser Tagung ist abrufbar im DISSkursiv Blog.))

Das Thema der 22. Jahrestagung der Loccumer Initiative Kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lautete: „Solidarische Ökonomie und Selbstverwaltungsgesellschaft – von alternativen Ökonomien zur ökonomischen Alternative zum Kapitalismus“. Die Tagung fand vom 30.03. bis zum 01.04.2012 in Bremen statt, in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Initiative e.V., der Rosa-Luxemburg-Stiftung Bremen und dem DGB Bremen/Elbe-Weser. Das Tagungsthema war eine Reaktion auf die weltweite Finanzkrise und die dadurch aufkommenden Diskussionen um Alternativen zum Kapitalismus. Es hatte den Anspruch, sich mit Fragen einer Demokratisierung der Wirtschaft, mit der genossenschaftlichen Tradition alternativer Betriebe und der solidarischen Ökonomie zu beschäftigen und Reflexionen jenseits der bislang gescheiterten Sozialismuskonzeptionen zu initiieren.

Dr. Gisela Notz (Berlin) referierte über Erfahrungen mit alternativen Betrieben in Deutschland. Sie definierte alternative Wirtschaft als einen Übergangsbereich zwischen der marktorientierten  kapitalistischen Wirtschaft, dem öffentlichen Produktions- und Dienstleistungssektor und der so genannten informellen Ökonomie. Weil Unterschiedliches unter dem Terminus alternative Betriebe subsumiert werde, lägen die Schätzungen in Deutschland zwischen 3000 und 12000 Betrieben mit bis zu 25000 bis 100000 Beschäftigten. Grundsätzlich gelte, dass diese Betriebe selbstverwaltet und nicht hierarchisch organisiert seien, sinnvolle Produkte und Dienstleistungen herstellten, kein privates Eigentum vorläge, gleiche Löhne für gleiche Arbeit gezahlt würden und möglichst keine Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit bestehe. Von den in den 1970er und 1980er Jahren gegründeten Betrieben bestünden noch einige und Neugründungen gebe es vor allem in Berlin. Kommunen seien am weitesten, da sie Leben und Arbeit verbinden. Die Bandbreite der Betriebe erstrecke sich von Druckereien, Buchläden, Theaterprojekten, Teestuben, Umzugskollektiven, Naturkostläden bis hin zu den neuen Frauenläden. Auch die TAZ und die Arbeiterselbsthilfe in Oberursel seien als alternative Betriebe gegründet worden. Von den Gewerkschaften würden sie als romantische Nischen nicht ernst genommen und von den privaten Unternehmern als unlautere Konkurrenz abgelehnt. Als Probleme sieht sie, dass informelle Hierarchien oft schwieriger zu durchschauen und abzubauen seien und dass für Neumitglieder oftmals Beteiligungsdefizite vorlägen. Zwei Drittel aller Betriebe seien nach 10 Jahren noch vorhanden und viele Projekte liefen gut. Kapitalmangel sei der häufigste Grund für die Transformation in private Betriebe. Der oftmals geäußerten Kritik an der Selbstausbeutung stellte sie die Fremdausbeutung entgegen. Macht und Ausbeutung müssten grundsätzlich in Frage gestellt werden, um anders zu arbeiten und besser zu leben.

Die internationale Sichtweise auf solidarische Ökonomien vermittelte anschließend Frau Prof. Dr. Clarita Müller-Plantenberg (Kassel) mit ihrem Thema Selbstverwaltete Produktions- und Verbrauchsketten und universitäre Unterstützungsstrukturen.

Sie machte deutlich, dass bestehende solidarische Ökonomien als Beschäftigungsübernahmen Antworten seien auf Insolvenzen; auf Konzentrationsprozesse reagierten sie durch den Zusammenschluss in Netzen und Ketten, auf Marginalisierung und Arbeitslosigkeit durch solidarische Ernährungs- und Energieversorgungsunternehmen und auf das Ausbluten von Regionen durch die Nutzung regionaler Potentiale und eigener Fertigkeiten. Es gebe vier Charakteristika solidarischer Wirtschaftsunternehmen: 1. Selbstverwaltung, 2. Kooperation, 3. Solidarität mit der Gesellschaft, 4. Ökologie.

Diese gehörten auch zum Leitbild der solidarischen Ökonomie in Brasilien, woran sich die solidarökonomischen Bewegungen weltweit überwiegend orientierten. In Brasilien sei man am weitesten, aber auch in Ecuador, Bolivien, Venezuela, Argentinien und Mexiko gebe es solidarische Ökonomien. Obwohl es verschiedene Organisationsformen gebe, seien Genossenschaften die in vielen Kettengliedern (u.a. Textil, Landwirtschaft, erneuerbare Energien) bevorzugte Form. Genossenschaften seien der Motor einer endogenen, regionalen Entwicklung. Justa Trama (Brasilien) als Beispiel wurde 2005 gegründet, die ökologische Behandlung der Baumwolle begann, und die Kette (ökologische Baumwollproduktion, Spinnerei und Weberei, Fertigung und Verkauf) erarbeitete ein System für faire Preisgestaltung. In Brasilien hätten sich Foren auf regionaler und nationaler Ebene gebildet, und es gebe sogar ein eigenes Staatssekretariat für solidarische Ökonomie, mit dem Auftrag, diese zu fördern.

Auch in Europa gebe es viele Beispiele, so in Spanien, Italien, Frankreich und auch Deutschland (u.a. in Nordhessen). Am bekanntesten sei sicherlich Mondragon, eine im spanischen Baskenland gelegene Kooperative, in den 1950er Jahren gegründet und heute aus 256 Firmen mit weltweiten Niederlassungen bestehend. Die Aktivitäten umfassten u.a. den Handel und die Hochtechnologe, verbunden mit einer eigenen Universität. Diese universitäre Unterstützung sei bei der Gründungsberatung, der Begleitung und Auswertung der Projekte sowie der Öffentlichkeitsarbeit auf allen Ebenen sehr wichtig. Dies zeigten die universitären Unterstützungen von Justa Trama/ Brasilien und von Ardelaine/ Departement Ardèche, Frankreich. Die politische Dimension dieser Selbstverwaltung ziele auf den Aufbau einer anderen Produktionsweise. Ein Atlas der solidarischen Ökonomien existiere.

In der anschließenden Debatte über die Referate ging es u.a. um die Frage der Finanzierung. Kritisch hieß es: „Geld kam in den Beiträgen überhaupt nicht vor, typisch für die Linke“. Als Erwiderung wurde u.a. die Regenbogenfabrik in Berlin genannt, die nach einem Aufruf über das Internet den notwendigen Betrag von 80000 € für eine Bürgschaft zusammen bekam. In Ardelaine/ Frankreich habe man durch langes Ansparen eine Erfolgsbedingung geschaffen. Die Frage der Finanzierung wurde aber als wichtiger wie schwieriger Bereich gesehen. Begrüßt wurde ein Beschluss des EU-Parlaments, die Finanzierung der Genossenschaftsbanken zu unterstützen. Notwendig wurde zudem  die Gründung eines  Instituts gesehen, um Bereiche der solidarischen Ökonomie zu bündeln, zu beraten und wissenschaftlich zu erforschen. Allerdings, so wurde in der Diskussion betont, müsse diese Pionierarbeit daran gemessen werden, inwieweit sie zur Überwindung der Trennung von Kopf- und Handarbeit beitrage, neue Lebens- und Arbeitsverhältnisse schaffe und eine Bewegung mit initiieren könne. Das Gegenteil seien selbstzufriedene Nischen.

Die Idee der Wirtschaftsdemokratie

Nach diesen eher empirischen Ausführungen über alternative Ökonomien stellte sich dann die Frage der theoretischen Einordnung. Prof. Dr. Alex Demirović (TU Berlin) referierte über Wirtschaftsdemokratie – Konzepte und aktuelle Diskussion. Wirtschaftsdemokratie, ein Begriff aus den Zwanziger Jahren, gehe über heutige Formen der Kontrolle hinaus, erst recht über die heutige Form der Mitbestimmung, denn Betriebsräte seien dem Wohl des Unternehmens verpflichtet, das Streikrecht unterliege dem Tarifrecht. Die Arbeit der Gewerkschaften beschränke sich im Wesentlichen auf die betriebliche Ebene. Die Wirtschaftsdemokratie stelle aber, so Demirović, die Trennung von Politik und Ökonomie in Frage, deshalb sei sie radikal, sie gehe weit über eine reine Betriebsdemokratie hinaus. Sie sei ein allgemeingesellschaftliches Thema, das in der Krise deutlich gemacht werden müsse. Vor allem sei sie kein Thema nur der Gewerkschaften und der Parteien, sondern aller Produzenten und Konsumenten. Und dies sei die entscheidende Frage: Wie können die Produzenten und die Konsumenten zusammen die Wirtschaft kontrollieren und entscheiden? Die Demokratisierung der Demokratie müsse weiter getrieben werden und dürfe nicht politisch behindert werden. Demirović erinnerte an die Kommune-Schrift von Marx: Er habe in der Kommune die territoriale, gesamtgesellschaftliche  Perspektive gesehen, während die Gewerkschaften immer nur die Perspektive des Betriebes gesehen hätten.

Prof. Dr. Michael Krätke (Lancaster) betonte dann in seinem Referat Krise und Zukunft im realexistierenden Kapitalismus, dass die Krise als Chance der Linken gesehen werden könne, Wirtschaftsdemokratie und „Marktsozialismus“ zu thematisieren. Natürlich gebe es keine einfache Patentlösung. Diskutiert werden sollte seiner Meinung nach eine Wirtschaftsdemokratie als Mischung aus betrieblicher Demokratie/ Mitbestimmung, einem Genossenschaftsmodell (alle Mitglieder sind Miteigentümer), einer demokratischen wirtschaftlichen Selbstverwaltung bezüglich Sektoren/ Branchen (Kammern/ Räte) und einer demokratischen gesamtwirtschaftlichen Planung und Lenkung. Eine Politisierung aller wirtschaftlichen Probleme und Entscheidungen sei notwendig. Die aktive Partizipation benötige Zeit, Wirtschaftsdemokratie sei anstrengend, da mehr Rechte und mehr Pflichten auf die Bürger zukämen. Märkte blieben erhalten, eine nichtkapitalistische Marktwirtschaft sei aber denkbar: ohne Arbeitsmärkte, ohne Kapitalmarkt und einer anderen Geld- und Kreditökonomie. Über alles müsse verhandelt und kollektiv entschieden werden. Die Wirtschaft zu übernehmen, bezeichnete Krätke als „freundliche Übernahme“ und betonte den rechtsstaatlichen Charakter einer Wirtschaftsdemokratie. Dies Sozialismus zu nennen, sei nicht notwendig, wohl habe er die Hoffnung auf eine freiere und rationalere Gesellschaft.

Den historisch-politischen Bezug vermittelte Prof. Dr. Michael Buckmiller (Hannover). Er ging in seinem Referat Zum Verhältnis von parlamentarischer und Rätedemokratie vor allem auf das Konzept der Räte bei Karl Korsch (1886 -1961, Mitglied der KPD, 1926 ausgeschlossen) ein. Korsch habe in der Frage der Sozialisierung ein basis- bzw. rätedemokratisches Konzept entwickelt. Eine reine Verstaatlichung habe er wegen der Gefahr bürokratischer Erstarrung abgelehnt. Die kapitalistische Privatwirtschaft sollte vielmehr durch die sozialistische Gemeinwirtschaft ersetzt werden. Es sollte nicht mehr für den Markt, sondern für den Bedarf gewirtschaftet werden. Um diesen zu ermitteln, müsste das Rätesystem, quasi als eine Art Konsumentenorganisation, eine öffentliche Bedarfsfeststellung herbeiführen. Die Arbeiter produzierten in den Betrieben in eigener Verantwortung, konkurrierende Betriebe müssten in Syndikaten zusammengeführt werden. Dieses Rätesystem sollte begleitet werden von einer sozialistischen Schulungsarbeit, einer Erziehung zum Sozialismus. Als Modell gesellschaftlicher Mitbestimmung und Partizipation sei, so Buckmiller, das Rätesystem eine radikale Demokratie, die eine höhere Einbindung der Menschen in gesellschaftliche Entscheidungsprozesse ermögliche. Die Grundprinzipien der Rätedemokratie, die umfassende Demokratisierung, die Formen direkter Demokratie widersprächen im Übrigen nicht dem Grundgesetz.

Insgesamt zeigten die Vorträge der Tagung, dass die kreativen Versuche und Praxen der solidarischen Ökonomien und Selbstverwaltungsgesellschaften durch theoretische Zugriffe einer kritischen Wissenschaft untersucht und begleitet werden müssen. Wenn auch die Referate teilweise zu lang und die Diskussionsmöglichkeiten zu kurz ausfielen, hat die Tagung der Loccumer Initiative sich dem Thema erfolgreich gestellt und neue Perspektiven eröffnet. Die praktischen Projekte und deren wissenschaftliche Begleitung müssen weiterentwickelt werden, um den „Träumen vom besseren Leben“ (Ernst Bloch) ein Stück näher zu kommen. Man darf gespannt sein auf den Band, der zu dieser Tagung in der Reihe der Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erscheinen wird.