„Eine Theorie des kapitalistischen Staates muss die Metamorphosen ihres Gegenstandes kennen.“

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Helmut Kellershohn erklärt, warum es sich lohnt, Poulantzas zu lesen. Erschienen in DISS-Journal 23 (2012), 33-34

Selten stoßen wir auf Bücher, deren Titel als diskrete Aufforderung verstanden werden soll, Autoren zu lesen oder, besser gesagt, neu zu lesen, die bereits tot sind. Bei längst verstorbenen Klassikern erscheint dies angebracht. Lire le Capital, 1968 von Louis Althusser, Etienne Balibar und anderen verfasst, war ein solches Werk. Es fehlte nur das Ausrufezeichen. Unlängst veröffentlichten Lars Bretthauer, Alexander Gallas, John Kannankulam und Ingo Stützle einen Sammelband (Hamburg 2006), der einen Autor zu den ‚Altären’ der Klassiker erhob, der erst ein paar Jahre zuvor gestorben war: Nicos Poulantzas schied 43-jährig im Oktober 1979 durch Freitod aus dem Leben. Der Titel des Buches lautet: Poulantzas lesen.

Nicos Poulantzas, 1936 in Athen geboren, lehrte vor allem in Frankreich, nach 1968 an der Reformuniversität Vincennes, wo auch Foucault und Deleuze unterrichteten. Dieses Zusammentreffen ist nicht uninteressant. Der Marxist Poulantzas arbeitete sich an Theoretikern wie Foucault oder Lacan ab, die die damalige Linke in Westdeutschland, wie Sebastian Reinfeldt schreibt, „überwiegend nur mit spitzen Fingern angefaßt hatte: […] seine Texte sind von ihrem philosophischen Gehalt her Leseprotokolle eines offenen, wenn auch parteiischen Zugangs zu diesen Theorien. Mithilfe von Foucault und Althusser war er in der Lage, sich aus den Erstarrungen des damals etablierten Marxismus zu lösen, zugleich konnte er eine sensible marxistische Kritik an ihnen vortragen.“ (Reinfeldt 2006, 1)

Wider den „formalistischen Theoretizismus“

Poulantzas kritisierte an der damals in Westdeutschland betriebenen sogenannten „Staatsableitungsdebatte“ deren „formalistischen Theoretizismus“. In seinem 1978 erschienenen Hauptwerk zur materialistischen Staatstheorie L’État, le pouvoir, le socialisme, in der deutschen Übersetzung kurz mit Staatstheorie (Hamburg 2002) betitelt, wird dies erläutert: Er meint damit den Ansatz, den Staat allein aus der „ökonomischen Struktur“ des Kapitals abzuleiten und Klassen- und Volkskämpfe und politische Herrschaft nur soweit zu berücksichtigen, „um die sekundären Konkretisierungen und Besonderheiten dieses Staates in der historischen Wirklichkeit erklären zu können“ (155). Diese Trennung übersieht jedoch Poulantzas zufolge, dass der Staat nur in seinen „spezifischen Formen“ existiert, die sich historisch entwickeln und „historischen Transformationen“ (156) unterworfen sind. Die Kämpfe und die politische Herrschaft rücken damit als Kategorien der Staatsanalyse in einer Weise, die er zu klären beabsichtigt, in das Zentrum der Staatstheorie. Anders ausgedrückt: eine Theorie des Staates muss notwendigerweise eine historische Theorie sein. „Wenn diese Theorie auch nicht eine bloße Nach- oder Aufzeichnung der Genealogie des kapitalistischen Staates sein soll, ist sie doch nur möglich, wenn sie die historische Reproduktion dieses Staates bewusst macht: den Staat in den verschiedenen Phasen oder Stadien des Kapitalismus (liberaler Staat, interventionistischer Staat, gegenwärtiger autoritärer Etatismus), die Ausnahmeformen (Faschismus, Miltärdiktaturen, Bonapartismen) und Regierungsformen dieses Staates. Eine Theorie des kapitalistischen Staates muss die Metamorphosen ihres Gegenstandes kennen“ (154).

Poulantzas schließt daran an mit seiner These, dass der kapitalistische Staat nur zu begreifen sei „als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt“ (159; Hervorh. i. Orig.), und das heißt eben auch: in historisch spezifischer Form. Poulantzas, der sich in den 70er Jahren für den Eurokommunismus engagierte, grenzte sich damit gegen zwei staatstheoretische Konzeptionen ab, repräsentiert in der Arbeiterbewegung durch den Marxismus-Leninismus und, auf dem entgegengesetzten Pol, durch die Sozialdemokratie:

  • Die eine Konzeption begreift den „Staat als Sache“, d.h. als Instrument, als „neutrale[s] Werkzeug“ einer „einzigen Klasse oder Fraktion“ (160). Poulantzas kritisiert hier vor allem die marxistisch-leninistische Doktrin vom staatsmonopolistischen Kapitalismus: Die Instrumentalisierung und Manipulierung des Staates durch die Monopole vernachlässige die „eigenständige Materialität des Staates“ (160). Das eigentlich politische Problem werde in der Rolle der Staatsmacht gesehen, die Apparatur des Staates dagegen werde neutralisiert.
  • Die andere Konzeption betrachtet den „Staat als Subjekt“ im Sinne einer „absolut gesetzte[n] Autonomie“ (160). Diese Konzeption verweise auf Hegels Staat als „Vernunftinstanz der bürgerlichen Gesellschaft“, bei Max Weber und der „institutionalistisch-funktionalistischen“ politischen Soziologie (Bürokratie- und Elitemodell) werde sie säkularisiert. In der Sozialdemokratie dominiere die Vorstellung, der Staat sei eine Art „Schiedsrichter zwischen den gesellschaftlichen Klassen“ (162).

Relative Autonomie des Staates

Die beiden kritisierten Auffassungen des Staates implizieren ein bestimmtes Beziehungsmuster zwischen Staat und sozialen Klassen. Poulantzas definiert dieses Beziehungsmuster (besonders zwischen Staat und herrschender Klasse) als äußerlich. Was heißt das?

„Entweder unterwerfen sich die herrschenden Klassen den Staat (als Sache) durch ein Spiel von ‚Einflussnahmen’ und pressure groups oder aber der Staat (als Subjekt) unterwirft sich die herrschenden Klassen. In dieser äußerlichen Beziehung werden Staat und herrschende Klassen immer als in sich begründende Wesenheiten gesehen, die sich frontal gegenüberstehen und von denen jede soviel Macht besitzt wie der anderen fehlt. Dies entspricht einer traditionellen Konzeption, die die Macht in einer Gesellschaft als gegebene Menge ansieht, der Konzeption der Macht als einer Nullsumme. Entweder absorbiert die herrschende Klasse den Staat, indem sie ihn seiner Macht beraubt (Staat als Sache), oder aber der Staat widersteht der herrschenden Klasse und entzieht ihr die Macht zu seinem eigenen Nutzen (Staat als Subjekt …)“ (162; Hervorh. i. Orig.).

Beide Male wird die relative Autonomie des Staates, die Poulantzas immer wieder hervorgehoben hat, aufgelöst: entweder durch die Negation jedweder Autonomie (Staat als Sache) oder durch die Setzung einer absoluten Autonomie (Staat als Subjekt). Beide Auffassungen können „die Etablierung der staatlichen Politik zugunsten der herrschenden Klassen nicht erklären“ (163). Der Staat als Subjekt „kennt“ keine herrschenden Klassen, der Staat als Sache dagegen funktioniert an sich neutral und wird nur durch die Benutzung Gegenstand von Klassenpolitik (dann fragt sich aber: warum bedarf es überhaupt des Staates).

Poulantzas verweist darüberhinaus auf ein weiteres Problem, nämlich das „der internen Widersprüche des Staates“ (162, Hervorh. i. Orig.). In beiden Konzeptionen nämlich erscheint der Staat als „monolithischer Block ohne Risse“. Widersprüche gibt es hier entweder nur als „externe Reibungen (Einflüsse, Pressionen) der Teile und Getriebe der Staatsmaschinerie oder des Staatsinstruments“ von Seiten irgendwelcher Interessengruppen der herrschenden Klasse (Staat als Sache) und sind allenfalls zweitrangig; oder aber es gibt sie nur insofern, als sie sekundär das Funktionieren des Staates als Subjekt durch „Reibungen und Antagonismen zwischen verschiedenen politischen Eliten und bürokratischen Gruppen“ beeinträchtigen. „In einem Fall liegen die Klassenwidersprüche außerhalb des Staates; im anderen liegen die Widersprüche des Staates außerhalb der gesellschaftlichen Klassen.“ (165) Poulantzas dagegen betont: „Die Etablierung der staatlichen Politik muss als Resultante der in die Struktur des Staates (der Staat als Verhältnis) selbst eingeschriebenen Klassenwidersprüche verstanden werden“ (162; Hervorh. i. Orig.) Die Klassenwidersprüche samt der mit ihnen verbundenen Dominanzen und Abhängigkeiten „konstituieren den Staat: Sie liegen in seinem materiellen Gerüst und bauen so seine Organisation auf. Die Politik des Staates ist die Auswirkung ihrer Funktionsweise im Innern des Staates“ (164).

Es gehört zu den Vorzügen von Poulantzas’ Theorie, dass sie weder einen platten Ökonomismus und Instrumentalismus noch einen reinen Politzismus argumentativ vertritt. Im Mittelpunkt steht die „Analyse von Kräftekonstellationen innerhalb der Staatsapparate und der selektiven Repräsentation gesellschaftlicher Interessen […], wodurch der kritischen Auseinandersetzung mit staatlichen Apparaten eine neue theoretische Grundlage gegeben wird.“ (Bretthauer u.a. 2006, 12)

Poulantzas-Literatur

In den letzten Jahren hat das (Re)reading Poulantzas (Clyde W. Barrow) deutlich zugenommen. Man kann von einer regelrechten Poulantzas-Konjunktur sprechen. Einige Beispiele: Neben dem erwähnten Sammelband von Bretthauer u.a. ist hier vor allem die überaus verdienstvolle Arbeit von Alex Demirovic (2007) zu erwähnen, mit der eine Gesamtwürdigung des Beitrages von Poulantzas zur materialistischen Staatstheorie vorliegt. Es handelt sich um eine erheblich erweiterte Auflage seines Buches von 1987. Joachim Hirschs ‚ Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems (2005) verdankt sich nicht zuletzt einer Synthese von Poulantzas und der von diesem kritisierten Staatsableitungsdebatte. Aus der Hirsch-Schule ist vor allem John Kannankulams Arbeit Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus. Zur Staatstheorie von Nicos Poulantzas (2008) zu erwähnen, die sich speziell der von Poulantzas analysierten aktuellen Gestalt des kapitalistischen Staates widmet.

Zwei Sammelbände in der vom Nomos-Verlag herausgegebenen Reihe Staatsverständnisse thematisieren zum einen das Staatsverständnis von Marx (Hirsch/ Kannankulam/ Wissel 2008), zum anderen das von Poulantzas (Demirović/ Adolphs/ Karakayali 2010). Im ersten Band stellt Stephan Adolphs, der übrigens in den 1990er Jahren im DISS-Zusammenhang tätig war – einen anregenden Vergleich zwischen Foucault und Poulantzas vor; im zweiten Band bearbeiten Adolphs und der ebenfalls aus dem DISS-Zusammenhang stammende Serhat Karakayali das Verhältnis von Wissen und Macht bei Poulantzas und untersuchen auch hier die Bezüge zu Foucault.

Adolphs, Stephan 2008: Geschichte der Gouvernementalität oder materialistische Staatstheorie? Michel Foucault und Nicos Poulantzas im Vergleich, in: Hirsch u.a. 2008, S. 180-202

Adolphs, Stephan/ Karakayali, Serhat 2010: Zum Verhältnis von Wissen und Macht in der Staatstheorie von Poulantzas, in: Demirović u.a. 2010, S. 151-172

Bretthauer, Lars/ Gallas, Alexander/ Kannankulam, John/ Stützle, Ingo 2006: Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie, Hamburg: VSA-Verlag

Demirović, Alex 2007: Nicos Poulantzas. Aktualität und Probleme materialistischer Staatstheorie, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Münster: Westfälisches Dampfboot

Demirović, Alex/ Adolphs, Stephan/ Karakayali, Serhat 2010: Das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas. Der Staat als gesellschaftliches Verhältnis [= Staatsverständnisse Bd. 30], Baden-Baden: Nomos

Hirsch, Joachim 2005: Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems, Hamburg: VSA-Verlag

Hirsch, Joachim / Kannankulam, John/ Wissel, Jens 2008: Der Staat der Bürgerlichen Gesellschaft. Zum Staatsverständnis von Karl Marx [= Staatsverständnisse Bd. 18], Baden-Baden: Nomos

Kannankulam, John 2008: Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus. Zur Staatstheorie von Nicos Poulantzas, Hamburg: VSA-Verlag

Poulantzas, Nicos 2002: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Mit einer Einleitung von Alex Demirović, Joachim Hirsch und Bob Jessop, Hamburg: VSA-Verlag

Reinfeldt, Sebastian 2006: Niemals den Klassenkampf vergessen! Poulantzas und Althusser (http://www.episteme.de/htmls/Reinfeldt-Poulantzas-Althusser.html)