Siegfried Jäger rezensiert Sebastian Friedrich (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Die Besprechung ist erschienen in DISS-Journal 22 (2011).
Die Linke habe sich zu Sarrazin kaum bis überhaupt nicht geäußert. So rumort es in den hegemonialen Feuilletons. Das stimmt, wenn es denn überhaupt irgendwie wahr war, ab jetzt nicht mehr. Für genauere und seriösere Analyse, so einem denn daran gelegen ist, bedarf es einer gewissen Zeit. Mit dem soeben erschienenen Sammelband, herausgegeben von Sebastian Friedrich, liegt eine Kritik vor, die tiefschürfend und anregend ist und sich nicht mit dem Bürger Sarrazin allein befasst, sondern seine Ideologie zutiefst in deutscher Geschichte und aktueller bürgerlicher Gesellschaft verankert sieht. Zu Recht!
Wer sich jemals gründlicher mit dem Nationalsozialismus und seinen Vorläufern beschäftigt hat, wer die deutsche Politik nach 1945 und den fortdauernden Antisemitismus und Rassismus verfolgt hat, kann Sarrazin nicht als politischen Unfall verstehen, sondern als Ausdruck einer fortdauernden Biopolitik, kaum unter der Tarnkappe versteckt, die eine Form der Regierung der Bevölkerung darstellt, die mit wirklicher Demokratie nicht viel zu tun hat. In diesem Band, zu dessen Lektüre eine spannende Einleitung des Herausgebers einlädt, das sei noch einmal deutlich gesagt, geht es nicht primär um Sarrazin und seine Person und sein sehr spezifisches Verhältnis zur Wissenschaft, sondern um den aktuellen und historischen Kontext, in dem sein Buch eine derartige Wirkung erzielen konnte.
Die Angst vor einer Bedrohung Deutschlands durch Einwanderung erzeugt neue Rassismen
Sabine Hess wirft ein kritisches Licht auf die wissenschaftliche Wissensproduktion zum Thema Einwanderung der letzten gut 60 Jahre und auf die neuere Integrationsdebatte in Deutschland. Der Normalfall Einwanderung werde durchweg zum Problem hochstilisiert. Vorschläge für alternative Sicht- und Herangehensweisen, so etwa die, Einwanderung und Integration aus dem Blickwinkel der EinwanderInnen zu erforschen, runden diesen Beitrag ab.
Yasemin Shooman notiert, dass Kultur – und beim Antiislamismus auch Religion – in den einflussreichen Medien und der Öffentlichkeit insgesamt einen ähnlichen Stellenwert einnehmen wie dies traditionell der biologistische Rassismus getan hat (und dies teilweise immer noch tut). Zugleich seien als Muslime markierte Menschen und Gruppen als Rassen zurechtkonstruiert worden und als parasitär hypostasiert worden – eben nicht nur von Sarrazin.
Sebastian Friedrich und Hannah Schultes untersuchen den aktuellen Diskurs Einwanderung in hegemonialen Medien (Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung, FAZ/FAS). Es gehe in den untersuchten Zeitungen um das Verständnis von Integration und damit um die Frage: Integriert, vielleicht nur teilweise integriert oder nicht integriert? Rassismus als Integrationshemmnis werde nicht thematisiert. Plakative Portraits von Integrierten und Nicht-Integrierten ersetzen die Analysen. Dabei werde durchaus auf Sarrazin Bezug genommen, die Medienanalysen erbrächten jedoch nicht Neues im Vergleich zu anderen vorliegenden Analysen. So heißt es: „Die gegenwärtigen Repräsentationsformen von Migrant_innen sind geprägt durch ein Gebilde aus herrschendem Integrationsparadigma, der Negierung und Unsichtbarkeit rassistischer Strukturen und Regierung im Sinne einer leistungsorientierten Selbstdisziplinierung bei gleichzeitiger Kontrolle durch Instanzen der Mehrheitsgesellschaft.“
In seinem Beitrag zum „Reflexiven Eurozentrismus“ geht Serhat Karakayali von der von Beobachtung aus, dass in neuere Formen von Rassismus vermeintlich emanzipative Kritiken eingehen und von ihm gleichsam vereinnahmt werden. Gefragt wird, wie und auf welche Weise die einzelnen Merkmale dieses Syndroms miteinander in Beziehung stehen. Reflexivität sei sowohl modus operandi des Syndroms als auch Distinktionskriteriuum des neuen Eurozentrismus, in dem der muslimisch Andere als nichtreflexiv markiert werde. Dieser Zusammenhang wird sowohl macht- und subjekttheoretisch interpretiert. In der Sarrazindebatte werde die Trennlinie zwischen den „fahrlässigen“ und den reflexiven Subjekten vor allem entlang staatlicher Grenzen gezogen: nicht der Grenzen des deutschen Staates, sondern eines sich herausbildenden staatlichen Gebildes namens Europa, dessen Identitätsanrufungen sich nicht mehr auf nationale Kollektive richten, sondern wahlweise auf religiöse Gemeinschaften oder Mentalitäten.
Vassilis Tsianos und Marianne Pieper gehen von der Frage aus, weshalb es diese Debatte um Integration überhaupt gebe. Sie kommen zu dem Ergebnis, es gehe um das Bedrohungspotential durch „Risikopopulationen“. „Gelinge es nicht, ‚die Ausländer’ zu integrieren, seien zukünftig gesellschaftliche Konflikte wie in den französischen Banlieus unvermeidbar.“ (125) Das sei der Grund dafür, dass es in dieser Debatte um die Vermeidung von Ghettos gehe, angebliche Parallelgesellschaften abgelehnt werden und damit eine bestimmte Form von (assimilativer) Integration eingefordert werde; um eine Integration also, bei der es ausschließlich um deutsche Interessen gehe. Sie wollen den Begriff der “biopolitischen Assemblage“ für die Rassismusanalyse fruchtbar machen, als das verschränkte Auftreten von Rassismus mit anderen Diskursen, das aber dazu führe, rassistische Positionen durch scheinbar liberale Argumente zu verschärfen.
Damit liegen hoch interessante Überlegungen vor, die den Auftakt zur weiteren Ausdifferenzierung der Rassismus-Forschung darstellen können. Tsianos und Pieper schlagen als Ausgangspunkt dafür den Begriff der biopolitischen Assemblage vor. Es handle sich dabei um neue (post-)koloniale, antisemitische, und antiislamische Konfigurationen.
Biopolitische Assemblagen
Solche neuen Formen von Rassismus untersucht Juliane Karakayali. Sie diskutiert sie anlässlich der aktuellen Integrationsdebatte am Beispiel neuer Geschlechterpolitiken wie etwa der Förderung der Geburtenzahl bei Akademikerinnen. Ein weiteres bilde die Bereitstellung von Elterngeld. Auf diese Weise werden vorhandene soziale Ungleichheiten zu natürlichen Ungleichheiten umgedeutet. Das geschehe im Rahmen eines neoliberalen Diskurses, der gerade jungen Frauen die Einlösung feministischer Forderungen nach Teilhabe verspreche.
In diesem Horizont versucht Moritz Altenried eine biopolische Erklärung nach Foucault, wie man sie in der gesamten ausschweifenden Debatte um Integration bisher nicht finden konnte. Er begreift Integration als Dispositiv im Sinne Foucaults und zeigt, dass es gar nicht um Integration im eigentlichen Sinne gehe, sondern um einen diskursiven Knotenpunkt, der verschiedene Diskurse miteinander verschränkt: ökonomische, rassistische und nationalistische. Offenbar sieht sich die mit Einwanderung konfrontierte mediopolitische Klasse selbst in einem Notstand, dem sie unter Einbringung bürgerlicher Ideologeme zu begegnen sucht.
Elke Kohlmann erkennt Sarrazins Argumentation mit dem Humankapital als einen Versuch, seinen Rassismus weiterhin in den Vordergrund zu rücken und sieht Sarrazins primäres Anliegen darin, die Kosten, die Einwanderinnen und Arme verursachen, zu senken. Ihm sei jedes Mittel recht, die ökonomisch „Unproduktiven“ ausfindig zu machen. Sie fragt, ob nicht neue analytische Werkzeuge gebraucht werden, weil Sarrazin mit dem Vorwurf Rassismus und Neo-Rassismus nicht wirklich und restlos zu kritisieren sei. Sie zeigt, dass die Ökonomie als vorrangiges Analysemittel für den Lebenswert der Individuen von Sarrazin etabliert wird. Zu fragen sei daher, ob Rassismus und Neorassismus überhaupt angeführt werden sollen, um Sarrazins Argumentation auseinander schrauben zu können. Sarrazin bediene sich ihrer und anderer Mittel möglicherweise nur, um seine Beweisführung zu stützen.
Auf der Suche nach der globalen Macht unter Rückgriff auf verdinglichtes Wissen
Jürgen Link macht darauf aufmerksam, dass Sarrazin zu Mitteln verdinglichter Intelligenz Zuflucht nimmt: Er reduziere Wissen auf quantifizierendes Wissen und primär Mathematik und Naturwissenschaften und Technik (neben einigen ausgewählten sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächern). Zu fragen sei deshalb: Warum dann aber auch noch Goethe?
Verdinglicht sei Sarrazins Auffassung von dominanter Erblichkeit, als ließe sich Intelligenz messen wie Fieber mit dem Thermometer. Auf dem Hintergrund seiner Normalismutheorie zeigt Link, dass es sich bei „Deutschland schafft sich ab“ um ein Manifest des Protonormalismus handelt.
Christoph Butterwegge spricht von einer Sinnkrise des gegenwärtigen Kapitalismus angesichts der Ökonomisierung, Kulturalisierung, Ethnisierung und Biologisierung des Sozialen. Er verweist auf Westerwelles Wohlfahrtsstaatskritik und Sarrazins Hetze gegen den Sozialstaat. Der Neoliberalismus begünstige Standortnationalismus, Sozialdarwinismus und Wohlstandschauwinismus. Das seien ideologische Ablenkungsmanöver der Herrschenden gegenüber den Krisen und eine Gefahr für die Demokratie.
Jörg Kronauer zeigt, dass und weshalb sich Sarrazin um den deutschen Staat sorgt. Sarrazin beklage die mangelnde Gebärfreudigkeit insbesondere der deutschen akademischen Frauen und insgesamt das deutsche Bildungsniveau angesichts des Strebens Deutschlands, eine globale Macht darzustellen. Er greife in eine nationalistische Debatte ein, die zurzeit von den deutschen Eliten geführt werde. Immerhin äußere Sarrazin Zweifel, ob die Form der Demokratie geeignet sei, diesen Missständen zu begegnen.
Nora Räthzel widmet sich Sarrazins Elitekult, was in der bisherigen Debatte kaum aufgegriffen worden sei. Es gehe um die Angst der Eliten vor dem Verlust der ökonomischen, politischen und kulturellen Vorherrschaft im Norden. Sarrazin schüre mit seinen verquasten „Beweisführungen“ diese Angst vor dem globalen Machtverlust. Sie werde auf eine Angst vor dem Süden im Inneren umgelenkt. Als Hilfe werde die Elitebildung angeboten. So entstehe eine doppelte Ermächtigungsphantasie, mit der die Angst vor dem globalen Machtverlust verdrängt werden kann.
Phantasievoll auf die Schüppe nehmen: Interventionen und Perspektiven
Charlotte Misselwitz möchte den Spieß auf intelligente und humorvolle Weise umdrehen und mit Diskurstaktiken wie Zuspitzungen, Umkehrungen, Ironisierung etc. gegen „die Gesellschaftsgruppe Sarrazin und Banker“, die sie als Parasiten bezeichnet, kritisch vorgehen. Sie nennt dieses Verfahren auch „narrative Spiegelung“. Die Parasiten sollen nicht allein durch bestimmte Zuschreibungen entlarvt werden, sondern durch die Anwendung solcher Zuschreibungen auf sich selbst, was dann Humor sei. Das sei besser als nur rationale Argumentation, die deshalb wenig nütze, weil einmal übernommene Vorurteile durch sachliche Korrektive kaum zu brechen seien, da diese keine emotionale Wirkung hätten. Erst wenn das Denken mit dem Gefühl einhergehe, komme es zur Einsicht. Das ist ein Beispiel für eine Diskurstaktik, die die Position Sarrazins klar benennt, den Spieß des Bezeichneten gegen den Bezeichnenden umkehrt. So kann gezeigt werden, wer die wirklichen Schmarotzer und Parasiten sind und wie überspitzt und unwissend die vorgetragene Kritik sei.
Gabriel Kuhn und Regina Wamper nehmen die Diskussion um Meinungs- und Pressefreiheit auf. Sie argumentieren, es gehe dabei um die Grenzen und zugleich um die Verteidigung der Meinungsfreiheit. Insbesondere die Rechte fordere sie, um alles unverantwortlich herausschreien zu können. Die Rechte sehe immer dann die Meinungsfreiheit in Gefahr bzw. abgeschafft, wenn rassistische, sexistische, antisemitische, klassistische oder andere ausgrenzende Diskurse in Frage gestellt werden.
Fazit: Diabolisches Geschwätz
Man wird diesem Buch mit seinen 16 Artikeln von meistenteils recht jungen AutorInnen nicht in jedem Punkt zustimmen wollen. Doch es leistet einen wichtigen und äußerst verdienstvollen Beitrag, der die leidige Debatte um Integration auf einen neue Stufe führen wird. Es entlarvt diesen Diskurs als diabolisches Geschwätz.
Die Frage, wie es zu diesem Sarrazin-Hype angesichts der Tatsache, dass dieser eigentlich nichts Neues sagt, kommen konnte, lässt sich nur beantworten, wenn man die Strategie dieses Diskurses herausarbeitet, also die Frage beantwortet, worauf sich dieser Diskurs stützt und worauf „er“ (also dieser Diskurs) hinaus will: Herrschaft. Sarrazin verbindet seine auf den ersten Blick nur populistische Kritik an den Nutzlosen, die er auch schlicht bei der Bildzeitung abgeschrieben haben könnte, einerseits mit den gängigen Rassismen, greift aber zugleich auf verbreitetes Bildungswissen antiquierter Provenienz zurück, was auch solche Menschen anlockt, die ihr Wissen aus dem 19. Jahrhundert und dem Nationalsozialismus bezogen haben. Er verbindet das (antiquierte) „Wissen“ des zumeist reichen deutschen Bildungsbürgers mit ihrem angeblichen legitimen Anspruch und das Recht auf den Besitz, das Verfügen über Herrschaft. Dieser Diskurs will eine andere Regierung, Demokratie ist ihm fremd. Er plädiert für die einer Elite. Damit erweist sich Sarrazin nur als Sprachrohr eines Diskurses, dem des deutschen Bildungsbürgertums als herrschender Elite, die um ihre Privilegien bangt.
Sebastian Friedrich (Hg.)
Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“
2011 Münster: edition assemblage
262 S., 19,80 Euro