Die Ereignisse um die Cap Anamur zeigen den Bankrott des europäischen Asylrechts an. Von Heiko Kauffmann. Erschienen in DISS-Journal 13 (2004)
Der Versuch von Otto Schily, die Flüchtlingshelfer der Cap Anamur in die Nähe von „Schleppern“ und „Schleusern“ zu rücken und Schiffbrüchige als gesetzesbrecherische, gefährliche „Illegale“ zu kriminalisieren, kennzeichnet nicht nur den Geist und die „Moral“ des deutschen Innenministers, sondern auch die Entwicklung und Verkommenheit der Asylrechtspraxis auf europäischer Ebene. Die Opfer einer verfehlten, repressiven europäischen Asylpolitik, welche die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben, auf Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in seeuntüchtige Boote treibt, und ihre Retter, die sich den Menschenrechten und den Werten von Menschenwürde und Humanität verpflichtet wissen, werden zu „Tätern“ hochstilisiert, welche die Sicherheit Europas gefährden – wahrlich eine skandalöse Umwertung aller Werte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, ausgerechnet aus dem Munde des deutschen „Verfassungs“-Ministers.
Die in Seenot geratenen Flüchtlinge und ihre Retter von der Cap Anamur, die sie vor einem elenden Tod bewahrten, werden vom Innenminister gleichermaßen instrumentalisiert und diffamiert, um die ungeheure Repression der europäischen Staaten und ihre offensichtlichen Rechtsbrüche gegenüber hilflosen Menschen zu rechtfertigen und gleichzeitig zu verschleiern. Die von den Innenministern betriebene Aufrüstung gigantischer Sicherheitsapparate, ein fast undurchdringliches Abwehrsystem, die militärische Grenzsicherung zu Wasser, zu Lande und in der Luft, die „Panzerung“ der Küsten mit Radar, Kriegsschiffen, Aufklärungsflügen, Wachtürmen und Hundestaffeln – finanziert mit Milliarden von Euro- Beträgen –, um der EU Sicherheit zu geben und sie gegen den Terror verteidigen zu können, haben es nicht einmal vermocht, 37 und inzwischen Tausende von Menschen aus Seenot und Lebensgefahr vor dem sicheren Tod zu retten.
Menschen, die mit nichts anderem nach Europa kommen als mit der Hoffnung auf eine gesicherte Lebensperspektive, auf ein Leben in Sicherheit, das ihnen „daheim“ verwehrt wurde. „Sicherheit“, die von den EU-Verfassungsministern und an vorderer Stelle vom deutschen Innenminister Otto Schily pervertiert wird, weil – nach zweierlei Maß gemessen – für Flüchtlinge, für Menschen aus anderen Ländern und anderer Herkunft nicht gilt oder nicht gelten soll, was wir, was die europäischen Werte, was unsere Verfassungen unter „Menschenwürde“ und Menschenrechten verstehen und schützen.
Geht es den europäischen Innenministern überhaupt noch um die Sicherheit von Menschen oder nur noch um die abstrakte Sicherheit von Staaten, wenn sie auf das tausendfache Sterben an Europas Außengrenzen nur mit immer härteren, effizienteren Abschottungs- und Abwehrmaßnahmen reagieren? Nicht nur der Staat, der foltert, verletzt die Menschenrechte. Auch der Staat, der Menschen in Folterstaaten abschiebt oder es zulässt, dass Menschen in Not elend verrecken oder an die Elendsküsten ihrer Heimat zurückgekarrt werden, verletzt die Menschenrechte. Die europäischen Innenminister sind dabei, aus dem einst im finnischen Tampere 1999 von den Staats- und Regierungschefs beschlossenen EU-„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ ein Areal des Zwangs, der Härte und staatlichen Machtsicherung zu schmieden. Dabei scheint den Schilys und Pisanis nicht nur das Gefühl für menschliches Leid und menschliche Sicherheit, sondern auch das Gespür für rechtsstaatliche Maßstäbe im vorgeblichen Kampf gegen den Terror vollends abhanden gekommen zu sein: Schutz von Menschen oder Schutz vor Menschen?
„Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“ (Benjamin Franklin)
Die westliche Freiheit stirbt bereits an ihrer Doppelmoral: Sie stirbt im australischen Wüstenlager WOOMERA, wo auf Hilfe angewiesene Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert sind. Sie stirbt auf Guantanamo, wo Gefangene unter Verstoß des Völkerrechts rechtlos gehalten werden. Sie stirbt an den Küsten des Mittelmeers, wo die Hoffnung vieler Menschen auf Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit qualvoll ertrank. Sie stirbt im Gefängnis von Abu Ghraib im Irak, wo „demokratische“ Befreier als Folterknechte auftraten. Sie stirbt aber auch in den Abschiebehaftanstalten in Deutschland, wo Flüchtlinge, die nichts Strafbares begangen haben, über Monate ihrer Freiheit beraubt und wie Kriminelle behandelt werden. Die Bereitschaft der Politik, im vorgeblichen Kampf gegen den Terror Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit Sicherheitsinteressen unterzuordnen, hat nicht nur zu einer staatlichen Aufrüstung ohnegleichen mit sicherheitsstaatlich immer neu begründeten, vermehrten Eingriffs- und Kontrollbefugnissen gegen Rechte und Freiheiten des Einzelnen und auch zur Einschränkung von Schutzvorkehrungen gegen die Verletzung von Menschenrechten geführt. Es hat sie auch vergessen lassen, dass Flüchtlings- und Menschenrechtsschutz selbst die entscheidenden und überzeugendsten Antworten der Zivilisation auf Terror und Unmenschlichkeit waren und sind.
Die von Otto Schily vorangetriebene und von ihm und seinen Amtskollegen exekutierte, von den gewählten Parlamenten demokratisch nicht legitimierte und kontrollierte Sicherheitspolitik – Sicherheit um jeden Preis – führen nicht nur zu einer Verletzung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten durch Überlagerung von Sicherheitsinteressen. Sie führen zu einem Verlust an Menschlichkeit und begründen die Erosion des Rechtsstaats und der Menschenwürde. Welche Folgen dies haben kann, deuten Guantanamo, Abu Ghraib und die Diskussion über die Zulässigkeit von Folter bereits an. Die Zivilgesellschaft ist gefordert, entschlossen eine fundamentale Rechtsstaatsdebatte zu initiieren, um das Humanitätsverständnis über Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und den geistigen Standort dieser Republik wieder zurecht zu rücken – gegen alle Pervertierungen einer absoluten Sicherheits- und autoritären staatlichen Allmachtspolitik à la Schily und Kollegen!