Kollektivsymbolische Überlegung zur „neuen Weltordnung“ nach George W. Bush. Von Sebastian Kreischer. Erschienen in DISS-Journal 13 (2004)
„Die amerikanische Flagge weht wieder über der Botschaft in Kabul.“ So sprach US-Präsident George W. Bush in seiner State Of The Union Speech, seiner berühmten – oder berüchtigten – Rede zur Lage der Nation, veröffentlicht am 29. Januar 2002, knapp 4 Monate nach 9/11. Die in dieser Rede applizierten Kollektivsymbole sind deutlich, wenn auch nicht vielfältig, aber direkt und mit Wiederholungscharakter. Die Intention ist einfach zu durchschauen. Sie ist tief eingebrannt in die Rede und zeigt auch ihre Wirkung, betrachtet man die in den Text eingefügten Applauszeilen und die in Anschluss an die Rede erfolgte Zustimmung des Senats zum militärischen Haushalt.
Im Kollektivsymbolmodell nach Jürgen Link, mit der die gesellschaftliche Wirklichkeit symbolisch gedeutet wird, wird diese als geschlossenes System kodiert (Abb. 1). Es kann als eine kreisrunde Einheit mit einer linken und rechten Flanke dargestellt werden, mit einem ‚von Parasiten’ bevölkerten Untergrund und adäquat dazu einem Himmel, dem Zielpunkt eines Weges, erfüllt von Licht. Dieses System besitzt nicht nur eine oder mehrere ‚verbündete’ oder verwandte, gleichgesinnte Peripherien, eine Enklave außerhalb des eigenen Systems, sondern auch ein Gegensystem, das ähnlich dem eigenen funktioniert, doch eine konträre Position vertritt. Dieses außerhalb liegende System berührt unser System nicht, treibt doch schließlich ‚unser Herz’, ‚unser Motor’, ‚unser Eigenes’ weiter in Richtung Fortschritt und damit weg vom Gegensystem.
Die amerikanische Flagge, ein Symbol für Freiheit und vor allem Befreiung, wehte zeitweise nicht mehr über Kabul, zeitweise war das zur ‚System-Peripherie’ erklärte Land in denHänden von Terroristen, die heimlich in organisierten Trainingslagern Anschläge auf die ‚zivilisierte’ Welt vorbereiteten. Laut GeorgeW. Bush ist in diesem Land, das laut – zweifelhaften – Aussagen verschiedener Secret Services Terroristen ausbildete und in seinem Kurs offensiv gegen die westliche Welt steuert, der Friede von den alliierten westlichen Streitkräften wiederhergestellt worden. Eigentlich ging es aber wohl eher um die Sicherheit anderer Länder und Nationen: „Amerika und Afghanistan sind jetzt Verbündete gegen den Terror“ (G.W. Bush, 29.01.02). Aus Sicht des US-Präsidenten, der den Einmarsch in Afghanistan befahl, sind Frauen und Kinder wieder frei:
„Das letzte Mal, als wir uns in dieser Kammer trafen, waren Mütter und Töchter Afghanistans Gefangene in ihrem eigenen Heim; es war ihnen verboten, zu arbeiten und zur Schule zu gehen. Heute sind die Frauen frei […]“ (ebd.).
Die Bevölkerung sei auf ihrem Weg zum Frieden diesem nicht nur ein Stück näher gekommen, der beschwerliche Weg werde Dank der Besatzungsmacht erfolgreich bis zum Ende beschritten:
„In vier kurzen Monaten hat unsere Nation […] Menschen vor dem Hungertod bewahrt und ein Land von brutaler Unterdrückung befreit“. (ebd.) Die amerikanische Flagge weht (wieder)!
Doch bevor es dazu kam, galt es, tausende Terroristen, „Parasiten“ (ebd.), gefangen zu nehmen, zu inhaftieren und die Welt von ihnen zu befreien: „Terroristen, die einst Afghanistan besetzten, sitzen nun in Zellen in Guantanamo Bay“. (ebd.) Mit dieser Welt, die es zu befreien gilt, meint US-Präsident George W. Bush die ‚zivilisierte’ Welt, die Welt der Koalitionspartner, eine bedrohte Welt, die zum neuen einheitlichen System wird, zu einem System mit den Vereinigten Staaten als ‚Herz’, als antreibendem ‚Motor’, der dieses System, diese ‚zivilisierte’ Welt, als ‚Brüder’ zur ‚Sonne’ führt:
„[…] die ‚zivilisierte’ Welt steht vor noch nie da gewesenen Gefahren. […] Unsere Fortschritte sind eine Würdigung […] der Entschlossenheit unserer Koalition sowie der Macht des amerikanischen Militärs“. (ebd.)
Einleitend und sich wiederholend im weiteren Verlauf der Rede zur Lage der Nation, besser gesagt, zum Zustand des ‚Herzens der zivilisierten Welt’, wird der Weg beschrieben, den jeder ‚zivilisierte’ und vor allem ‚freie’, oder besser ‚befreite’ Mensch gehen möchte – oder zu gehen gezwungen sein scheint. Er führt aus dem ‚Dunkel’ der Unterdrückung mit Hilfe des ‚Herzens’, der antreibenden Kraft der ‚zivilisierten’ Welt, zum Ziel, zur Freiheit.
Aufgrund der stetigen Wiederholungen dieser Kollektivsymbolik, die sich u.a. auch in der Rede von Präsident Bush auf der USS Abraham Lincoln am 01.05.03 wiederfindet, lässt sich eine Modifikation des Kollektivsymbolikmodells von Jürgen Link vornehmen, die die Blickrichtung der Regierung von George W. Bush auf das neue System, die ‚zivilisierte’ westliche Welt, beschreibt. (Vergleiche Grafik 2).
Das Ziel liegt im Licht. Die Zukunft definiert sich in den Augen des amtierenden US-Präsidenten in Form von Gerechtigkeit und vor allem Freiheit, „freedom“, „liberty“:
„Unsere Sache ist gerecht und wir werden uns weiter für sie einsetzen. […] Die Geschichte hat Amerika und seine Bündnispartner aufgerufen, zu handeln und es ist sowohl unsere Verantwortung als unser Privileg, den Kampf der Freiheit auszutragen. […] weil Freiheit und Gerechtigkeit richtig und wahrhaft und unveränderlich für alle Menschen auf der Welt sind. […] Jetzt hat sich Amerika eine neue Ethik und eine neue Überzeugung zu eigen gemacht: […] eine neue Kultur der Verantwortung. […] Wir möchten eine Nation sein, die ihr übergeordneten Zielen dient. […] Amerika wird eine Führungsrolle übernehmen, indem es die Freiheit und Gerechtigkeit verteidigt […]“ (ebd.)
Orientiert man sich an dem Kollektivsymbolmodell von Jürgen Link zeigt sich, dass nicht ein Land oder Verband, sondern eine ganze ‚Welt’ – eine ‚zivilisierte’ Welt – das System ausfüllt; auch das Gegensystem wird nicht nur von einer einzelnenNation gebildet, sondern von einem Bund aus vielen Gegensystemen – eben der Achse des Bösen.
Diese Achse des Bösen steht nicht für sich alleine, sie kollaboriert mit dem Untergrund, mit den unzähligen Terroristen: „Staaten wie diese und ihre terroristischen Verbündeten stellen eine Achse des Bösen [Iran, Nordkorea, Irak, d.V.] dar, die sich bewaffnet, um den Frieden auf der Welt zu bedrohen“ (ebd.), die wie ‚Parasiten’ das System, die ‚zivilisierte’ Welt und ihr ‚Herz’, die USA, vom dunklen ‚Untergrund’ her offensiv bedrohen: „Die Vereinigten Staaten sind nicht mehr durch riesige Meere geschützt.“ (ebd.) Die Achse des Bösen taucht förmlich in den Untergrund ein, subsumiert den Zustrom an Terror:
„Der Iran strebt aggressiv den Besitz dieser Waffen an [Massenvernichtungswaffen, d.V.] und exportiert den Terror. […] Das irakische Regime plant insgeheim seit über zehn Jahren die Herstellung von Milzbranderregern, Nervengas und Nuklearwaffen.“ (ebd.)
Die sogenannte Befreiung des Iraks ist nun ein (erster?) Schritt gegen das Gegensystem. Ziel ist es, die Achse des Bösen mit Gutem zu unterfüttern, dem Untergrund den Boden zu rauben, die gefangene Bevölkerung zu befreien und so das Terrornetzwerk zu infiltrieren: „Wir nahmen der Al-Qaida einen Verbündeten und kappten eine Quelle terroristischer Unterstützung,“ (George W. Bush, 01.05.03). Das neue, ‚zivilisierte’ System wird somit zur Schlange, die sich in das Gegensystem stiehlt oder besser stealtht – es wird zum Aggressor mit den Methoden des Feindes.
Bezogen auf das Kollektivsymbolmodell erfolgt aber damit eine Umpolung des Konstruktes ‚Gut’ gegen ‚Böse’. Das ‚zivilisierte’ System wird zum aggressiven Untergrund, zur bedrohenden, kämpfenden Kraft. In der Tat, betrachtet man Den Verlauf des „gerechten Krieges“ gegen Unterdrückung, für Freiheit, gegen Terror, für die Sicherheit der ‚zivilisierten’ Welt und ihres ‚Herzens’ und studiert die aktuellen Daten, so zeigt sich, dass die Gefahr gewachsen ist: Mehr Terroranschläge bedrohen die ‚zivilisierte Welt’ und die Peripherien, das ‚vorbildliche’ System, das „Bündnis gegen den Terror“ erfährt zunehmend weniger Akzeptanz im UNO-Sicherheitsrat und in verschiedenen Bevölkerungsteilen, mehr Untergrund baut sich auf.
Die Achse des Bösen mag insWanken gekommen sein, doch der Untergrund, die ‚Parasiten’, die Gefahren und Bedrohungen für die ‚zivilisierte’ Welt, die Freiheit für die Menschen in der Peripherie, ist mehr denn je in Gefahr, das System hat sich sozusagen selbst bekämpft. Es braucht nur eine leichte Verschiebung der systemeigenen, zukunftsweisenden Achse, einen Antrieb in die falsche Richtung, um sich selber dem Unter- und Abgrund näher zu bringen.