Eine Kritik der vergleichenden Genozidforschung

Rezension von Stefan Vennmann Friedländer, Saul/ Frei, Norbert/ Steinbacher, Sybille/ Diner, Dan, 2022: Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust. München: C. H. Beck. 90 Seiten, 12, 00 Euro. ISBN: 978-3-406-78449-1 Das schlanke Bändchen ist eine wissenschaftlich-politische Intervention in die gegenwärtige Debatte um die Singularität der Shoah und die Frage nach der Zulässigkeit des Vergleichs der deutschen Massenverbrechen mit anderen historischen Verbrechen, besonders dem Kolonialismus. Bei den im Band versammelten Texten handelt es sich – mit Ausnahme des Textes von Sybille Steinbacher – um Artikel, die von den Autoren als Diskursinterventionen im Feuilleton großer deutscher Zeitungen publiziert worden sind. Die These, die der Band aufstellt, ist dabei keineswegs eine neue, sondern eine, die ähnlich auch im Historikerstreit 1986 vertreten wurde, nun aber unter aktuellen Konstellationen verhandelt wird. Die postkoloniale…

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Eine wohlwollende, aber eindeutige Kritik postkolonialer Erinnerungstheorie

Rezension von Stefan Vennmann Sznaider, Natan, 2022: Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus München: Hanser 256 Seiten, 24,00 Euro. ISBN: 978-3-446-27296-5 Natan Sznaiders Buch tastet sich primär fragend vor, ob und wenn ja in welchem Verhältnis sich Holocaust und Kolonialismus sowie die Erinnerung an diese historischen Verbrechen zusammendenken lassen können und sollten, aber auch wo theoretischen Grenzen der Überschneidung liegen. Was vor dem Hintergrund der Grabenkämpfe zwischen antisemitismuskritischer Holocaustforschung und postkolonialer Theorie im Zuge der ‚Mbembe-Debatte‘ und des sogenannten ‚Historikerstreit 2.0‘ zunächst wie ein zahnloser Vermittlungsversuch wirkt, an dessen Ende die Erkenntnis steht, man müsse historische Gewaltverbrechen in ihrer eigenen Logik begreifen, ohne sie gegeneinander auszuspielen, ist bei genauerem Hinsehen tiefgründiger. Zwar wohlwollend formuliert, ist das von Sznaider entwickelte Konzept der Fluchtpunkte der Erinnerung vor allem eine Kritik der…

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Die Aporien der sozialwissenschaftlichen Populismusforschung

Rezension von Stefan Vennmann Kolja Möller: Populismus. Ein Reader, Berlin: Suhrkamp 2022, 369 S., 26,00 Euro. ISBN 978-3-518-29940-1 Mit Populismus. Ein Reader legt Kolja Möller einen umfassenden Diskussionsüberblick zur sozialwissenschaftlichen und politiktheoretischen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Populismus vor. Möllers Zusammenstellung ist ein breiter Fundus historischer und moderner Klassiker der Theorien des Populismus.1 Der Band beginnt dabei mit historischen Analysen marxistischer und psychoanalytischer Prägung, die sich auf den italienischen Faschismus, den Nationalsozialismus und die Agitationsversuche US-amerikanischer Faschisten beziehen. Mit diesem historischen Fundament geht der Band weiter durch die Entwicklung der Theorie, nimmt poststrukturalistisch-hegemonietheoretische Versuche, den Populismus zu analysieren und ihn als emanzipatorisches Projekt zu refigurieren, ebenso auf wie neomarxistische, liberale und eher der vergleichenden Politikwissenschaft, der empirischen Demokratie- und Rechtsextremismusforschung entstammende Definitionen von Populismus. Besonders bemerkenswert ist, dass der Band den Spagat zwischen…

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Konservativ-faschistische Konvergenzmomente

Rezension von Stefan Vennmann Natascha Strobl: Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse, Berlin: Suhrkamp 2021, 189 S., 16,00 Euro. ISBN: 978-3-518-12782-7 In ihrem neuen Essayband Radikalisierter Konservatismus untersucht Natascha Strobl – fokussiert auf Donald Trump und Sebastian Kurz als personenbezogener Ausdruck dieser Ideologie – die politische Entwicklung innerhalb des Konservatismus – beschrieben als „antiegalitäre, antirevolutionäre, klassenharmonisierende Haltung, deren höchste Werte Ordnung und Eigentum sind“ (12) – die mehr und mehr faschistische Momente in ihre politische Praxis integriert. Radikalisierter Konservatismus meint auf den Begriff gebracht die mal unbewusste, mal forcierte Übernahme faschistischer Agitationsstrategien innerhalb großer Volksparteien. Radikalisierter Konservatismus ist eine Enthemmung nach rechts, die aber nicht neu, sondern dem Konservatismus ideengeschichtlich inhärent ist (30). Radikalisierter Konservatismus ist „zugleich Bruch und Kontinuität“ (33): Aufkündigung bestimmter politischer Konsense bei gleichzeitiger Radikalisierung einer schon vorher existierenden gesellschaftlichen Entwicklung, die…

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Philosophische Aufarbeitung: Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus

Konitzer, Werner/Bach, Johanna/Palme, David/Balzer, Jonas (Hg.) 2020 Vermeintliche Gründe. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus Frankfurt/M. und New York: Campus, 488 Seiten, 39,95 Euro. ISBN: 978-3-59351-031-6 Rezension von Stefan Vennmann Dass die Frage nach einer genuin nationalsozialistischen Moral und Ethik seit einigen Jahren ein umkämpftes Forschungsfeld bietet, zeigte meine im vorigen DISS-Journal erschienene Rezension zu Lothar Fritzes problematischem Buch Die Moral der Nationalsozialisten. Gegen die relativierenden Versuche dieses Buches bieten die im Folgenden vorgestellten Untersuchungen zu Vermeintlichen Gründe. Ethik und Ethiken des Nationalsozialismus eine andere, völlig abweichende Perspektive. Die Studie folgt den ebenfalls am Fritz Bauer Institut in Frankfurt/M. entstandenen Bänden zur Moralisierung des Rechts (2014) und ‚Arbeit‘, ‚Volk‘, ‚Gemeinschaft‘ (2016). Letzterer trägt mit Ethik und Ethiken des Nationalsozialismus sogar den identischen Untertitel der vorliegenden Studie. Diese ist kein klassischer Sammelband, sondern vereint neben…

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Neue alte falsche Propheten

Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation, Berlin: Suhrkamp 2021, 253 Seiten, 15,00 Euro. ISBN: 978-3-518-58762-1 Rezension von Stefan Vennmann ‚Juden, Kommunisten, Ausländer, Gewerkschaften, Moskau, Washington, Verschwörung, letztlich Satan, Sintflut, Apokalypse‘ – Das sind die zentralen Feindbilder, die Leo Löwenthal in seiner Studie über die amerikanischen faschistischen Agitatoren erkennt. Was Löwenthal an der faschistischen Agitation zu zeigen hofft, ist nicht nur die potenzielle Gefahr einer politischen Bewegung. Die Studie versucht darüber hinaus ein theoretisches Problem zu explizieren, das auch die heutige Autoritarismus-Forschung begleitet. 1949 als Teil der Studies in Prejudice, der bekannten Schriftenreihe des ins Exil gezwungenen Frankfurter Instituts für Sozialforschung, erschienen, erarbeitet Löwenthal aus den Reden und Pamphleten der US-faschistischen Agitatoren eine Fibel gängiger Verschwörungsmythen. Die dargestellten Stereotype vom „Flüchtling“ (88) über den „jüdische[n] Einfluss“ (131) bis hin zu vermeintlichen ‚Volksverrätern‘,…

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Eine moralphilosophische NS-Analyse auf Abwegen

Von Stefan Vennmann Fritze, Lothar 2019: Die Moral der Nationalsozialisten. Reinbek: Lau Verlag 556 Seiten, 38,00 Euro. ISBN: 978-3-95768-204-8 Das Buch hat, anders als der Titel vermuten lässt, sich nicht zu Aufgabe genommen, die Moralvorstellungen der nationalsozialistischen Verbrecher:innen zu ergründen, um ihnen retrospektiv moralische Schuld und Verantwortung sowie die Notwendigkeit historischer Aufarbeitung zuzurechnen. Vielmehr soll die Argumentation mit ihren umfassenden moralphilosophischen Konstruktionen die ‚Rechtfertigungsgründe‘ der Täter:innen untersuchen, mit der sie die Kriegsbereitschaft und die antisemitische Vernichtungspolitik vor dem Hintergrund ihrer Ideologie zu rechtfertigen in der Lage gewesen sind. Was wie eine krude, philosophische Rechtfertigung klingt und wofür die ‚eigenwillige Interpretation‘ der Nazi-Quellen Evidenz liefert. Auch wenn immer wieder darauf insistiert wird, dass die nationalsozialistischen Rechtfertigungsgründe ‚für uns‘ unplausibel, inakzeptabel seien (135) und wir die ‚Mittel‘ der Nazis „an sich für unmoralisch, illegitim oder…

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Zur Bekämpfung des Antiziganismus heute

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Bericht über eine Veranstaltungsreihe des DISS-Arbeitskreises Antiziganismus (Teil 2) Von Stefan Vennmann. Erschienen in DISS-Journal 36 (2018)  In den im April bis Juni 2018 stattgefundenen Vorträgen wurde zu­nächst der Schwerpunkt auf die Genese des Antiziganismus aus der Perspektive verschiedener sozial- und geisteswissenschaftlicher Dis­ziplinen gelegt. In der zweiten Hälfte der Vortragsreihe lag der Fokus auf der Analyse der politischen Praxis. Dabei wurde insbesondere die Situation in Duisburg betrachtet. Joachim Krauß, Arbeitsgruppenleiter Migration bei der AWO Integration in Duisburg, stellte direkt zu Beginn sei­nes Vortrags die Brisanz des Themas in Duisburg heraus. Er verwies darauf, dass auch städtische Vertreter*innen sich in „irgendeiner Form angesprochen fühlen müssen“ und im konkreten Bezug auf städtische Politiken und soziale Missstän­de nicht geschont werden könnten. Krauß problematisierte ein Positions­papier des Deutschen Städtetages aus dem Jahr 2012, in dem vermeintliche ‚Armutszuwanderung‘…

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Zur Bekämpfung des Antiziganismus heute

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Bericht über eine Veranstaltungsreihe des DISS-Arbeitskreises Antiziganismus (Teil 1) von Stefan Vennmann, erschienen in DISS-Journal 35 (2018) Mit Bezug auf den Titel eines 1962 von Theodor W. Adorno gehaltenen Vortrags „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“ hat der Arbeitskreis Antiziganismus im DISS eine Vortragsreihe organisiert, die sich mit der weiterhin existierenden Stigmatisierung vermeintlicher ‚Zigeuner‘ in theoretischer wie praktischer Reflexion auseinandersetzt. Die Reihe fand in Kooperation mit dem „Zentrum für Erinnerungskultur, Demokratie  und Menschenrechte“ und gefördert durch die Amadeu-Antonio-Stiftung und den AStA der Universität Duisburg-Essen statt. Die Vortragsreihe startete im April 2018 am Welt-Roma-Tag mit einer lokalhistorischen Einführung in den Themenkomplex, und zwar anhand einer Rekonstruktion der Biographien der Bürgerrechtlerin Hildegard Lagrenne und des nationalsozialistischen Polizeisekretärs  Wilhelm Helten, der die Deportation von Sinti*ze von Duisburg nach Auschwitz organisierte. Helten wurde nie bestraft und von der…

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Antiziganismus zwischen Revolution und Völkerkunde

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Eine Rezension von Stefan Vennmann, erschienen in DISS-Journal 30 (2015) Wolfgang Wippermann bietet mit seinem neuen Buch Niemand ist ein Zigeuner. Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils eine ausführliche Übersicht zum Themenkomplex des europäischen Antiziganismus an. Er stellt die Geschichte des Antiziganismus vom Mittelalter über die Aufklärungsphilosophie bis hin zur Vernichtung von Sinti_za, Rom_nija und anderen als „Zigeuner“ Stigmatisierten im Nationalsozialismus zusammenfassend dar. Er geht ein auf die verweigerte Wiedergutmachung, die antiziganistische Politik west- und osteuropäischer Staaten sowie auf den Kampf der Selbstorganisationen um Anerkennung und ergänzt seine Darstellung um eine Kritik der historischen Tsiganologie und der gegenwärtigen Antiziganismusforschung. Das Buch ist deshalb besonders interessant, weil es durch eine klar verständliche Sprache, die sich nicht in der Aneinanderreihung wissenschaftlicher Fachbegriffe verliert, auch für solche Personen lesenswert ist, die sich weder mit Antiziganismus noch mit…

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