Bericht über eine Veranstaltungsreihe des DISS-Arbeitskreises Antiziganismus (Teil 2)
Von Stefan Vennmann. Erschienen in DISS-Journal 36 (2018)
In den im April bis Juni 2018 stattgefundenen Vorträgen wurde zunächst der Schwerpunkt auf die Genese des Antiziganismus aus der Perspektive verschiedener sozial- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen gelegt. In der zweiten Hälfte der Vortragsreihe lag der Fokus auf der Analyse der politischen Praxis. Dabei wurde insbesondere die Situation in Duisburg betrachtet.
Joachim Krauß, Arbeitsgruppenleiter Migration bei der AWO Integration in Duisburg, stellte direkt zu Beginn seines Vortrags die Brisanz des Themas in Duisburg heraus. Er verwies darauf, dass auch städtische Vertreter*innen sich in „irgendeiner Form angesprochen fühlen müssen“ und im konkreten Bezug auf städtische Politiken und soziale Missstände nicht geschont werden könnten.
Krauß problematisierte ein Positionspapier des Deutschen Städtetages aus dem Jahr 2012, in dem vermeintliche ‚Armutszuwanderung‘ aus Bulgarien und Rumänien thematisiert wurde. In diesem Papier wurde eine drastische Dramatisierung durch antiziganistische Stereotypen und verfälschte Statistiken erzeugt, so dass sich selbst das Innenministerium zur Kritik an der fehlerhaften Darstellung und Pauschalisierung veranlasst sah. Die ethnisierende Konnotation war besonders dann enthalten, wenn von Rom*nija als Negativfolie zur ‚nützlichen Arbeitsmigration‘ gesprochen wurde. Hier wurde auf die historische Kontinuität verwiesen und die Stigmatisierung der Rom*nija durch das Ordnungsrecht kritisiert, das seit dem Mittelalter von Verfolgungs- und Vernichtungselementen durchzogen war.
Krauß wies darauf hin, dass es in den letzten Jahren zwar journalistische Versuche gab, schlechte Wohn- und Lebensbedingungen anzuklagen, doch durch die Komposition von Text, Überschrift und Bild und die problematische Darstellung von Müll, Dreck und Ungeziefer eher das Gegenteil erreicht wurde. Unter dem Schlagwort der ‚Verwahrlosung des öffentlichen Raumes‘ wird unter dem Vorwand der Brandschutzbekämpfung seitens einer Task-Force der Stadt eine politische Strategie durchgesetzt, bei der die Vertreibung im Vordergrund zu stehen scheint. Den Betroffenen von Räumungen im Zuge von Brandschutzmaßnahmen werden seitens der Stadt keine Angebote für alternativen, nicht-mangelhaften Wohnraum gemacht. Im Ergebnis wirken sich die städtischen Maßnahmen zu Lasten der Betroffenen aus, statt sie vor illegalen Machenschaften krimineller Vermieter*innen zu schützen.
Eine humanitäre Katastrophe
Sylvia Brennemann, aktiv als Kinderkrankenschwester und Elternberaterin im sozialpastoralen Zentrum Petershof in Duisburg-Marxloh, begreift die Situation im Stadtteil nicht als eine ethnisch geprägte, sondern als eine durch Armut hervorgebrachte. In diesem Sinne sprach sie von einer „neuen Hierarchie der Armut“, in der Rom*nija auf die unterste Stufe gestellt werden. Auch dann, wenn die Betroffenen rechtlich in einer guten Situation sind, fehlt die Möglichkeit der juristischen Durchsetzung berechtigter Ansprüche. Wo sogar Geld für Fahrten zum Jobcenter im Duisburger Süden fehlt, stellen anfallende Anwalts- und Gerichtskosten eine unüberwindbare finanzielle Hürde dar.
Beim politischen Vorgehen gegen die Betroffenen werde deutlich, dass die Stadt auf eine offensive Vertreibungsstrategie setze. Kritisiert wurden die kriminellen Vermieter*innen, die für die Vermietung von Wohnraum in unzumutbarem Zustand und das gewalttätige Eintreiben der Mieten in bar nicht juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Die Betroffenen sind gezwungen, sich abseits von Arbeitsverträgen, Arbeitsschutz und Tarifsicherung von Unternehmen systematisch ausbeuten zu lassen; weit über zehntausend Duisburger*innen in Armut sind von jeglicher Krankenversicherung ausgeschlossen. Aus der Erfahrung berichtete Sylvia Brennemann, wie schwer es ist, bei Geburten ein Krankenhaus zu finden, das Entbindungen durchführt, da die Betroffenen ohne Krankenversicherung von vornherein abgewiesen werden. Erschütternd war die Schilderung, dass Mütter aus bitterster Not gezwungen sind, ihre Säuglinge mit Zuckerwasser zu füttern, um eine minimale Versorgung mit Nährstoffen zu gewährleisten.
Die Duisburger Stadtverwaltung unternimmt gegen diese Missstände nichts und entzieht sich der Verantwortung. Aktive, Sozialarbeiter*innen und ehrenamtliche Helfer*innen bemühen sich, existenzsichernde Leistungen zur Verfügung zu stellen, dennoch sind sie Anfeindungen ausgesetzt, da sie durch ihre humanitäre Arbeit „Migranten regelrecht anlocken“ würden. Tatsächlich stellt die im Sozialpastoralen Zentrum Petershof geleistete Arbeit nur ein Minimum dar, das für die Betroffenen freilich existenziell notwendig ist. Die Diffamierung ehrenamtlicher Hilfe als „Migrationsmagnet“ verdreht dabei die Tatsachen.
Viele der berichteten Erlebnisse und Erfahrungen waren erschreckend, doch gab es auch positive Botschaften. Zum ersten Mal haben sich Betroffene der Vertreibungs- und Ausgrenzungspolitik zusammengeschlossen und bilden einen selbstorganisierten Widerstand.
Merfin Demir ist Gründer der interkulturellen Jugendorganisation Terno Drom e.V. Sein Vortrag bildete den Abschluss der Reihe und führte viele der Fäden, die in den vorherigen Vorträgen zu finden waren, zusammen. Er ging von der sozialen Konstruktion antiziganistischer Ressentiments aus, die insbesondere durch die europäische Kolonialgeschichte geprägt sind. Ausgehend von der auf Sklaverei basierenden politischen Ordnung der Antike schlug er einen Bogen zum Antiziganismus der Gegenwart. Diese Ordnung hat in der jüngeren Geschichte der Kolonialismus perfektioniert.
Merfin Demirs These war dabei, dass sich Parallelen zwischen der Versklavung der Afrikaner*innen durch die europäischen Kolonialmächte und der Versklavung der Rom*nija auf dem Gebiet des heutigen Rumänien aufzeigen lassen. Die Parallelen finden sich auch in den Stereotypen gegenüber den Versklavten: Homogenisierung von Eigenschaften, Unterstellung von Primitivität, Naivität und Hilfsbedürftigkeit sowie Bevormundung in der Selbstdefinition, indem kulturelle Aspekte und Praktiken nicht von den Betroffenen selbst, sondern von den Sklavenhalter*innen definiert wurden. Ab den 1970er Jahren formierte sich gegen diese Formen der Unterdrückung politischer Protest seitens Rom*nija, der durch die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung inspiriert wurde.
In dem Vortrag wurde auf die Analogien und Differenzen von Antisemitismus und Antiziganismus eingegangen und dargestellt, dass beide ausgegrenzten Gruppen – bei allen Unterschieden – als parasitär und für die Gesellschaft unproduktiv stigmatisiert wurden. Ohne Kritik des Neoliberalismus kann Antiziganismus nicht treffend benannt werden. Merfin Demir sieht einen Zusammenhang zwischen der Finanzkrise und einer Zunahme an rassistischen Ressentiments. Im Kontext neoliberaler Vergesellschaftung, die durch Entsolidarisierung und zunehmende Unsicherheiten geprägt ist, wird die gesellschaftliche Krisenhaftigkeit auf vermeintliche ‚Sündeböcke‘ projiziert. Antisemitismus und Antiziganismus zeigen sich aus der historischen Erfahrung heraus als geeignete Projektionsflächen.
Dieser Tendenz zur Ethnisierung sozialer und ökonomischer Fragen müsse mit institutionellen und praktischen Mitteln begegnet werden, etwa mit einer europaweiten Antirassismus-Strategie, die Vorurteile, Ethnisierung und Zugangsbarrieren effektiv bekämpfen kann. Zu diesem Zweck sei es aber ebenso notwendig, nicht nur rassistisches Wissen der ‚Dominanzgesellschaft‘ zu problematisieren, sondern auch zum Empowerment der Betroffenen beizutragen, das zum Beispiel über intensive Jugendarbeit und die Unterstützung von Rom*nija in für sie lebensrelevanten Fragen erreicht werden kann.
Stefan Vennmann, M.A., promoviert am Institut für Philosophie der Universität Duisburg-Essen und ist seit 2013 Mitarbeiter im Arbeitskreis Antiziganismus im DISS.