Rezension von Stefan Vennmann
Kolja Möller: Populismus. Ein Reader, Berlin: Suhrkamp 2022, 369 S., 26,00 Euro. ISBN 978-3-518-29940-1
Mit Populismus. Ein Reader legt Kolja Möller einen umfassenden Diskussionsüberblick zur sozialwissenschaftlichen und politiktheoretischen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Populismus vor. Möllers Zusammenstellung ist ein breiter Fundus historischer und moderner Klassiker der Theorien des Populismus.1 Der Band beginnt dabei mit historischen Analysen marxistischer und psychoanalytischer Prägung, die sich auf den italienischen Faschismus, den Nationalsozialismus und die Agitationsversuche US-amerikanischer Faschisten beziehen. Mit diesem historischen Fundament geht der Band weiter durch die Entwicklung der Theorie, nimmt poststrukturalistisch-hegemonietheoretische Versuche, den Populismus zu analysieren und ihn als emanzipatorisches Projekt zu refigurieren, ebenso auf wie neomarxistische, liberale und eher der vergleichenden Politikwissenschaft, der empirischen Demokratie- und Rechtsextremismusforschung entstammende Definitionen von Populismus. Besonders bemerkenswert ist, dass der Band den Spagat zwischen Klassikern unterschiedlicher Denktraditionen und neuesten Einschätzungen populistischer Mobilisierung schafft, die anders als die Klassiker auf die hervorstechenden, gesellschaftlichen Krisenmomente seit der Jahrtausendwende eingehen – die Finanzkrise 2008 und der Sommer der Migration 2015. Möller spricht in diesem Zusammenhang von einer „weltweiten Welle des Rechtspopulismus“ (37), unterschlägt aber keineswegs auch die vermehrte Hinwendung zu einer populistischen Politik von links.
Doch Populismus ist der Idee nach selbstverständlich viel älter, es handelt sich um ein Phänomen, das „die Politik schon immer begleitet hat“ (16), von der römischen Antike, über Machiavellis Florenz bis in die Gegenwart. Diese Diagnose unterfüttert Möller in seiner Einleitung in den Band, indem er die laufende Diskussion kommentiert, Grundlagen der Geschichte des Populismus sowie für seine Analyse und Kritik grundlegende Begriffe klärt: Souveränität, Demokratie, Volk und Elite und die unterschiedlichen (oder doch ähnlichen) Bezugnahmen auf jene durch linke und rechte Populismen.
Die Zusammenstellung der Texte, die sich in der disziplinären Breite hervorragend für Studium und universitäre Lehre in den Politik- und Sozialwissenschaften eignet, soll folgend nicht kommentiert werden, müsste doch eine willkürliche Auswahl getroffen werden. Die Texte sprechen in ihrer Position meist eine eindeutige Sprache. Daher soll der Fokus auf die Einleitung gerichtet werden, anhand derer sich der Stand der Debatte um Begriff und Theorie des Populismus rekonstruieren lässt. Gleichzeitig können aus der inhaltlichen Ausrichtung der Einleitung heraus auch Probleme lokalisiert werden, die dem gegenwärtig dominierenden Strang der Theorie des Populismus anhaften. Viele Aspekte sind innerhalb dieses Strangs, sicherlich berechtigt, zu diskutieren, dies bringt Fortschritte in jener Theoriebildung. Dennoch scheint in der hier vollzogenen theoretischen Verteidigung des Populismus als Politikform der Emanzipation auch ein praktisches, politisches Problem zu liegen. Nämlich, dass Emanzipation nur noch als (linker) Populismus vorgestellt und dessen immanente Problematik als der Emanzipation nicht hinderlich ausgegeben wird.
Volk gegen Elite, Freund gegen Feind oder die Reproduktion des Immergleichen
Grundlegend lassen sich zwei Formen von Populismus unterscheiden, ein rechter und ein linker. Ersterer bezieht sich auf ein im engen Sinne nationales, ethnisch, völkisch gedachtes Volk und demgemäß auf nationalistische Abschottungspolitik und Autarkiebestrebungen. Der zweite richtet sich gegen „neoliberale Politik und betrachtet ein inklusives Volk der Vielen als seine soziale Basis“ (8). Gemeinsam ist beiden, dass sich – und dies ist auch die Orientierung der Populismusforschung – auf eine „Grundunterscheidung“ (11) bezogen wird – Volk gegen Elite: „Das kennzeichnende Merkmal populistischer Politik besteht vielmehr darin, dass sie für sich beansprucht, den Volkswillen gegen die Eliten zu vertreten, sie perspektivisch zu entmachten oder wenigstens damit zu drohen, um eine grundlegende Neuordnung der Machtverteilung herbeizuführen.“ (11)
Bei dieser Bezugnahme auf ‚das Volk‘ muss konstatiert werden, dass der Populismus notwendigerweise auf einer identitären Abgrenzung gegen die ‚Anderen‘ fußt, die aus emanzipatorischer Perspektive zumindest ein Fragezeichen hinterlässt. Ideengeschichtlich ist eine „emanzipatorische Hoffnung [auf] […] eine Selbstregierung des Volkes“ (12) ebenso möglich wie der Bezug auf ein exklusiv-ethnisches Volk. Tatsächlich obsiegte letzteres Verständnis – wenn auch in unterschiedlicher Radikalität – „in vielen Ländern“ (13).
Auch mit dieser absolut zutreffenden Erkenntnis scheint die Problematik des Populismus teilweise unterschlagen zu werden: Sein autoritäres Moment verschwindet. Dass er als „stets wiederkehrende Begleiterscheinung politischer Ordnungen“ (15) beschrieben wird, geht mit der Frage einher, ob Populismen – unabhängig welcher Provenienz – nicht in modernen Demokratien, die sich durch ihre bürokratisierten Verfahren und Prozesse selbst zu lähmen scheinen, als genuines Korrektiv einer wenig bürger:innennahen Politik verstanden werden können,2 indem Populismus an die Idee ‚wahrer Volkssouveränität‘ appelliert, die „nicht nur einzelne Gesetze, sondern auch die Grundordnung des Ganzen in Frage stellen und verändern“ (23) können sollte, vielleicht müsste. Damit scheint Populismus immer auch als für Demokratisierung unausweichlich zu sein. Er macht „die grundlegende Verteilung der Macht und die Verfasstheit der Ordnung zu einem unmittelbaren Gegenstand der Auseinandersetzung in den schon konstituierten Verfahren des politischen Systems“ (25; Hervorh. i. O.).
Populismus ist Radikalisierung der Opposition. Er findet dort statt, wo nicht die Elite ist. Er ist dort lokalisiert, wo der demokratische Souverän vermeintlich wirklich ist, auf der Straße, in Bürger:innenentscheiden und im Internet. Damit fordert Populismus die etablierte Politik anders heraus als die parlamentarische Opposition, die im populistischen Diskurs selbst als Teil der Elite wahrgenommen wird. Der Theorie nach ist eine Bewegung populistisch, wenn sie das Volk und seine Interessen in Opposition zur Elite – die im Kontext sowohl linker als auch rechter Populismen kryptoantisemitisch als korrupte Technokraten, Finanzmogule und globalistische Ideologinnen beschrieben werden – bringt. Die Opposition zur Elite und die Formulierung, diese füge sich nicht dem Volkswillen, übersetzt der Populismus in „grundsätzliche Systemkritik im System, indem er anklagt, dass sich die Regierungspraxis von der geforderten Volkssouveränität entfernt hat und schon diejenigen Verfahren und Routinen, in denen die politische Gesetzgebung stattfindet, einer Revision zu unterziehen sind“ (26).
Systematische Unterschätzung der gesellschaftlichen Autoritätsstruktur
Wenn aber Populismus eine Politik von unten und außen ist, stellt sich die Frage, welche Rolle die Agitation spielt, wie, wann und aus welchen Gründen Bürger:innen empfänglich für populistische Politik sind. Dafür gibt es viele Forschungsstränge, die eine Vielzahl an Erklärungsansätzen bieten: „Aufstiegs-, Abstiegs-, und Statuskrisen“ (40), Abbau des Wohlfahrtsstaates (42) oder eine „Krise der Repräsentation“ (42) in Demokratien. Alle bleiben, so richtig die empirische Beobachtung auch ist, an der gesellschaftlichen Oberfläche. Dieser Konflikt um die Frage der Agitation bildet sich innerhalb des Readers ab, wird aber einseitig aufgelöst. Erstaunlicherweise – weil im engeren Sinne aus der Diskussion um den gegenwärtigen Populismus verbannt und eher zum ideengeschichtlichen Wegweiser reduziert3 – finden sich mit Löwenthal und Neumann zwei Texte im Band, die in ihren Analysen dieser Oberflächlichkeit schon in den 1940er und 1950er-Jahren begegnet sind, indem sie die moderne, kapitalistische Gesellschaft als insgesamt autoritär analysierten.4
Demgegenüber – und davon zeugt auch diese Einleitung – scheint in der gegenwärtigen Populismusforschung eine Einschätzung vorzuliegen, dass „gegenhegemoniale Bewegungen sogar auf populistische Politikansätze“ (31) angewiesen sind und mit der Umschreibung des „Populismus als Königsweg“ (31) versucht wird, ihn als genuin emanzipatorisches Projekt zu rahmen, das ‚lediglich‘ von seinen rechten Tendenzen befreit werden müsse, und ein, wie es Möller mit Gramsci in emanzipatorischer Stoßrichtung formuliert, „Gattungspopulismus“ (45) möglicherweise die Zukunft weist.
Und wenn auch – wie in nahezu allen Ansätzen – der Rechtspopulismus als die Herausforderung bestimmt wird, vor der emanzipatorische Politik gegenwärtig steht (33), wird nur selten ausreichend reflektiert, dass der Struktur nach auch der linke Populismus als autoritär verstanden werden kann.5 Berechtigterweise werden deutlich konkrete Unterschiede betont: Die progressive(re) Kritik an Neoliberalisierung und Austeritätspolitik des globalen Nordens auf der linken, nationalistische Abschottungspolitik und rassistische Agitation auf der Rechten Seite der Populismusmedaille (36). Aber selbst dort, wo sie sich im Feld von Freud-Feind, Alliierter-Gegner, Volk-Elite unterschiedliche Antagonisten suchen, bleibt doch der Populismus innerhalb dieses Feldes verfangen und reproduziert – und dafür steht Chantal Mouffe wohl am explizitesten Pate – ein ontologisches Politikverständnis, das um seiner eigenen Existenz willen den Feind braucht. Ein Politikverständnis, das durch den reaktionären Staatsrechtler Carl Schmitt geprägt wurde und unmöglich von seinen regressiven völkischen Tendenzen befreit werden kann.
Die emanzipatorische Grundunterstellung, mit Populismus als Theorie und Praxis ließe sich eine internationalistische Politik von unten durch die Beherrschten gegen die Herrschaft begründen, scheint den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen wir leben, tägliche Konflikte zwischen Selbst- und Fremdbestimmung auszutragen gezwungen sind und an diesen Konflikten regelmäßig scheitern, inadäquat. Dies auch, weil im Populismusbegriff die Mobilisierung von Autoritarismus und Rassismus sowie die quasireligiöse Hörigkeit gegenüber Fake-News, antisemitischem Verschwörungsdenken und den faschistischer Agitatoren, nur unzureichend aufgehoben ist. Dementsprechend scheint auch die Überlegung, der „Populismusbegriff erlaub[e] es im Grunde sehr gut, die spezifischen Merkmale der neuen Rechten zu erfassen“ (39), wenig zutreffend zu sein. Diese Diagnose wäre nur folgerichtig, wenn die „Rechte […] sich als Rechtspopulismus neu erfunden“ (37) hätte. Dass aber – und dies wird jüngst immer deutlicher – rechter Populismus nicht die Rechte verändert, indem sie neue (moderatere?) Politikstile einschlägt, sondern die völkische, neofaschistische Rechte zunehmend den in den Parlamenten sitzenden Populismus dominiert, scheint dabei unterzugehen.6 Die Forschung am Phänomen des Populismus ist wichtig, ertragreich, vielschichtig. Die Frage, „wieso sich Missstände immerzu populistisch artikulieren“ (43), hat etwas mit der Verfasstheit der gesellschaftlichen Verhältnisse zu tun. Um Populismus erklären zu wollen, muss zunächst die Frage nach dem strukturellen Autoritarismus gestellt werden, der linke und rechte Populismen – anders, aber doch gleichmäßig – durchzieht. Diese Frage scheint die Populismusforschung allerdings nur randständig zu interessieren, womit einhergeht, dass sie auch die Gefahr der extremen Rechten systematisch zu unterschätzen scheint.
Stefan Vennmann promoviert an der Universität Duisburg-Essen und ist Mitarbeiter im AK Antiziganismus im DISS.
Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 43 vom Mai 2022. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.
1 Wenn auch keine Primärtexte von Theoretiker:innen des ‚Rechtspopulismus‘ in den Band aufgenommen wurden, schließlich sind auch schon die aufgenommen marxistischen und psychoanalytischen Klassiker eine Reaktion auf eine zumindest populismusähnliche Politikform zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
2 Vgl. dazu Mudde, Cas/Rovira Kaltwasser, Cristóbal: Populism. A very short Introduction, New York 2017.
3 Vgl. dazu Struwe, Alex/Vennmann, Stefan: Gesellschaftstheorie und Populismus. Franz L. Neumanns und Theodor W. Adornos Beiträge zu einer Analyse gesellschaftlicher Regression, in: Kim, Seongcheol/Selk, Veith (Hrsg.): Wie weiter mit der Populismusforschung, Baden-Baden 2021, 111-133.
4 Noch treffender als jene Beiträge hat Adorno das Problem auf den Punkt gebracht: Adorno, Theodor W.: Die Freudsche Theorie und die Struktur faschistischer Propaganda, in: Dahmer, Helmut (Hrsg.): Analytische Sozialpsychologie, Frankfurt/M. 1980, 318-342.
5 Priester, Karin: Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt/M./New York 2012 sowie Priester, Karin: Mystik und Politik. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe und die radikale Demokratie, Würzburg 2014. Der im Reader abgedruckte Text von Karin Priester (202-215) bildet ihre Position meiner Einschätzung nach nicht hinreichend ab.
6 Vgl. dazu die Rezension zu Natascha Strobl Radikalisierter Konservatismus in diesem Heft.