Von Stefan Vennmann
Fritze, Lothar 2019:
Die Moral der Nationalsozialisten.
Reinbek: Lau Verlag
556 Seiten, 38,00 Euro.
ISBN: 978-3-95768-204-8
Das Buch hat, anders als der Titel vermuten lässt, sich nicht zu Aufgabe genommen, die Moralvorstellungen der nationalsozialistischen Verbrecher:innen zu ergründen, um ihnen retrospektiv moralische Schuld und Verantwortung sowie die Notwendigkeit historischer Aufarbeitung zuzurechnen. Vielmehr soll die Argumentation mit ihren umfassenden moralphilosophischen Konstruktionen die ‚Rechtfertigungsgründe‘ der Täter:innen untersuchen, mit der sie die Kriegsbereitschaft und die antisemitische Vernichtungspolitik vor dem Hintergrund ihrer Ideologie zu rechtfertigen in der Lage gewesen sind.
Was wie eine krude, philosophische Rechtfertigung klingt und wofür die ‚eigenwillige Interpretation‘ der Nazi-Quellen Evidenz liefert. Auch wenn immer wieder darauf insistiert wird, dass die nationalsozialistischen Rechtfertigungsgründe ‚für uns‘ unplausibel, inakzeptabel seien (135) und wir die ‚Mittel‘ der Nazis „an sich für unmoralisch, illegitim oder für nicht erforderlich“ (196) halten können, wird schnell deutlich, dass die Analyse der nationalsozialistischen Moral benutzt wird, sich gegen die „herrschende moralische Überzeugung“ (230) der Gegenwart aufzulehnen sowie einen moralischen und menschenrechtlich begründeten Universalismus zu delegitimieren.
Fritzes Werk darf dabei nicht als Versuch verstanden werden, einen Diskurs zur Vergangenheitspolitik mit moralphilosophischen Kategorien anzureichern und zu entwickeln. Denn seine Argumentation ist nicht an Erkenntnissen über einen philosophischen Begriff historischer Verantwortung interessiert. Vielmehr folgt der ‚Totalitarismusforscher‘ des Hannah-Arendt-Instituts, der wegen seiner Aktivität in der Sezession und der Winterakademie des Instituts für Staatspolitik bereits in der Kritik stand, einer politischen Logik, die den Schulterschluss mit der extremen Rechten sucht.
Moralphilosophisch begründeter Relativismus
Dem Buch fehlt in seiner sprunghaften Argumentation, der stetigen Wiederholung der selben Argumente für unterschiedliche Sachverhalte und dem verharmlosenden Duktus (z. B. 123, 133, 255) nicht nur die kritische historische und politische Einordnung der nationalsozialistischen Verbrechen. Vielmehr werden die Funktionseliten der Nazis und besonders Hitler als genuine Moraltheoretiker dargestellt. Anstatt Mein Kampf als die antisemitische, antidemokratische und gewaltverherrlichende Propagandaschrift zu benennen, die sie nun mal ist, wird sie als „Analyse“ (233) einer „Lebensraumtheorie“ (235) verstanden, die zwar durch bestimmte Vorstellungen von rassistischer „Höher- und Minderwertigkeit von Völkern kofundiert“ (148), nicht aber durch sie begründet ist. Die partikulare Moral der Nazis wird als in ihrer historisch-politischen Einhegung legitimes, soziales Koordinatensystem dargestellt, das – wenn auch nicht von „weltanschaulich-ideologischen Ideensystemen unabhängig“ (99) – moralphilosophisch anerkannt werden müsse.
Letztlich wird die Begründung der nationalsozialistischen Moral biologistisch erklärt. Die moralische Präferenz für das Eigene benötige keine Darlegung, da sie „einen biologischen Ursprung“ (143) habe, der genetisch aus kollektiven Gruppenloyalitäten von – mit Ernst Nolte gedachten – exklusiven, an Herkunft und Territorium gebundene „Völker, Staaten und Kulturen“ (147) entspringt. In diesem Sinne werden auch nationalsozialistische Abtreibungs- und Euthanasieprogramme sowie Heimat- und Naturschutz als genuin moralisch begriffen, auch wenn sie nicht „ausschließlich dem mutmaßlichen Interesse der Betroffenen dienen sollten“ (256f.). Hier nicht die bevölkerungspolitische und antisemitische Logik zu reflektieren, die sämtliche Politiken der Nazis durchzog, ist mit der historischen und aktuellen Forschung zum Nationalsozialismus unvereinbar.
Verkennung des Antisemitismus
Die analytische Notwendigkeit des Antisemitismus zum Kern des Verständnis der nationalsozialistischen Gemeinschaftsordnung zu machen, auf der Kritiker von Theodor W. Adorno bis Michael Wildt insistieren, wird von Fritze ganz entsprechend der vereinheitlichenden Totalitarismus-, letztlich Extremismustheorie, systematisch ignoriert.
Den Antisemitismus nur als kontingenten Freund-Feind-Mechanismus gegen „Angehörige eines ‚artfremden‘ Volkes“ (137) zu begreifen, führt Fritze zur Argumentation eines Antiuniversalismus der Prägung Alain de Benoist. Da auch in der Demokratie ungleiche Lebensverhältnisse täglich akzeptiert werden, sei auch hier nicht von einem wirklich moralischen Universalismus zu sprechen, wohingegen „Hitler einen in jeder Hinsicht universalistischen Standpunkt vertreten“ (143) hätte, da er ‚jedem Volk‘ sein Recht auf den mit ‚guten Gründen‘ im ‚Wesen‘ (hier also der Biologie) begründeten Überlebenskampf zugestand.
Da auch in der partikularen Moralvorstellung der Nazis vermeintlich universalistische Tendenzen enthalten wären – die mit einem Menschenrechtsuniversalismus selbstverständlich nichts zu tun haben – unterscheide sich die moralische Struktur des Nationalsozialismus, zum unspezifischen Totalitarismus degradiert, nicht prinzipiell von der einer Demokratie. Beide setzen auf die absolute „Austauschbarkeit und Verrechenbarkeit des Individuums“ (376). Eine Diagnose die bei Fritze ebenso falsch ist wie bei Giorgio Agamben.
Auf letzteren wird sich direkt bezogen, wenn zu zeigen versucht wird, dass die Mordpraxis in den Vernichtungslagern nichts mit den konkreten Moralvorstellungen der Nazis zu tun hätte (173), sondern lediglich die politische Ontologie der modernen Gesellschaft radikalisiere. Die Moral der Nazis wird moralisch für unangreifbar erklärt. In diesem Nimbus sei auch die Shoah nicht dem Antisemitismus entsprungen, sondern auf eine „der Rationalität dienende Rechtfertigungsformel“ (197) des ideologischen „Ideensystem“ (239) der Naziführung zurückzuführen, die sie aus ihrer subjektiven Moral begründen können. Die diversen Relativierungen des Antisemitismus (187, 279, 291, 315, 339), des deutschen Expansionskrieges (168, 226) und des alliierten Kriegseinsatzes gegen die Nazis (139, 453), die die Deutschen erst zu den „barbarischen Methoden“ (181) nötigte. Dass es sich hier um wissenschaftlich unbrauchbare Elemente eines rechten Schuldabwehrdiskurses handelt, ist offensichtlich.
Wer sind ‚die Nationalsozialisten‘?
Da es „um die Struktur des Denkens der Nationalsozialisten geht und nicht um inhaltliche Bewertung“ (266f.), soll gezeigt werden, dass der Nationalsozialismus eine partikulare Gemeinschaft darstellt, deren Grundsätze sich auch dann moralisch rechtfertigen lassen, wenn wir die „zugrundeliegenden außermoralischen Annahmen und Überzeugungen als falsch erachten“ (398). Auf persönliche Charakterschwäche, „individuell-biographische Umstände“ (473), „Kaltschnäuzigkeit“ (224) und „Schmeicheleien“ (299) zurückgeführt, werden die Verbrechen der Nazis ausschließlich an die moralische Überzeugung der NS-Elite gekoppelt, die moralisch davon überzeugt gewesen sein sollen, keine Verbrechen zu begehen, sondern eine für den Fortbestand des Kollektivs elementare Aufgabe zu erfüllen, die sie moralisch rechtfertigen konnten.
Das „eigentliche Ergebnis der Analyse“ (261) ist, dass die Nazi-Elite in ihrer moralischen Überzeugung, das Richtige zu tun, die „optimale Urteils- und Willensbildung“ (403) der Deutschen einschränkte. Hitlers demagogisches Talent schuf eine ‚unzureichende Erkenntnisbasis‘ (418), die die Verbrechen auf einen „Modus der unbewussten Fahrlässigkeit“ (407) innerhalb einer hierarchischen Befehlsstruktur zurückführt (138f.; 182). Die konkreten Exekutoren der Verbrechen haben demnach keine Verbrechen begangen, ihnen ist nur „kognitives Versagen“ (398) vorzuwerfen – sie konnten Täter mit guten Gewissen sein, weil sie entweder ihre eigene Ideologie glaubten oder von Demagogen getäuscht wurden. Eine solche Analyse eines ‚monolithischen Faschismus‘ ist politiktheoretisch von Franz L. Neumann 1944, empirisch von Herbert Jäger 1967 und moralphilosophisch jüngst von Hans Bernhard Schmidt zurückgewiesen worden.
Auch wenn Fritze ‚nicht völlig‘ mit Rolf Peter Sieferles Diagnose im antisemitischen Pamphlet Finis Germania – ein Schelm wer hier ansonsten ideologische Übereinstimmung vermutet – zustimmend und „totalitäre Politiker“ (449) durchaus für verantwortlich hält, muss konstatiert werden, dass jegliche Verantwortungszuschreibung in der Gegenwart abgelehnt wird. Wenn nur die Demagogie der moralisch verantwortlichen Eliten zu den Verbrechen führte, diese Eliten aber tot oder juristisch verurteilt wurden, hat sich die historische Verantwortung aufgelöst. Dass auf eine gesellschaftstheoretische Analyse, die sicherlich andere Ergebnisse bedingt hätte, „weitgehend verzichtet“ (472) wurde, folgt dem politischen Kalkül der moralischen Entlastung Deutschlands für die Verbrechen der Vergangenheit. Das ‚Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie‘ wird zugunsten einer neuen deutschen Partikularmoral der moralischen Kritik entzogen um stattdessen einen moralischen Antiuniversalismus als Mittel zur extrem rechten Diskursverschiebung im bürgerlichen Gewand zu rechtfertigen.
Stefan Vennmann promoviert an der Universität Duisburg-Essen und ist Mitarbeiter im AK Antiziganismus im DISS.
Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 40 vom November 2020. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.