Evian 1938 – Brüssel 2018 von Heiko Kauffmann, erschienen in DISS-Journal 35 (2018) Im Juli 1938 trafen sich in Evian am Genfer See Delegierte von 32 Staaten, um über die Aufnahme der existenziell bedrohten jüdischen Flüchtlinge und Verfolgten des Nazi-Regimes zu beraten. Die Konferenz endete in einem Desaster: Kein europäisches Land erklärte sich bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen oder wenigstens die Einreisebedingungen zu lockern. Ende Juni 2018 trafen sich in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Länder, um über die europäische Migrations- und Asylpolitik zu beraten: Die Ergebnisse sind so niederschmetternd wie schockierend: Mit einer Erbarmungslosigkeit ohne Gleichen, abgrundtiefen Härte und Kaltschnäuzigkeit einigten sich die Teilnehmer*innen auf Beschlüsse zur Ausgrenzung, Abschreckung, Schutzverweigerung, Abwehr und Auslagerung des Flüchtlingsschutzes. Dieser Gipfel wird 80 Jahre nach Evian als Gipfel der Inhumanität, der Ignoranz und des…
Die Institutionalisierung der Abgrenzung Von Sascha Schießl, Flüchtlingsrat Niedersachsen, erschienen in DISS-Journal 35 (2018) ((Nachdruck des Artikels aus der Broschüre von Pro Asyl zum Tag des Flüchtlings "Rettet das Recht auf Asyl" Mai 2018) )) Die große Koalition plant die flächendeckende Kasernierung von Schutzsuchenden: Nach bayerischem Vorbild sollen Flüchtlinge vom ersten Tag an für die gesamte Dauer ihres Asylverfahrens in Lagern, so genannten „AnkER-Zentren“, untergebracht werden. Dies folgt einer politischen Agenda, die im Umgang mit Geflüchteten nur mehr auf Kontrolle, Ausgrenzung und Abwehr setzt und sich den Abbau eines vermeintlichen Vollzugsdefizits bei Abschiebungen zur handlungsleitenden Maxime erkoren hat. In ihren verschiedenen Ausformungen und unter unterschiedlichsten Bezeichnungen – Ankunftszentren, Erstaufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte, Containersiedlungen und bald wohl auch „AnkER-Zentren“ – sind Flüchtlingslager in beinahe jeder bundesdeutschen Kommune zu finden. Zeitweise wurden sogar Turnhallen, Flugzeughangars oder ehemalige…
Von Heiko Kauffmann, Erschienen in DISS-Journal 34 (2017) ((Erstveröffentlichung dieses Beitrags: Ostsee-Zeitung vom 6. September 2017.)) Europa bekämpft nicht die Schleuser und die Menschenrechtsverletzungen in Libyen, sondern vielmehr die Flüchtlinge und diejenigen, die sie vor dem Ertrinken retten. ((Die Aufschrift "Schande über Dich, Europa!" – "Shame on you, Europe!" trugen Banner, mit denen zivile Seenotretter auf der „Sea-Eye“ gegen die Ausdehnung der libyschen Hoheitsgewässer und die Sperrung zentraler Rettungsgebiete im Mittelmeer protestierten.)) Die EU rüstet Libyen mit Hunderten Millionen Euro auf, um sich die Flüchtlinge vom Hals zu schaffen: Geld für eine zwielichtige Küstenwache und eine schwache Regierung, die der verbrecherischen und gewalttätigen Milizen im Land und in den Flüchtlingslagern nicht Herr wird. Lager, in denen – auch nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes – KZ-ähnliche Zustände herrschen; eine Kooperation mit schlimmsten Folgen für…
Von Heiko Kauffmann. Erschienen in DISS-Journal 29 (2015) Angesichts einer weltweit dramatisch zugespitzten Flüchtlingskrise fordert der Mitbegründer und langjährige Sprecher von PRO ASYL Heiko Kauffmann, das Thema „Flucht, Asyl, Flüchtlingsschutz und Menschenrechte“ als eine der dringlichsten globalen Herausforderungen auf die Tagesordnung der internationalen Politik zu setzen. Das Vorhaben der EU-Kommission, die UN für ein robustes Mandat zur Zerstörung von Flüchtlingsbooten zu gewinnen, hält er für zynisch und beschämend. Vielmehr unterstreiche dies noch einmal die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der europäischen Flüchtlingspolitik. Wer – statt mit den UN über verbesserte Aufnahme-Bedingungen und die Rettung von Flüchtlingen zu reden – ein Mandat zur Zerstörung von „Schleuserbooten“ anstrebt, betreibe pure Symbolpolitik und verschließe weiterhin die Augen vor den Ursachen der Flucht tausender von Menschen. ((Der Beitrag ist leicht gekürzt unter dem Titel „Wer Menschen rettet, rettet…
(K)eine Rezension zu David Van Reybrouck: Kongo Von Siegfried Jäger, veröffentlicht im DISS-Journal 26 (2013) Der Bestseller von David Reybrouck (Aufl. über 200-000) ist bereits 2010 in niederländischer Sprache erschienen, 2012 in deutscher Übersetzung und als Taschenbuch 2013. Er ist vielfach rezensiert worden, nicht selten mit kritischen Untertönen. Deshalb erübrigte sich eigentlich eine erneute Rezension, doch das nur auf den ersten Blick. Wer die rund 700 Seiten gelesen hat, erfährt viel über den Kongo und seine dramatische Geschichte, die teilweise anhand bibliographischer Zeugnisse erzählt wird, teils aber auch anhand von Interviews, die Van Reybrouck mit alten und jungen Kongolesinnen und Kongolesen vor Ort geführt hat. Insgesamt kommt dabei heraus: Der Autor ist kein Kolonialismus-Forscher im üblichen Sinn, sondern eine Mischung aus Journalist und Literat. Seine Darstellung ist vorwiegend deskriptiv, und das ist auch…
Herausforderungen und Aufgaben für die Zukunft. Von Margarete Jäger, erschienen im DISS-Journal 25 (2013) Am 27. Mai fand im Bonner Wasserwerk eine Gedenkveranstaltung statt, die an den Brandanschlag von Solingen von 1993 erinnerte und bei der die Frage im Mittelpunkt stand, was sich in Deutschland seit dieser Zeit mit Blick auf Migration und Rassismus verändert hat. Für das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung nahm Dr. Margarete Jäger an einem Podiumsgespräch teil. Im Anschluss geben wir ihre Stellungnahme in Auszügen wieder. Wenn wir heute die Frage danach stellen, wo wir 20 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen stehen und welche Aufgaben sich für die Zukunft stellen, dann sollten wir mit berücksichtigen, dass wenige Tage vor dem Solinger Brandanschlag hier in Bonn der Bundestag den Asylartikel des Grundgesetzes entscheidend einschränkte und damit aus…
Vor 20 Jahren, Ende Mai 1993: Asylrechtsänderung und Morde in Solingen. Eine Stellungnahme von Heiko Kauffmann, erschienen im DISS-Journal 25 (2013). Wenige Ereignisse in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben Gesellschaft und Politik so aufgewühlt und gespalten, wie die Debatte um und die Änderung des Asyl-Grundrecht- Artikels 16 Absatz 2, am 26. Mai 1993, und – 3 Tage später – der Mord- und Brandanschlag auf die Familie Genç in Solingen. Wenn heute nach Erklärungen für das Versagen und die Versäumnisse der deutschen Behörden und der Politik im Zusammenhang mit dem NSU-Terror gesucht wird, müssen diese Daten, der 26. Mai 1993, die Zerstörung des Asyl–Grundrechts, und der 29. Mai 1993, die Toten und Verletzten des rassistischen Solinger Anschlags, wie auch das staatliche Wegsehen, Verdrängen und (Nicht-)Handeln – nach Rostock, Mölln, Hoyerswerda und vielen…
Zum Gedenken an Cemal Kemal Altun. Von Heiko Kauffmann. Erschienen in DISS-Journal 12 (2004). Anlässlich des 20. Todestages von Cemal Kemal Altun am 30. April 2003 fand am Mahnmal in der Berliner Hardenbergstraße eine Gedenkveranstaltung des Flüchtlingsrates, der Internationalen Liga für Menschenrechte, Pro Asyl und „Asyl in der Kirche“ statt. Das DISS-Journal dokumentiert die Ansprache von Heiko Kauffmann, Pro Asyl, am Mahnmal von Cemal Kemal Altun. Cemal Altun war der erste politische Flüchtling in der Bundesrepublik, der sich aus Angst und Verzweifelung vor Abschiebung und Auslieferung in einen Folterstaat das Leben nahm. Sein Tod 1983 war ein Fanal, ein die Republik und die Öffentlichkeit bewegendes und erschütterndes Ereignis, das aber in der Politik weder zum Umdenken noch zu einer Humanisierung der Asylpolitik führte. 1993 folgten die schwersten Eingriffe in das Asylrecht mit den…
Ein kurzer Blick auf neurechte Argumentationen im Diskurs der politischen Wissenschaften von Dirk Kretschmer und Siegfried Jäger. Erschienen in: Jäger, Siegfried / Kretschmer, Dirk / Cleve, Gabriele / Griese, Birgit / Jäger, Margret: Der Spuk ist nicht vorbei, Duisburg 1998, 37-55. Vorbemerkung: Die paradoxe Formulierung vom "Extremismus der Mitte“ Bevor wir uns nun den verschiedenen Diskursebenen zuwenden, möchten wir uns einleitend der kontrovers geführten politik-wissenschaftlichen Diskussion über einen "Extremismus der 'Mitte'" etwas ausführlicher widmen. Die Formel vom Extremismus der "Mitte" wird sehr unterschiedlich definiert. In seinem Überblick diskutiert Wolfgang Kraushaar vier verschiedene Ansätze, die er folgendermaßen charakterisiert: "Es sind dies: einer zur Kennzeichnung der sozialen Herkunft der Täter; einer zur Identifizierung der Komplizenschaft zwischen Tätern und Politikern, besonders zwischen rechtsradikalen Drahtziehern und staatlichen Behörden; einer zur Charakterisierung moderner rechts-populistischer Parteien und einer zur…