USA und China – Hegemoniekampf um die Weltordnung

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Von Wolfgang Kastrup

Mein Bauch sagt mir, wir werden im Jahr 2025 kämpfen.“
(US Air Mobility Command General Michael Minihan)

Laut einer neuen US-Militärstrategie, die der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin offiziell vorgestellt hat, wird Russland als „akute Bedrohung“ eingestuft, China dagegen als zentrale, „das Tempo vorgebende Herausforderung“. Die junge Welt schreibt dazu: „Mit dieser Einschätzung folgt das Dokument der übergeordneten Nationalen Sicherheitsstrategie der USA, die das Weiße Haus bereits am 12. Oktober publiziert hat. Zwar sei ‚die russische Aggression eine direkte und scharfe Bedrohung unserer Interessen und Werte‘, hielt Austin fest. Allerdings sei Russland nicht in der Lage, ‚die USA auf lange Sicht systemisch herauszufordern‘. Die ökonomischen, politischen und militärischen Kapazitäten dazu besitze allein China, das ‚sowohl die internationale Ordnung umbauen‘ wolle ‚als auch zunehmend die Kraft dafür‘ besitze. Beijing gehe es darum, ‚das internationale System so umzugestalten‘, dass es ‚zu seinen Interessen‘ passe, behauptete Austin“. Ergänzend heißt es, dass in den 2030er Jahren die USA mit Russland und China ‚zum ersten Mal in ihrer Geschichte‘ mit ‚zwei großen Nuklearmächten als strategischen Wettbewerbern und potenziellen Gegnern‘ zu tun haben werden. (www.jungewelt.de/artikel/437622.national-defense-strategy-paranoia-der-weltpolizei.html v. 29.10.2022)

Diese Ausführungen machen deutlich, dass China die größere Herausforderung für die USA im Ringen um die Weltordnung ist. Russland bleibe zwar durch seine Nuklearmacht weiterhin strategisch bedeutend, China als neue Nuklearmacht habe aber gegenüber Russland politisch, ökonomisch und militärisch eine andere Größenordnung, es sei ein systemischer Rivale, der die Weltordnung bedrohe. Dass die bisherige Weltordnung im Besonderen von den USA gestaltet wurde und auf dessen Interessen aufbaute, wird als selbstverständlich gesehen, da sie eine Führungsrolle in der Gestaltung einer sog. Weltfriedensordnung beanspruchen. „Da China nun der Hauptrivale der USA ist, versuchen die Vereinigten Staaten, wenig überraschend, China mit allen Mitteln einzudämmen.“ (Sit Tsui/ Erebus Wong/ Lau Kin Chi/ Wen Tiejun: Unterwerfen oder entkoppeln. Chinas Platz im Weltsystem, in: junge Welt v. 21.12.2022)

China als Konkurrent und der US-Dollar
als „
ökonomisches Ordnungsmittel“

China, einst Niedriglohnstandort und „Werkbank“ für das internationale Kapital, das die Welt mit Konsumgütern versorgte und als Wachstumsmotor die globale Ökonomie nach der großen Finanzkrise 2007/8 stabilisierte, wird mit seiner wachsenden wirtschaftlichen Dynamik im globalen Kapitalismus, seiner rasant aufholenden Prozesse in Industrialisierung und Technologie, von westlichen Ländern, speziell den USA, als ökonomische Bedrohung wahrgenommen. China ist ein kapitalistisches Land, in dem Arbeit, wie fast überall auf der Welt, als Lohnarbeit stattfindet. „Sie [die Lohnarbeit, W.K.] ist nicht das Mittel derjenigen, die arbeiten und den Reichtum ihrer Gesellschaft produzieren, sondern sie ist das Mittel derer, die mit ihrem Geld diese Arbeit kommandieren, um selbst reicher zu werden. (Renate Dillmann: Kapitalismus auf Chinesisch, in: analyse&kritik v. 21. März 2023) Für Dillmann ist die Wende zur kapitalistischen Entwicklung in China genau datierbar. Entscheidend sei der Beschluss der Kommunistischen Partei unter Deng Xiao Ping von 1978 gewesen „ihre bisherige sozialistische Planwirtschaft zu ‚reformieren‘ bzw. ‚transformieren‘, weil sie sich von der Einführung ‚kapitalistischer Methoden‘ eine schnellere Entwicklung des Landes und den Wiederaufstieg der chinesischen Nation erhoffte.“ (Ebd.)

Zentral für die USA ist, dass der weltweite Kapitalismus immer noch auf dem US-Dollar als Weltleitwährung aufbaut und Staaten, Unternehmen und Investoren sich mit dem Dollar als Vermögenswert und Zahlungsmittel sicher fühlen. Dies verweist auf den Dollar als „ökonomisches Ordnungsmittel“. „Das Recht sprechen sie sich einfach zu, indem sie es praktizieren.“ (Gegenstandpunkt, 3-22, 39) Nicht nur die USA, sondern auch Staaten, Unternehmen und Investoren verdienen und vermehren ihren Reichtum mit dem Dollar. Durch seine weltweiten realen Umtauschmöglichkeiten hat jede andere nationale Währung nur im Verhältnis zum Dollar die Möglichkeit zur Geldvermehrung. Dass der Dollar unangefochten Leitwährung ist und auch bleiben wird, zeigt sich auch darin, dass der Dollar als Reservewährung „knapp 60% der Anlagen von Zentralbanken und anderen staatlichen Investoren“ umfasse, der Euro hingegen komme auf knapp 20%. (Markus Frühauf: Auf Dauer ist der Euro nur zweite Wahl, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11.02.2023) So werden fast alle Rohstoffe, Transportdienstleistungen und sehr viele Handelstransaktionen in Dollar gehandelt. Zudem ist der Kapitalmarkt in den USA weltweit der größte, liquideste und offen zugänglich. (Vgl., ebd.) Dies wird auch durch folgendes Argument der oben zitierten chinesischen Wissenschaftler untermauert: „Die untergeordnete Stellung Chinas im globalen Handelsregime zeigt sich […] in seinen fehlenden Rechten bei der Preisgestaltung für wichtige Rohstoffe. Obwohl es der größte Importeur ist, hat China nicht das Recht, die Preise für die wichtigsten Rohstoffe auszuhandeln, da die bedeutendste Abrechnungswährung der US-Dollar ist und die internationalen Rohstoffmärkte hochspekulativ sind.“ (Sit Tsui u.a., a.a.O.) China muss also bestrebt sein, ein für sich vorteilhafteres Handelssystem zu schaffen. Ein Ergebnis war u.a. der Petroyuan, der allerdings noch keine entscheidende Konkurrenz zum Petrodollar erzielen konnte. Da sich auch das Wirtschaftswachstum seit 2013 verlangsamt hat und um fast 50 % seines Höchststandes zurückgegangen ist, zeigt, so die Autoren, dass sich die „Dynamik des alten Globalisierungsmodells erschöpft“ hat. China sei auf dem Weg, „sich von einer Entwicklungspolitik abzuwenden, die dem westlichen Modernisierungsmodell folgt, und zu einer integrativen und nachhaltigen Entwicklung überzugehen, um die Armut in den ländlichen Regionen zu beseitigen.“ (Ebd.)

Trotz aller politischer Rivalität zwischen den USA und China ist der Dollarkreislauf zwischen beiden Ländern ein verbindendes Element. „Aufgrund von Handelsdefiziten können US-Dollars nach China zirkulieren und fließen in die Vereinigten Staaten zurück, indem sich China mit Staatsanleihen eindeckt.“ (Ebd.) Dieses riesige Handelsdefizit ist jedoch den USA ein Dorn im Auge. Ganz gleich zu wie vielen Zugeständnissen China bereit ist, um den Handel auszugleichen, „die herrschenden Eliten in den USA lassen sich offenbar nicht beschwichtigen“, China mit einem Handelskrieg bzw. einem Wirtschaftskrieg zu bestrafen. (Ebd.) Ein solcher US-Wirtschaftskrieg gegen China könnte für etliche Konzerne in Europa, speziell für die Autoindustrie in Deutschland, sehr bedrohlich werden. Ziel der USA ist es, Chinas Aufstieg zu einer führenden Weltmacht zu verhindern. Dazu gehörte auch das Vorgehen der US-Regierung gegen chinesische Investitionen, speziell im High-Tech-Bereich, auf dem US-Markt, das dazu führte, dass chinesische Investitionen in den USA deutlich reduziert wurden.

Es waren sicherlich nicht die letzten Sanktionen in ihrem Konkurrenzkampf mit China, die die Vereinigten Staaten am 16. Dezember verhängt haben. Erst zwei Monate war es her, seit Washington mit einem umfassenden Embargo die Bestrebungen der Volksrepublik attackiert hatte, sich in Sachen Künstliche Intelligenz weiterzuentwickeln und zu diesem Zweck Hochleistungs-Chips herzustellen – da folgten nun bereits die nächsten Zwangsmaßnahmen der Regierung Biden gegen diesmal 36 chinesische Unternehmen und Institutionen aus der High-Tech-Industrie. Diesmal war unter anderem YMTC an der Reihe und damit einer der zuletzt erfolgreichsten Chip-Produzenten aus China; er darf – wie die anderen sanktionierten Firmen auch – in Zukunft praktisch keine US-Produkte mehr nutzen.“ (Kronauer 2023 a, 24)

Das Wachstumspotenzial der KI-Branche ist beträchtlich und wird weltweit in einiger Zeit Billionen US-Dollar umfassen. Die große Bedeutung der KI ist aber nicht nur ökonomisch zu sehen, sondern auch für die militärische Nutzung und als Repressionsinstrument von großem Nutzen. (Vgl. ebd., 25) Für US-Konzerne und solche aus Südkorea und Taiwan, die in China Industriestandorte haben, gilt das US-Embargo allerdings nicht, da Ausnahmegenehmigungen erteilt wurden. (Vgl. ebd., 26) Die weltweit erbittert geführte Konkurrenz um die Produktion von Batteriezellen, Solarpaneelen und vor allem Chips führt dazu, dass in den USA, in China und auch in der EU Milliarden Subventionen staatlicherseits an Hersteller gezahlt werden. Auch Deutschland ist aktiv daran beteiligt, so beispielsweise mit der geplanten Megafabrik des Chipherstellers Intel in Magdeburg, die 17 Milliarden Euro kosten soll, wobei 7 Milliarden vom Bund als Subventionen beigesteuert werden. (Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.01.2023)

Für Europa zeigt sich im Verhältnis zu China ein anderes Bild. „Zwischen 2018 und 2021 entfielen etwa 33 Prozent hochvolumiger chinesischer ADI [Ausländische Direktinvestitionen, W.K.] auf Europa inklusive Großbritanniens. […] Mit 153,7 Milliarden USD belegte die chinesische Ökonomie erneut Platz zwei der jährlich global vergebenen ADI hinter den USA.“ (Simon 2022 b, 401) Allerdings zeigen sich im europäisch-chinesischen Verhältnis deutliche Unstimmigkeiten, da die EU-Kommission, ganz auf US-Linie, Sekundärsanktionen gegen chinesische Unternehmen verhängen will, die möglicherweise bestehende Strafmaßnahmen gegen Russland unterlaufen. Die Verärgerung aus China ließ nicht lange auf sich warten. „Während China alle Anstrengungen unternimmt, um Frieden zu fördern, was im Interesse Europas liegt, revanchiert sich Europa mit einem Stich in den Rücken und schikaniert China in Wirtschaftsfragen“, so der Abteilungsleiter für europäische Angelegenheiten im Außenministerium, Wang Lutong. Er spricht weiter von einer „Unterwerfung und Abhängigkeit [Europas] von Washingtons umfassender Eidämmungsstrategie gegen China“. (Zit. nach Jochen Stahnke: Besuch eines alten Bekannten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.05.2023)

Der wachsende Einfluss Chinas auf die Regelsetzung in Politik und Ökonomie zeigt sich in der Entwicklung der Belt and Road Initiative (BRI), der Gründung der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) mit mehr als 80 Mitgliedsstaaten, und in der 2020 zwischen China und vierzehn asiatisch-pazifischen Staaten geschlossene Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) – „das derzeit größte Freihandelsabkommen der Welt“ mit einem „Anteil von 30% am Welthandel“. (Simon 2022 a, 382 u. 385) Es ist zu erkennen, dass China „um die Verallgemeinerung einer ihren Zielen und Akkumulationsstrategien entgegenkommenden Regulierung“ ringt. Gelungen ist es immerhin, die eigene Währung Renminbi (RMB) zu einer regional bedeutenden Währung und „zur zweitwichtigsten Referenzwährung nach dem US-Dollar“ zu machen. (Ebd.) Vor allem für die ASEAN-Staaten spielt der RMB mittlerweile eine „zentrale Rolle“. (Simon 2022 b, 400) Die Bedeutung dieser Währung zeigt sich auch daran, dass die Position des RMB im Währungskorb des IWF mehrfach ausgeweitet wurde und „ab August 2022 mit gut 12 Prozent auf dem dritten Platz“ liegt, was „die Rolle des RMB als Reservewährung“ unterstützt. (Ebd.)

Die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen haben sich seit den 2000er Jahren immer weiter vertieft. „Daimler, BMW, Infineon, Airbus, Adidas, Siemens und Co., aber auch viele deutsche mittelständische Unternehmen kauften sich in den chinesischen Markt ein, etwa im Bereich Maschinenbau, Medizintechnik oder in der Elektroindustrie. Chinesische Unternehmen wiederum belieferten Deutschland und den Weltmarkt mit extrem günstigen Konsumprodukten wie Kleidung oder Spielzeug und mit lebenswichtigen Medizinprodukten oder mit günstigen Vorprodukten für die hiesige Produktion.“ (Lene Kempe: Jein zu China, in: analyse&kritik v. 21. März 2023) Bezüglich der Autoindustrie ist die Wirtschaftsbeziehung besonders intensiv. So erwirtschaftet VW „aktuell fast 40 Prozent seines Umsatzes auf dem ostasiatischen Markt, bei den Konkurrenten BMW und Mercedes sind es rund ein Drittel.“ (Ebd.) Laut Westdeutsche Allgemeine Zeitung (15.04.2023) ist China der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Eine Eskalation von Wirtschaftssanktionen gegen China liegen folglich in keiner Weise im Interesse der deutschen Unternehmen.

Welche mittel- bis langfristigen Konsequenzen der rasante demografische Wandel Chinas, das Land weist erstmals sinkende Bevölkerungszahlen aus, auf den Arbeitsmarkt und das Gesundheitssystem haben wird, bleibt abzuwarten. Der Soziologe Sun Liping hält die Vorstellung, hohe Wachstumszahlen würden ausreichen, um die USA zu überholen für gefährlich. „Wir müssen begreifen, dass wir vor äußerst schwierigen existenziellen Problemen stehen, das größte ist unsere extrem niedrige Geburtenrate.“ (Zit. nach: David Ownby: China und seine unbekannten Denker, in: Le Monde diplomatique, Januar 2023)

Belt and Road Initiative (BRI)

Im Fokus der Auseinandersetzungen, besonders der ökonomischen, steht die chinesische Belt and Road Initiative (BRI), hier auch als Neue Seidenstraße bekannt. 2013 wurde die Belt and Road Initiative von Präsident Xi Jinping verkündet; sie sollte „ein neues Modell für Multilateralismus und eine offene Wirtschaft“ sein. 146 Länder, das sind drei Viertel der UN-Mitgliedsstaaten, haben sich durch Verträge angeschlossen. Dreißig internationale Organisationen kommen noch hinzu. (Vgl. Kulow 2022, 8) Es zeigt Chinas weltweite ökonomische Dynamik, die ein riesiges Netz aus 100.000 Kilometern Straßen, über 10.000 Kilometern Eisenbahnlinien, 100 Häfen, 1.000 Brücken, Schulen und Krankenhäuser umfasst. Beispiele: Eine Straßen- und Eisenbahnbrücke über den Padma in Bangladesch, ein riesiges Wasserkraftwerk in Pakistan oder der Testlauf für die erste elektrische Schnellbahnverbindung in Ägypten. (Ebd.) Im Kontext der BRI ist es laut Jenny Simon gelungen, „Überkapazitäten auszulagern, neue Anlagesphären oder Absatzmärkte für chinesisches Kapital zu erschließen, Investments zu diversifizieren und die Regionalisierung des RMB zu fördern.“ (Simon 2022 a, 389) Der chinesische Staat hat sich zu einem in der Welt wichtigsten öffentlichen Geldgeber von Hilfszahlungen und bilateralen Krediten entwickelt. „Schätzungen veranschlagen die bis einschließlich 2017 durch öffentliche chinesische Gläubiger vergebenen Kredite auf etwa 475,7 Milliarden USD. China hat damit global die USA als wichtigsten öffentlichen Kreditgeber überholt und für einige Länder in Asien, Lateinamerika und Afrika auch die Bretton-Woods-Institutionen als größte Geldgeber abgelöst […].“ (Simon 2022 b, 398) Simon verweist darauf, dass mit Blick auf das Verhältnis von Staat und Ökonomie der chinesische Staat als ein „zentraler Akteur in außenwirtschaftlichen Prozessen“ gesehen werden müsse, einschließlich der Ausrichtung „auf eine langfristig erfolgreiche Kapitalakkumulation“. (Ebd., 402) Die BRI sei auf dem Hintergrund der chinesischen Entwicklungsweise zu verstehen, „mag man es nun als Entwicklungsstaat, Staatskapitalismus oder sozialistische Marktwirtschaft verstehen,“ so Uwe Hoering. Für ihn zeigt die „Analyse der Rahmenbedingungen“ jedoch, dass die Umsetzungen Schwierigkeiten bereiten.

Die ‚neuen Seidenstraßen‘ stoßen mittlerweile auf erhebliche finanzielle, politische, ökologische und legitimatorische Probleme. Darin zeigt sich auch ein strukturelles Problem: Staat und Kapital operieren überwiegend in wirtschaftlichen und politischen Hochrisiko-Gebieten. Und der chinesische Staat ist weit davon entfernt, mit seiner ihm zur Verfügung stehenden economic statecraft seine Form der staatlichen organisierten Marktwirtschaft auf internationalem Parkett zu verankern und damit Ambitionen wie Stabilität oder geopolitische Resilienz durchzusetzen.“ (Hoering 2022, 424)

Karsten Weber kommt bezüglich der BRI zu einer äußerst kritischen Einschätzung, da sich dieses gigantische Investitionsprojekt seiner Ansicht nach gegen Arbeiter*innen und Anwohner*innen richtet. „Für die Öffentlichkeit gibt es geschönte Darstellungen des weltumspannenden BRI-Geflechts. […] Allerdings werden Zeitpläne und Versprechen oft nicht eingehalten und insbesondere soziale Projekte nicht umgesetzt. Korruption ist integraler Bestandteil der BRI. Die Investitionen chinesischen Kapitals haben zu knallharter kapitalistischer Ausbeutung geführt – vor allem dort, wo man sich in einem rechtsfreien Raum wähnt.“ (Karsten Weber: Schlaglöcher in der Seidenstraße, in: analyse&kritik v. 21. März 2023)

Entsprechend der ökonomischen Herausforderung hat der Westen reagiert und anlässlich des G7-Gipfels 2021 im britischen Carbis Bay die „Build Back Better World (B3W)“-Initiative als westliches Anti-BRI-Programm ausgerufen, um dem imperialen Machtstreben Chinas Konkurrenz zu machen. Es verfolgt analoge Ziele wie die Vergabe von Krediten und die Gewährung von Hilfsleistungen für Infrastrukturprojekte im globalen Süden. 600 Milliarden US-Dollar sind dafür in einem Zeitraum von 2022 bis 2027 vorgesehen. (Vgl. Kulow 2022, 11)

Dass China seinen eigenen Entwicklungsweg geht, international – politisch wie ökonomisch – an Bedeutung gewinnt, eine multipolare Weltordnung anstrebt und als Großmacht respektiert werden will, stößt auf Widerstand des Westens, hier besonders von den Vereinigten Staaten.

Konkurrenzkampf neuer militärischer Machtblöcke

Mit China auf der einen und den USA mit den NATO-Partnern auf der anderen Seite scheinen sich zwei neue Machtblöcke herauszubilden, die in einem Konkurrenzkampf um militärische und wirtschaftliche Einflusszonen, um Rohstoffe und um politische Macht stehen. Der amerikanische Präsident Biden hat gegenüber China als aufstrebende Weltmacht klar Stellung bezogen. Er sprach aus, „was der neue Rivale nicht werden darf: ‚Das führende Land der Welt, das wohlhabendste Land der Welt und das mächtigste Land der Welt. Das wird nicht passieren, nicht mit mir, denn die Vereinigten Staaten werden weiterhin wachsen und expandieren.‘“ (Joe Biden, zitiert nach Greiner 2021, 217) Die USA haben begonnen, ozeanische Bündnisse zu festigen, die die NATO im Atlantik, sowie Japan, Südkorea und Taiwan im Pazifik umfassen, die sich gegen den Aufstieg Chinas als neuer Weltmacht, als neuem Hegemon, richten. Hinzu kommt der am 12. September 2021 neu gebildete Militärpakt AUKUS (Australia, United Kingdom, United States), der zum Ziel hat, Chinas Aktivitäten im Südchinesischen Meer entgegenzuwirken. Es hat große militärische Bedeutung, wer dort die Kontrolle hat, da es u.a. um wichtige Inselgruppen geht, die von China, von Taiwan, von Vietnam, von den Philippinen, aber z.T. auch von Malaysia und Brunei beansprucht werden. (Vgl. Kronauer 2022 a, 141ff.) Auch Japan und Südkorea wollen nach jahrzehntelangem Streit um japanische Kriegsverbrechen während der Besetzung Koreas von 1910 bis 1945 ihre politischen und militärischen Beziehungen verbessern und in eineasiatisch-pazifische Blockbildung gegen China“, angeführt von den USA, eintreten. „Die USA haben rund 50.000 Soldaten in Japan sowie rund 28.500 Soldaten in Südkorea stationiert. Sie wollen beide Länder in ihren eskalierenden Machtkampf gegen China einspannen. Mangelnde Zusammenarbeit zwischen ihren beiden Verbündeten passt nicht in ihr Konzept.“ (Jörg Kronauer: Blockbildung gegen China, in: junge Welt v. 15.03.2023) Auch die Bundeswehr ist immer häufiger im pazifischen Raum an Militärübungen beteiligt. So hat die Luftwaffe im vergangenen Jahr mit Soldaten aus Japan und Südkorea das Manöver „Pitch Black“ durchgeführt. In diesem Jahr beteiligt sich das Heer an dem Manöver „Talisman Sabre“, das mit Soldaten aus den USA, Australien, Japan und Südkorea in Australien stattfindet. (Ebd.) China ist auf seiner Seeseite eingeschnürt von einer Reihe von US-Militärstützpunkten und Stützpunkten von Verbündeten der USA. Hinzu kommt, dass die USA Ende Oktober 2022 angekündigt haben, sechs Bomber des Typs „B-52“ mit nuklearer Bewaffnung auf dem Stützpunkt Tindal der australischen Luftwaffe in Nordaustralien zu stationieren. China hat dies scharf kritisiert, da dadurch die Spannungen verschärft würden und Frieden und Stabilität ernsthaft in Gefahr gerieten. (Vgl. junge Welt v. 24.11.2022) Die USA entsenden immer mehr Militär in den pazifischen Raum. So gewähren die Philippinen den USA den Zugang zu vier neuen Militärbasen. Strategisch ist dies für die USA äußerst günstig, liegen die Philippinen genau an der Schnittstelle der Einflusssphären zwischen den USA und China. Die nördlichste Insel der Philippinen „liegt rund 180 Kilometer südlich von Taiwan. […] Bereits heute sind dort Zehntausende US-Soldaten stationiert. Sicherheitspartnerschaften gibt es zudem mit Australien und Neuseeland.“ (Backfisch/Hautkapp/Kretschmer: US-Außenminister sagt China-Reise ab, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 04.02.2023)

US-Marineminister:
Unsere Vorherrschaft ist gefährdet

Der US-Marineminister Carlos Del Toro hat vor dem National Press Club in Washington vor einer Übermacht der chinesischen Seestreitkräfte gewarnt und dazu aufgerufen, die amerikanische Schiffsflotte aufzurüsten. China habe mittlerweile eine größere Flotte als die USA. Er sieht „unsere Vorherrschaft auf den Weltmeeren“ durch China gefährdet und bezeichnet dies als „Missachtung der internationalen Ordnung“. Dies sei eine „ernsthafte Bedrohung“ und die USA könnten den Kampf der Kriegsflotten gegen China verlieren. (Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24.02.2023) Die von amerikanischer Seite verkündete chinesische Bedrohung der Hegemonie der USA auf den Weltmeeren wird von dem US-Minister in aller Offenheit als „Missachtung der internationalen Ordnung“ bezeichnet. Die USA sehen sich als natürliche Garantiemacht einer Weltordnung, die das Recht hat, die Regeln dieser Weltordnung nach ihren Vorstellungen zu bestimmen: ein beachtenswertes Selbstverständnis des eigenen Imperialismus. Aus den USA sind immer wieder Stimmen zu hören, die einen Krieg mit China vorhersagen und ihn als unvermeidlich deklarieren. So der hochdekorierte Luftwaffen-General Mike Minihan, „der mit einem Krieg zwischen den USA und der Volksrepublik im Jahr 2025 rechnet – als Folge einer Annexion Taiwans durch Peking“. (Ebd.) Es liegt nahe, dass mit solchen eskalierenden, bewusst eingesetzten Äußerungen die Weltöffentlichkeit auf eine militärische Auseinandersetzung vorbereitet werden soll, und zwar ohne regierungsamtliche Bestätigung.

Massive Aufrüstung steigert Kriegsgefahr

Insgesamt ist in den Ländern Südostasiens eine enorme Aufrüstung festzustellen. So hat Singapur im Dezember 2022 ihre nächsten beiden U-Boote eines Quartetts der deutschen Werft Thyssen-Krupp Marine Systems (TKMS) in Kiel in Empfang genommen. „Moderne Unterseeboote sind im Indo-Pazifik das am meisten begehrte Rüstungsgut: Zwar kosten die Milliarden von Euro. Doch sollen sie bei einem Konflikt zwischen Amerika und China Seewege offen halten.“ (Christoph Hein: Indo-Pazifik rüstet unter Wasser auf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.12.2022) Thailand und die Philippinen stehen ebenfalls vor Käufen. Australien, Indonesien, Malaysia, Vietnam und selbst das bettelarme Myanmar verfügen über U-Boote. Von China mit seinen 58 U-Booten, davon zwölf atomgetrieben, und den USA, die sich als Ordnungsmacht im Indo-Pazifik verstehen, mit seinen 66 U-Booten, davon 50 atomgetrieben, ganz zu schweigen. (Ebd.) Auch Japan rüstet auf. „Als Reaktion auf mögliche Bedrohungen durch China und Nordkorea richtet Japan seine Verteidigungspolitik neu aus und will die Wehrausgaben drastisch erhöhen. […] Das heißt konkret, dass der Militäretat „in den kommenden fünf Jahren um fast 60 Prozent auf 43 Billionen Yen (295 Milliarden Euro)“ erhöht wird. (Patrick Welter: Japan rüstet auf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.12.2022) Damit reagiert Japan auch auf die seit Jahren steigenden Rüstungsausgaben in China. Diese Aufrüstung Japans, eine ‚japanische Zeitenwende‘, ist natürlich ganz im Sinne des militärischen Partners USA, geopolitisch wie wirtschaftlich, da u.a. etliche Waffensysteme, wie z.B. Tomahawk-Marschflugkörper und US-Kampfjets vom Typ „F-35“, in den USA gekauft werden. Die USA beabsichtigen, ihre Militärpräsenz in Japan weiter auszubauen. Die militärischen Vereinbarungen beider Länder nannte der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin einen „historischen Bündnisbeschluss zur Optimierung unserer Militärpräsenz in Japan“. (Jörg Kronauer: Lunte ist gelegt, in: junge Welt v. 31.01.2023)

In China stößt diese milliardenschwere Aufrüstung auf heftige Kritik. Obwohl Japan und China eine Übereinkunft auf kooperative Partnerschaft haben und eine wichtige Verantwortung in der pazifischen Region tragen, besteht ein konkreter territorialer Konflikt um die von beiden Ländern „beanspruchten Senkaku- oder Diaoyu-Inseln [Japan nennt sie Senkaku, China Diaoyu, W.K.] im ostchinesischen Meer“. (Patrick Welter, ebd.) Eine solche massive Aufrüstung im südostpazifischen Raum birgt eine reale Kriegsgefahr. Es geht für die USA und für ‚den Westen‘ um eine „regelbasierte internationale Ordnung“ mit Werten wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die „westlicherseits angestrebte Pax Americana“ stößt jedoch in China auf deutliche Widerstände. Es geht also um Monopolarität oder Multipolarität. „Und damit steht zugleich die Frage der geopolitischen Hegemonie im Raum.“ (Kulow 2022, 3) Die Hegemoniefrage war für die USA nach dem politischen Zerfall des Ostblocks in ihrem Sinn geklärt und soll auch so bleiben. Das Propagieren amerikanischer Werte, das Eintreten für Gerechtigkeit und Demokratie, sollen auch die moralische Überlegenheit der USA und der westlichen Staatengemeinschaft deutlich machen. Der ‚Westen‘ bzw. der ‚globale Westen‘ erlebt seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine eine „ideologische Renaissance“. „Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine feiert das ideologische Konstrukt aus der Zeit des geopolitischen Schwarz-Weiß-Denkens eine kaum mehr für möglich gehaltene Renaissance. Seither steht die politisch-mediale Öffentlichkeit nahezu geschlossen hinter der Tradition der ‚westlichen Moderne‘, die als – wahlweise welthistorisch oder zivilisationsgeschichtlich – einmaliges, in jedem Fall aber einzigartiges und mit allen Mitteln zu verteidigendes Projekt gefeiert wird.“ (Stephan Lessenich: Ein Totgeglaubter ist wieder da, in: Le Monde diplomatique, April 2023) Diplomatische und militärische Unternehmungen werden so legitimiert bzw. Kritik daran delegitimiert.

Unipolarität versus Multipolarität

Der wirtschaftliche und technologische Aufstieg von China auf Weltniveau veranlassten Präsident Barack Obama 2011 den pivot to asia (Schwenk nach Asien) zu verkünden. „Der pivot to Asia verfolgt die Absicht, sich auf die Auseinandersetzung mit dem großen Rivalen zu konzentrieren. Dazu gehörte nicht zuletzt, dass Obamas Verteidigungsminister Leon Panetta im Jahr 2012 ankündigte, die US Navy werde künftig 60 Prozent ihrer Kräfte in der Asien-Pazifik-Region bündeln.“ (Kronauer 2022 b, 30) Für US-Präsident Obama war der Hegemonieanspruch der USA selbstverständlich, da nur die USA eine Ausnahmestellung in der Welt hätten. Dazu passt die Devise des amtierenden Präsidenten Joe Biden „America is back and ready to lead the world!“ (Zit. nach: Kulow 2022, 4) In sehr eindrucksvoller Weise wird dieser weltweite Führungsanspruch in einem Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses, dem Congressional Research Service im Januar 2021 vorgelegt, „wonach als außenpolitische Grundsätze die Ausübung ‚globaler Führung‘, sprich Hegemonie in der Welt; die ‚Verteidigung und Förderung der liberalen internationalen Ordnung‘; die ‚Verteidigung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten‘ sowie die Verhinderung, der ‚Entstehung regionaler Hegemoniemächte in Eurasien‘ zu gelten hätten.“ (Ebd.) Eindrucksvoller kann man den imperialen Anspruch der USA nicht darstellen. Aus US-Sicht wird eine multipolare Weltordnung dem eigenen Führungsanspruch nicht gerecht, während China eine solche Ordnung mit anderen BRICS-Staaten anstrebt. So soll die Multipolarität den Schwellen- und Entwicklungsländern mehr Gewicht geben und westliche Werte und Normen nicht mehr als allgemeingültig akzeptiert werden. So heißt es im Communiqué des Pekinger BRICS-Gipfels im Juni 2022: „Wir bekräftigen unser Bekenntnis zum Multilateralismus durch die Wahrung des Völkerrechts, einschließlich der Ziele und Grundsätze, die in der Charta der UN als deren unverzichtbaren Eckpfeiler verankert sind.“ (Zit. nach Gegenstandpunkt, 3-22, 44) Dass sich Russland nach dem Überfall auf die Ukraine hier positiv auf das Völkerrecht bezieht, verleiht dem Ganzen nicht gerade Glaubwürdigkeit. Neben Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika ist Argentinien nun auch offizielles Mitglied. Der Iran will ebenfalls Mitglied werden und weitere Länder wie Ägypten, Algerien, Äthiopien, Fidschi, Indonesien, Kambodscha, Kasachstan, Malaysia, Senegal, Thailand und Usbekistan ebenfalls. Gespräche werden zudem mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Saudi-Arabien geführt. China will die Kooperation mit den arabischen Staaten ausbauen; dies zeigte der Besuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping im Dezember 2022 in Riad. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) sind auch deshalb interessante Partner, weil sie zu den wichtigsten Energielieferanten Chinas zählen. „Sie sind auch zahlungskräftige Auftraggeber für chinesische Technologie und Infrastruktur. Das ist wichtig für Xis Prestigeobjekt Neue Seidenstraße, das zuletzt durch Zahlungsausfälle in verschuldeten Staaten in Misskredit geraten war und sich nun verstärkt auf solventere Partner stützen soll. Die Vision des saudischen Kronprinzen zum Umbau der eigenen Wirtschaft lässt sich damit gut verbinden.“ (Friederike Böge: Xi Jinping düpiert Iran, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.12.2022) Damit will die Volksrepublik ihren Einfluss in einer Region ausweiten, der bisher hegemonial von den USA beansprucht wird. Auch der Handel Chinas mit den übrigen BRICS-Staaten hat allein im ersten Halbjahr 2022 um 14,1 Prozent auf die Summe von 244 Milliarden US-Dollar zugenommen. (Vgl. Kulow 2022, 6f.)

Der wachsende internationale Einfluss der Volksrepublik zeigt sich aktuell auch darin, dass die politische Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran durch die Vermittlung Chinas zustande kam. Beide Länder führen seit Jahren einen Stellvertreterkrieg im Jemen mit Hunderttausenden von Toten. Für China ist das sicherlich eine willkommene Gelegenheit, sich als „verlässlicher Vermittler“ und Friedensstifter der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Es sei ein „Sieg für Dialog und Frieden“, so der oberste Außenpolitiker Wang Yi. (Zit. nach: Friederike Böge/Rainer Hermann: Seitenhiebe eines Friedensstifters, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13.03.2023) Dieser diplomatische Erfolg Chinas dürfte den USA nicht gefallen haben, da sie ihren Einfluss in dieser Region schwinden sehen. Es zeigt, dass die USA ihren Anspruch als alleinige Ordnungsmacht im Mittleren Osten nicht mehr umsetzen können. Entsprechend titelte das US-Nachrichtenmagazin Newsweek Mitte März: „Chinas Rolle beim saudisch-iranischen Deal zeigt: Die US-Hegemonie ist vorbei.“ (Zit. nach Jörg Kronauer 2023 b, 15)

Das von China am 24.02.2023 vorgelegte Zwölf-Punkte-Papier als eine mögliche Lösung im Ukraine-Krieg stieß im Westen auf zunehmende Ablehnung, da es russische Geländegewinne bestätige. Zumal das westliche Bündnis China als einflussreicher Friedensvermittler ablehnt. Allerdings sagte Selenskyj, er habe darin einige Dinge gefunden, die „nicht so schlecht“ seien. Damit bezog sich der ukrainische Präsident auf den in dem chinesischen Papier formulierten Punkt der Achtung „territorialer Integrität“. (Zit. nach Jochen Stahnke: Chinas strategische Opfer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.03.2023) Für Beijing zeigt die Ablehnung des Zwölf-Punkte-Papiers durch die USA deren unkonstruktive Haltung. Dies verbreitet China auch mit Blick auf die Schwellen- und Entwicklungsländer, wo man ein rasches Ende des Krieges befürwortet, um eine Entspannung auf dem Getreidemarkt herbeizuführen. (Vgl. Jochen Stahnke: Besuch eines alten Bekannten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.05.2023) Wenn die USA und der Westen ihren Widerstand gegen eine Vermittlerrolle Chinas zumindest einschränken würden, ist China m.E. das einzige Land, das politisch wie wirtschaftlich den Einfluss und das Gewicht hat, im Krieg zwischen Russland und der Ukraine einen international akzeptierten Ausgleich herbeizuführen. Vielleicht noch mit der Unterstützung von Indien und Brasilien.

Die USA und die Ein-China-Politik

Der Konfrontationskurs der USA gegenüber China zeigt sich auch in den umfangreichen Waffenlieferungen an Taiwan, der unter Obama 14 Milliarden Dollar betrugen, unter Donald Trump sogar 18 Milliarden Dollar und seit 2020 nochmals 14 Milliarden Dollar.

Aus der Perspektive von US-Militärs besitzt Taiwan eine besondere strategische Bedeutung: Es ist Teil der sogenannten Ersten Inselkette, die von Japan und seinen südlichen Ryukyu-Inseln – darunter Okinawa mit seinen US-Militärstützpunkten – über Taiwan und die Philippinen bis nach Borneo reicht. Wer die Erste Inselkette kontrolliert, kann nicht nur die chinesische hinter sich festsetzen, sondern auch von ihr aus Chinas Festland mit Raketen unter Beschuss nehmen.“ (Kronauer 2022 b, 30)

Ein weiteres Beispiel des bewussten Konfrontationskurses ist darin zu sehen, dass die Geheimdienstchefs vom amerikanischen FBI und vom britischen MI5 im Juli 2022 gemeinsam vor der Presse erklärten, die chinesische Regierung sei „die größte langfristige Gefahr für die wirtschaftlichen und nationalen Sicherheitsinteressen des Westens“. (Kulow 2022, ebd.) Es ist Karin Kulow zuzustimmen, dies als „Spiel mit dem Feuer“ und Ausdruck einer „Arroganz westlichen Machtstrebens“ zu bezeichnen. Für die USA ist der Krieg in der Ukraine gegen Russland nur ein Etappenziel, das Hauptziel ist China.

Der Konflikt im Südpazifik wird noch gefährlicher durch die Dauerrivalität zwischen China und Taiwan und Chinas Ansprüche gegenüber Taiwan. „In Singapur droht der chinesische Verteidigungsminister Taiwan offen mit Krieg, wenn es seine Unabhängigkeit erklären sollte.“ (Friederike Böge/Till Fähnders: Warum die Bedrohung für Taiwan zunimmt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.06.2022) Dieser Konflikt besteht seit der Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949, als sich die im Bürgerkrieg den Kommunisten unterlegenden Guomindang unter der Führung von Chiang Kai-shek nach Taiwan zurückzogen und dort ihre Macht diktatorisch halten konnten. Der Machtkampf zwischen China und den USA, einschließlich der westlichen Unterstützung für die USA, hat durch die immensen Waffenlieferungen an Taiwan, durch den bewusst provokativen Besuch von Nancy Pelosi Anfang August 2022 in Taipei, zu dem Zeitpunkt Sprecherin des Repräsentantenhauses und die politische Nummer drei in den USA, die anschließenden intensiven militärischen Manöver durch China, die zeigten, dass China in der Lage wäre, von der Seeseite Taiwan völlig zu blockieren, deutlich zugenommen. Hinzu kommen chinesische Drohnenflüge über der taiwanesischen Insel Kinmen und der Abschuss einer Drohne durch das taiwanesische Militär. „Dass Beijing heute nicht bereit ist, auf die Wiedervereinigung mit Taiwan zu verzichten, ist auch dem Streben geschuldet, alle einst von den Kolonialmächten besetzten Territorien wieder zu integrieren.“ (Kronauer 2022 b, 28) Zur Erinnerung: Von 1895 bis 1945 war Taiwan eine japanische Kolonie.

Die Republik China, wie sich Taiwan nach 1945 nannte, war nicht nur Gründungsmitglied der UNO, sondern auch Mitglied im Sicherheitsrat. Durch die Entkolonialisierung in Afrika und Asien standen viele der früheren Kolonien auf der Seite von der Volksrepublik China. Die UN-Vollversammlung vom 25.10.1971 verabschiedete die Resolution 2758 mit 76 zu 35 Stimmen bei 17 Enthaltungen für die Mitgliedschaft der Volksrepublik und gegen die Republik China von Taiwan. „In der Resolution stellte sie fest, ‚die Vertreter der Regierung der Volksrepublik China‘ seien ‚die einzigen rechtmäßigen Vertreter Chinas bei den Vereinten Nationen‘. Deshalb sollten ‚alle Rechte‘ der Volksrepublik wiederhergestellt werden, inklusive der Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat.‘“ (Ebd.) Taiwan musste also die UNO verlassen. Die USA, die die Abstimmung verhindern wollten, scheiterten. Die Anerkennung des Ein-China-Prinzips, dass es also nur ein China gibt, zu dem auch Taiwan gehört, wobei die USA letzteres nicht explizit anerkannten, führte dennoch zu diplomatischen Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und den USA am 1. Januar 1979. Die diplomatischen Beziehungen der USA zu Taiwan wurden abgebrochen und hatten fortan nur noch inoffizielle Bedeutung. Obwohl sowohl Beijing wie Taipei weiterhin sich für die jeweils richtige Verkörperung Chinas halten, hat der „Konsens von 1992“, der besagt, dass es nur ein China gibt, bewirkt, dass wirtschaftliche Beziehungen aufgenommen wurden. Taiwanesische Investitionen in der Volksrepublik belaufen sich „laut Angaben aus Taipei im Jahr 2019 auf gut 188 Milliarden US-Dollar, ungefähr doppelt so viel wie die deutschen China-Investitionen. Der Handel zwischen beiden Seiten erreichte im Jahr 2020 166 Milliarden US-Dollar – fast doppelt so viel wie der Handel zwischen Deutschland und den USA.“ (Ebd., 30)

Aus Taiwan kommt der Großteil aller Halbleiter für den Weltmarkt; mindestens 70 Prozent, so US-Außenminister Antony Blinken. (Frankfurter Rundschau v. 12.04.2023) Halbleiter sind Hauptbestandteile von Mikrochips und diese stecken in Smartphones, Laptops, Autos, Kühlschränken, Fernsehgeräten und vor allem auch in Waffen. Nicht nur die Volksrepublik, sondern auch die USA und die EU sind von Taiwan diesbezüglich extrem abhängig. Trotz der sehr intensiven Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Volksrepublik und Taiwan geht der politische Konflikt weiter. Das sog Anti-Abspaltungsgesetz der Volksrepublik von 2005 hat das Ziel einer friedlichen Wiedervereinigung mit hohen Autonomieversprechen an Taiwan. Es schließt aber auch den Einsatz „nicht-friedlicher Mittel“ ein. Die Aufrüstung Taiwans durch die USA, die Ausbildung des taiwanesischen Militärs durch US-Soldaten und hochrangige Besuche von US-Politiker*innen – übrigens auch von Politiker*innen des deutschen Bundestages – unterlaufen das Ein-China-Prinzip, sind gegen den politischen Rivalen China gerichtet und sind als Provokationen einzuordnen. Dass US-Präsident Joe Biden Taiwan im Falle einer militärischen Eskalation mit China militärische Unterstützung versichert hat, hat die Beziehungen zu Beijing weiter verhärtet.

Die deutsche Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag, veröffentlicht am 24.11.2021, eindeutig Partei ergriffen, in dem sie formuliert, dass „die sachbezogene Teilnahme des demokratischen Taiwan in internationalen Organisationen“ zu unterstützen sei. (Zit. nach Kronauer 2022 b, 31) In einem sehr bemerkenswerten Artikel in der konservativen Zeitung FAZ schreibt Stefan Weidner bezüglich einer Rede der Außenministerin Annalena Baerbock in New York unter dem Titel „Denken ohne Geländer“ (in Anlehnung an eine Formulierung der Philosophin Hannah Arendt) folgende Zeilen:

In der Philosophie ist das eine lobenswerte Devise. In der Außenpolitik ist es Irrsinn. Wenige Tage später sah man, wohin es führt. Im brodelnden Kielwasser von Pelosis provokanter Taiwanreise deutete Baerbock einen Vergleich von Chinas Taiwan-Politik mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine an: ‚Wir akzeptieren nicht, wenn das internationale Recht gebrochen wird und ein größerer Nachbar völkerrechtswidrig seinen kleineren Nachbarn überfällt – und das gilt natürlich auch für China.‘ Das war eine Steilvorlage für die Chinesen, und zwar ausgerechnet mit Bezug auf das Völkerrecht: Nach UN-Resolution 2758 (25.Oktober 1971) vertritt die Volksrepublik China ‚Gesamtchina‘, also auch Taiwan. Man kann das bedauerlich finden, es bedeutet aber, dass China in dieser Frage näher am Völkerrecht liegt als Annalena Baerbock oder Nancy Pelosi. Aus dem ‚Denken ohne Geländer‘ wird schrankenlose westliche Überheblichkeit.“ (Stefan Weidner: Politik ohne Geländer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.09.2022)

Von US-Think-Tanks, vom Pentagon und vom Magazin Foreign Affairs werden regelmäßig sog. war games abgehalten, bei denen es um einen Krieg wegen Taiwan gegen China geht. China würde darin zwar nicht Taiwan einnehmen können, die US-Streitkräfte würden allerdings erhebliche Verluste erleiden. Da China als aggressiver Feind gesehen wird, könnte auch eine „präventive Abschreckung“ notwendig sein. (Vgl. Kronauer 2022 b, 32; vgl. außerdem: Konrad Ege: Bei Taiwan könnte es nuklear werden, in: der Freitag v. 29.09.2022)

Chinas Staatschef Xi Jinping, der im März diesen Jahres seine dritte Amtszeit antrat, erklärte in aller Deutlichkeit vor allem an die Adresse der USA gerichtet: „Westliche Länder, angeführt von den Vereinigten Staaten, haben China in allumfassender Weise eingedämmt und unterdrückt, was für die Entwicklung unseres Landes beispiellose Herausforderungen gebracht hat.“ Und der neue Außenminister Qin Gang warnte auf seiner ersten Pressekonferenz Washington vor „katastrophalen Konsequenzen“, wenn „Amerika nicht auf die Bremse tritt, sondern weiter auf dem falschen Weg beschleunigt“. (Zit. nach Friederike Böge: Die Schuldigen sind andere, sagt Xi, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 08.03.2023) Die oben beschriebenen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen deuten allerdings eher auf eine eskalierende statt deeskalierende Strategie hin. So bleibt nur die Hoffnung, dass eine militärische Eskalation um Taiwan nicht bevorsteht und es keinen weiteren Ausrichtungskampf und Krieg in einer neuen multipolaren Weltordnung gibt.

Stand: Mai 2023

Literatur

  • Greiner, Bernd 2021: Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben, München.
  • Hoering, Uwe 2022: Internationalisierung des chinesischen Ordnungsmodells, in: PROKLA 208, 409-427.
  • Kronauer, Jörg 2022 a: Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg, Köln.
  • Kronauer, Jörg 2022 b: War Games, in: Konkret, Heft 10, Hamburg, 28-32.
  • Kronauer, Jörg 2023 a: Der Chip-Krieg, in: Konkret, Heft 2, Hamburg, 24-27.
  • Kronauer, Jörg 2023 b: „Der einzige Konkurrent“, in: Konkret, Heft 5, Hamburg, 12-15.
  • Kulow, Karin 2022: Die geopolitische Konfrontation zwischen China und dem Bündnis des Westens, in: Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. (Hg.): isw-report 130, 3-13.
  • Simon, Jenny 2022 a: ‚Lock-In‘ statt ‚Grand Strategy‘, in: Das Argument, Heft 3/2021, erschienen Mai 2022, 382-394.
  • Simon, Jenny 2022 b: Die Rolle des Staates in der Internationalisierung der chinesischen Finanzbeziehungen, in: PROKLA 208, 385-408.
  • Wolfgang Kastrup ist Mitglied der Redaktion des DISS-Journals und im AK Kritische Gesellschaftstheorie.

Dieser Beitrag stammt aus dem DISS-Journal#45 (Juni 2023). Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.