„Es geht um unsere Nation. Es geht um unsere Freiheit.“

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Lektionen aus dem Ukraine-Krieg
aus der Sicht der
Jungen Freiheit

Von Helmut Kellershohn

Die jungkonservative Wochenzeitung Junge Freiheit (JF) gehört bekanntlich zu der publizistischen Fraktion der Neuen Rechten, die sich dem Mainstream am nächsten platziert. Dieter Stein, JF-Chefredakteur und Geschäftsführer des Herausgebervereins, unterstrich jüngst anlässlich des zehnjährigen Bestehens der AfD, dass die deutsche Rechte nach dem Vorbild der Schwedendemokraten und Giorgia Melonis endlich die vorhandene Mitte-Rechts-Mehrheit, bestehend aus Union, AfD und FDP, für eine „Politikwende“ nutzbar machen müsse. Stein fragt: „Wann kommt diese Mehrheit erstmals zum Tragen? Das Tabu könnte kommendes Jahr fallen. Dann werden in Sachsen, Brandenburg und Thüringen neu gewählt.“ (JF 6/23, 1)

Nun wird Stein wissen, dass gerade in diesen Ländern die AfD von den „Flügel“-Leuten rund um Björn Höcke dominiert wird, metapolitisch unterstützt von der Konkurrenzfraktion der Neuen Rechten um das Institut für Staatspolitik (IfS) und propagandistisch befeuert vom Querfront-Magazin Compact um Jürgen Elsässer. Aus deren Sicht ist die JF zu einem konservativ-liberalen Blatt ‚degeneriert‘, dessen Mitte-Rechts-Kurs abzulehnen ist. Erik Lehnert vom IfS hat, ebenfalls aus Anlass des zehnjährigen Bestehens der AfD, die Gegenposition so bestimmt: „[…] mit zunehmender Stärke der AfD […] kommt die eigentliche Charakterprüfung für sie: ob sie nämlich der Verlockung widerstehen kann, ein gleichberechtigter Teil der Beutegemeinschaft der Parteien zu werden, und ob sie die innere Spannung bis zu dem Moment halten kann, in dem sie in der Lage ist, den anderen die Bedingungen für eine Zusammenarbeit zu diktieren.“ (Sezession 112, 19) Wie Zusammenarbeit auf der Basis von Diktaten, zumindest im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie, funktionieren soll, darüber schweigt Lehnert.

Der Kampf zweier Linien schlägt sich auch in ideologischen Kontroversen nieder, wie aktuell in den konträren Positionierungen zum Ukrainekrieg. Im Folgenden geht es im ersten Teil um die Haltung der Jungen Freiheit. Der zweite Teil wirft die Frage auf, inwieweit die JF als jungkonservatives Organ mit ihren Positionen einen Resonanzboden in der AfD-Bundestagsfraktion findet, in der bekanntlich viele „Putinversteher“ bis hinein in die Fraktionsspitze agieren.

I. Die Junge Freiheit zum Ukrainekrieg

Der russische Angriffskrieg wird nicht gutgeheißen (Karlheinz Weißmann, JF 15/22, 18), als „imperialistischer Vorstoß“ (Dieter Stein, JF 10/22, 1) deklariert, in der Frage der Sanktionspolitik und der Waffenlieferungen lässt man gegensätzliche Positionen zu Wort kommen.1 Der Tenor liegt freilich auf etwas anderem: „Der Selbstbehauptungswille der Ukrainer ist nicht nur bewundernswert, er ist eine Lektion: eine Lektion in Sachen unserer Dekadenz“ (Weißmann). Die Ukrainer also als Vorbild nationaler Willensstärke, die den Deutschen fehle, weil sie „über Jahrzehnte Niedergang und Zerfall“ zugelassen hätten. Es ist daher kein Zufall, wenn Dieter Stein, Chefredakteur der JF, einen Brief an die LeserInnen des Blattes (08. April 2022) mit der Parole überschreibt: „Es geht um unsere Nation. Es geht um unsere Freiheit.“

Zeitenwende – aber richtig!

Wie dies zu verstehen ist, zeigt der Kommentar Dieter Steins nach Ausbruch des Krieges und kurz nach der „Zeitenwende“-Rede des Bundeskanzlers (JF 10/22, 1). Stein nimmt den Krieg zum Anlass, über dessen Bedeutung für eine „realpolitische Kehrtwende“ deutscher Politik nachzudenken. Der russische Angriff habe die „Prioritäten unserer Regierung korrigiert“ und die „Hierarchie der Ziele“ auf Seiten der politischen Klasse infrage gestellt. Ausdruck der veränderten Lage sei der Wille der Bundesregierung, die „zügige Aufrüstung der Bundeswehr“ zu betreiben. Endlich sei damit dem „letzten Deutschen“ klar geworden, wie „verletzbar im Ernstfall ein Staat ist, der nicht vorgesorgt hat, dessen Souveränität sich nicht auf von ihm selbst kontrollierte Waffengewalt stützen kann.“ Militärische Bedrohung sei jetzt keine „abstrakte Phantasie“ mehr.

Der Ukraine-Krieg hält also eine Lehre bereit: „Wir werden gezwungen, die Wahrnehmung des Politischen neu zu kalibrieren, den Realitäten ins Auge zu schauen“ und endlich zu erkennen, „daß Frieden nur um den Preis der Verteidigungsfähigkeit zu haben ist“ und einen „kollektiven Willen“ zum Waffeneinsatz im Notfall erfordere. Putin rufe in Erinnerung, „welche existentielle Bedeutung die Abschreckung hat, die sich im Zweifel auch auf atomare Sprengköpfe gründet, die in Deutschland im Rahmen des Bündnisses stationiert sind“; selbst „Kernwaffen unter deutschem Kommando“ seien jetzt ernsthaft im Gespräch.

Entscheidend aber ist für Stein ein „tiefgreifender Mentalitätswandel“ einer bislang „pazifistisch gestimmten Öffentlichkeit“. Um einen solchen Wandel herbeizuführen, sei eine „grundlegende Remedur“ notwendig:

Abschied von einer hypermoralischen Außen- und Sicherheitspolitik und der Idee einer „Weltinnenpolitik“,

Abschied von einem „wirklichkeitsfremden Menschenbild“, das weltweit keine gegensätzlichen Interessen und Konflikte kenne,

Abschied von einer „fehlgeleiteten Energiepolitik“ (Atom- und Kohleausstieg), die Deutschland erpressbar gemacht habe, und

Abschied von einer durch die mediopolitische Klasse allseits beförderten „pazifistischen Mentalität“.

Stein ist überzeugt, dass solch eine realpolitische Kehrtwende unter einer linken Regierung nicht möglich sein werde. In Machtfragen bescheinigt er ihr schlicht Inkompetenz. Putin dagegen setze in der Ukraine „alles auf eine Karte“. Wolle „Deutschland künftig seine Verantwortung im Zentrum des Kontinents wahrnehmen“, müssten endlich die „nationalen Interessen“ definiert werden. Dazu gehören Stein zufolge die Verfügung über ein „ausreichendes eigenes militärisches Potential“, auch unabhängig von den USA, und die Sicherung der Souveränität der ostmitteleuropäischen Nationalstaaten, die er damit zu einer deutschen Angelegenheit erklärt.2 Am wichtigsten aber sei mit Blick auf die EU die grundsätzliche Entscheidung, ob die Deutschen ihre Nation auflösen oder wie andere europäische Nationen ihre Staatlichkeit und die Fähigkeit zur Selbstbehauptung („auch im Rahmen der EU“) verteidigen wollen. Der Krieg könne zum „Katalysator“ werden zur Klärung des deutschen Selbstverständnisses.

Selbstbewusste Nation“

Stein wünscht sich, wie er im Juli 2022 in einem Grundsatzartikel für die rechtskonservative, in Ungarn erscheinende Zeitschrift The European Conservative (H. 22) schreibt,3 Deutschland als „selbstbewußte Nation“. Anknüpfend an das Credo der realpolitischen Kehrtwende wiederholt er die Forderung nach einem „tiefreifende[n] Wandel der nationalen Mentalität“, beschwört den „preußischen Militärgeist“, kritisiert die Haltung der Eliten als „liberal und postnational“, äußert sich geringschätzig über die halbherzige „Zeitenwende“ und beklagt erneut die frühere Energiepolitik („Geisel russischer Ressourcen“). Zusätzlich polemisiert er gegen Deutschlands Migrationspolitik seit Merkel, verteidigt in diesem Zusammenhang die Position Polens und Ungarns, die freilich gegenüber ukrainischen Flüchtlingen eine „bewundernswerte humanitäre Hilfe“ leisteten, während die Bundesregierung „unter dem Einfluß linker Migrationslobbyisten und anderer Nichtregierungsorganisationen […] sich weigert, zwischen echten Flüchtlingen und illegalen Migranten zu unterscheiden“. Deutschland müsse endlich aufhören, sich als „Hippie-Staat, der nur von Gefühlen geleitet wird“ (Anthony Glees), zu präsentieren. In der Frage der Integration von Zuwanderern und Ausländern müsse Deutschland auf dem Schutz „nationale[r] Identität“ bestehen und sich diesbezüglich von seinem „tiefsitzenden Schuldkomplex[ ], der in den Verbrechen des Dritten Reiches wurzelt“, lösen.

Neuerdings würden auch die „woken“ Kulturkriege Deutschland – aber nicht nur Deutschland, sondern den gesamten „Westen“ – ‚zersetzen‘ und „angesichts der Bedrohung durch autoritäre und diktatorische Regime wie Rußland und China“ die Demokratie ‚untergraben‘. Es sei nun an der Zeit, „daß ein freiwillig am Boden liegender deutscher Riese [!] endlich aufsteht und ein erwachendes Land wird, das in der Lage ist, einer gefährlichen Welt ins Gesicht zu sehen“.

Europäische Sicherheitsarchitektur“

Ein Jahr nach Beginn des Ukraine-Krieges (JF 9/23, 1) wiederholt Stein wesentliche Aussagen und versucht sie zu präzisieren. Die Forderung nach einer „realpolitischen Kehrtwende“ der deutschen Politik klingt erneut an, wenn er „Die offene deutsche Frage“ (Titel) thematisiert, also eine Situation der Entscheidung beschwört, der sich Deutschland stellen müsse. Wofür sich die deutsche Politik entscheiden müsse, stellt Stein bereits im Untertitel klar: „Für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur kommt es auf Berlin an“.4

Stein beginnt mit einem Rückblick auf das „Jahr der Desillusionierung“:

– Der Angriff russischer Truppen auf die Ukraine sei für das Gros der Experten überraschend gekommen. Man habe den „monatelangen Aufmarsch“ fälschlicherweise als einen „Bluff im Poker mit dem Westen und Kiew abgetan“.

– Viele Experten hätten sich ein zweites Mal geirrt, als sie „rasche Siege der als haushoch überlegen eingeschätzten russischen Armee“ vorhergesagt hätten. Der Angriff auf Kiew und eine landesweite Invasion sei zurückgeschlagen worden.

– Der Krieg habe sich dann wie im Ersten Weltkrieg zu einem fürchterlichen Stellungs- und Abnutzungskrieg entwickelt.

– Mit dem Krieg sei die „Illusion einer tragfähigen Friedensordnung des postsowjetischen Raums in Ostmitteleuropa“ zerfallen, optional beispielsweise in Form einer Zwischenzone „jenseits von NATO/EU und Russischer Föderation“. Eine solche „Option“ des „‘Dazwischen‘“ sei aber gescheitert, einerseits an den Sicherheitsbedürfnissen der in den 1990er Jahren entstanden Nationalstaaten, deren Gewährleistung sie der NATO anvertraut hätten, weil – logischerweise – „die Europäer alleine nicht in der Lage“ gewesen seien, entsprechende Garantien zu geben. Rußland andererseits habe befürchten müssen, dass sich auch noch „die großen Flächenstaaten Weißrußland und Ukraine dauerhaft seinem Zugriff entziehen und künftig ebenfalls dem westlichen Bündnis anschließen könnten“.

Damit kommt Stein zu seinem eigentlichen Thema, nämlich der Rolle Deutschlands beim (bisherigen) Scheitern einer „belastbare[n] europäischen Sicherheitsarchitektur“, wobei die Betonung auf europäisch liegt. Entscheidend ist für Stein die „Schwäche Deutschlands“, deren Ursachen er auf die Modalitäten der Wiedervereinigung zurückführt, genauer auf das Versagen der deutschen Eliten. Diese hätten es versäumt, die Rolle der deutschen Nation zu definieren, nämlich „im Zentrum eines Kontinents […], der seine Teilung überwunden hatte und damit auch größere Eigenständigkeit hätte gewinnen können.“ Stattdessen habe man „vor dem 1989 erfolgten Rückruf in die Geschichte“ – Stein bezieht sich hier auf ein Buch von Karlheinz Weißmann (1993) – die „Flucht“ angetreten, „um sich als Nation schnellstmöglich in Europa aufzulösen“. Dieses Versagen wiederhole sich in der Situation des Ukrainekriegs: Die „deutsche Schizophrenie“ bestünde aktuell darin, „mit deutschen Panzern die ‚Auslöschung der ukrainischen Sprache, Kultur und Identität‘ (Katrin Göring-Eckardt) zu bekämpfen, gleichzeitig die Aufgabe der eigenen nationalen Identität aber quasi zum Staatsziel erhoben zu haben“. Gleichermaßen beklagt er den – aus seiner Sicht – eklatanten Widerspruch zwischen „waffenklirrenden Bekenntnissen“ insbesondere grüner Politiker einerseits und der „Verachtung eigener Wehrhaftigkeit, Herabwürdigung des eigenen Soldatentums, Verhöhnung der eigenen Nationalgeschichte“ andererseits. Stein kritisiert die Illusionen „feministischer“ Außenpolitik mit ihrem Appell an die „‘Weltgemeinschaft‘“ und der Beschwörung des „‘Weltfrieden[s]‘“ ebenso wie die Forderungen nach Waffenstillstand und Verhandlungen (s. Schwarzer-Wagenknecht Manifest) als Ausdruck von „Realitätsverweigerung gegenüber dem, was das Wesen von Politik“ ist als Machtkampf zwecks Erhaltung „des eigenen Staates und der eigenen Nation“.

Kern nationaler Macht aber, so die Lehre des Ukrainekrieges, sei die Souveränität, die Deutschland abgehe. Dem bekannten Diktum Carl Schmitts folgend, wonach souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, bringt Stein diesbezüglich erneut die Verfügung über Atomwaffen ins Spiel.5 „Solange ein Staat nicht über eigene Atomwaffen verfügt, ist seine Souveränität begrenzt. Glaubt dieser Staat weiterhin generell darauf verzichten zu können, eigene Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit zu organisieren, liefert er sich vollständig fremden Interessen aus und ist permanent erpressbar.“ Unter den gegebenen Bedingungen allerdings hält er es für „vollkommen realitätsfern […], daß Deutschland aufgrund seiner geographischen Lage, seines wirtschaftlichen Gewichts und seiner historischen Erfahrung seine Sicherheit jenseits eines Verteidigungsbündnisses der europäischen Nationen organisiert. Mangels deutscher und europäischer Atomstreitkraft muß dieses Bündnis auf absehbarer Zeit die USA notwendig einschließen.“ (Hervorh. Vf.) Zur NATO gebe es zurzeit „keine Alternative“, was doch Schweden und Finnland mittlerweile erkannt hätten.6 Eine antiamerikanische Politik nach dem Motto „Ami go home“, wie sie etwa von Jürgen Elsässer propagiert wird, oder eine europäische Großraumkonzeption à la Höcke unter Ausschluss der USA hält Stein bis auf Weiteres für abwegig. Sicherlich sei aber dies notwendig: „Wenn wir in diesem Konzert westlicher Nationen US-amerikanische Zumutungen und Einmischungen in die Schranken weisen wollen, dann müssen wir endlich mehr Gewicht in die Waagschale legen: politisch, militärisch, mental.“ Vor dieser Aufgabe, so Stein, „weichen wir noch immer aus“.

II. Die Debatte über den sog. „Friedensplan“
in der AfD-Bundestagsfraktion

Von Alexander Gauland stammt bekanntlich der Satz: „Wer die AfD verstehen will, muß die JF lesen“. Das gilt schon seit längerem nicht mehr uneingeschränkt, weil sich die JF die Rolle des Influencers mit dem konkurrierenden Institut für Staatspolitik teilen muss. Auch in der AfD tobt der „Kampf zweier Linien“, seit dem Bundesparteitag in Riesa 2022 mit deutlichen Vorteilen für den ehemaligen „Flügel“ mit Björn Höcke als Galionsfigur. Es verwundert daher nicht, dass in der Frage der Haltung zum Ukrainekrieg die Positionen aufeinanderstoßen und der Streit seit Höckes Kriegsrede in Gera Fahrt aufgenommen hat. Höckes Legitimation des russischen Vorgehens als eines Verteidigungskrieges gegen die USA, die sich als „raumfremde Macht“ der Ukraine als Werkzeug gegen Russland (und Europa) bediene, stand im offenen Widerspruch zum Kompromisspapier der Bundestagsfraktion vom März 2022. Dieses Papier kritisierte den russischen Angriffskrieg als völkerrechtswidrig, lehnte allerdings Sanktionen und Waffenlieferungen ab und plädierte für eine Verhandlungslösung, die aber, so Gauland in einem JF-Interview, Russland nicht als Kriegsverlierer erscheinen lassen dürfe. Gegenüber standen sich also eine offene Parteinahme für die russische Seite (Höcke) und eine eher sich realistisch gebende Position, die die Berücksichtigung russischer Sicherheitsinteressen in einer Nachkriegsordnung für unabweisbar hält. Dass auch diese realpolitische Position den Keim für weitere Konflikte enthielt, je nachdem wie die russische Interessenlage konkret definiert wird, liegt auf der Hand. Sie bot jedoch zunächst die Möglichkeit, die AfD in der Öffentlichkeit als „Friedenspartei“ von den sog. Altparteien abzusetzen und möglichst Einfluss auf die erwarteten Demonstrationen der Friedensbewegung zu gewinnen. Dankbar nahm denn auch Partei- und Fraktionschef Tino Chrupalla die Gelegenheit wahr, das Schwarzer-Wagenknecht Manifest für Frieden zu unterzeichnen und die Arbeit an einem „Friedensplan“ unter Federführung Gaulands zu unterstützen.

Freilich sorgte der Ende Januar 2023 der Fraktion vorgelegte „Plan“ für eine kontroverse, teils heftige Debatte, über die die JF berichtete. Der „Plan“ musste zurückgezogen werden und überarbeitet werden.7 In abgespeckter Form und nunmehr als „Friedensinitiative“ deklariert, wurde er als Antrag in den Bundestag eingebracht und von Gauland in der Sitzung vom 9. Februar präsentiert.8 Gegenüber dem ursprünglichen Text fallen drei Veränderungen9 ins Auge:

1. Eingefügt wurde die Formel vom „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“, auf die die Verfasser des „Plans“ ganz im Sinne Höckes verzichtet hatten (im Gegensatz zur gemeinsamen Erklärung der Fraktion vom März 22).

2. In der Präambel wurde ein Halbsatz gestrichen, der unmittelbar auf Höckes Kriegsrede Bezug nimmt: „Die europäischen Nationalstaaten müssen in einer sich herausbildenden multipolaren Weltordnung souverän und unabhängig über ihre Sicherheit entscheiden und dürfen ihr Territorium nicht in Einflußsphären raumfremder Mächte aufteilen lassen.“ Der letzte Halbsatz, primär gegen die USA gerichtet (trotz des Plurals „Mächte“!), entfiel.

3. Die alte Fassung sprach sich für die „Anerkennung der Krim als integraler Bestandteil des Staatsgebietes der Russischen Föderation seitens der Ukraine und der Garantiemächte“ aus, ein Punkt, der in der Fraktion besonders kritisiert wurde. Die Krimfrage soll nun durch „bilaterale Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland“ in einem Zeitraum von 15 Jahren gelöst werden.

Unabhängig von diesen Zugeständnissen an die innerfraktionellen Kritiker muss betont werden, dass in beiden Fassungen, wenn auch in einem unterschiedlichen Ausmaß, russische Interessen festgeschrieben werden: Die Ukraine darf kein NATO und kein EU-Mitglied werden, muss sich mit einer privilegierten EU-Partnerschaft begnügen, und in militärischer Hinsicht dürfen keine Atomwaffen, Raketen und ausländische Truppen stationiert werden. Die vier bislang von Russland beanspruchten und teils besetzten Provinzen (Oblasten) sollen nicht an die Ukraine zurückfallen bzw. – soweit nicht besetzt – bei ihr bleiben, sondern UN-Mandatsgebiete werden, in denen – nach Rückkehr der Kriegsflüchtlinge – Abstimmungen über die staatliche Zugehörigkeit stattfinden sollen.

Der Verlauf der Debatte über Gaulands „Friedensplan“ war sicherlich im Sinne der JF. Gauland verzichtete gar in seiner Rede vor dem Bundestag am 9. Februar auf seine Formel, Russland dürfe den Krieg nicht verlieren. Stattdessen wandte er sich gegen ein Denken in Kategorien der „militärischen Logik“ auf Seiten der ‚Altparteien‘, „weg von einem Sieg der einen und einer Niederlage der anderen Seite“, und forderte: „Es darf diesen Krieg keiner gewinnen“, wobei er allerdings geflissentlich übersah, dass die Einschränkung der Souveränität der Ukraine durchaus Bestandteil der „Friedensinitiative“ ist und die Rückgabe der Krim sicherlich nicht auf dem Wege von friedlichen Verhandlungen zu erwarten ist. Und was die russische Seite angeht, darf man bezweifeln, dass sie das von der „Friedensinitiative“ anvisierte Ergebnis nicht als eine „Niederlage“ betrachten würde. Summa summarum steht die Initiative also auf tönernen Füßen.

Aus der Sicht der JF ist das aber nicht der entscheidende Punkt. Für die JF war die Opposition in der Fraktion gegen den ursprünglichen „Friedensplan“ und die ‚Höckerisierung‘ der außenpolitischen Optionen der AfD von Bedeutung. Ihr kam es daher auch recht gelegen, dass Chrupalla am 2. Februar zusammen mit dem russischen Botschafter in der Gedenkstätte Seelower Höhen Kränze zum Gedenken an die in Stalingrad Gefallenen niederlegte. Während Chrupalla eine „gemeinsame Erinnerungskultur“ pflegen wollte, schränkte der russische Botschafter die Gemeinsamkeit dahingehend ein, dass man „gemeinsam der Soldaten der Roten Armee gedacht“ habe, die im „Kampf gegen den deutschen Nazismus gefallen“ seien. JF-Autor Christian Vollradt empörte sich und verbat sich ein Deutschland „mit Hammer und Zirkel“. An die AfD gerichtet schrieb er: „Frieden, Versöhnung, ja gern – aber auf Augenhöhe, nicht als fünfte Kolonne. Eine eigenständige Position gegen den aktuellen Mainstream – warum nicht? Aber doch nicht als schmückendes Beiwerk für die Propaganda fremder Mächte.“10

Ein neues Positionspapier

Anscheinend haben sich große Teile der Fraktion diese Mahnung zu Herzen genommen. Ende März legten Jan Nolte, Hannes Gnauck, Martin Hess und Peter Felser ein Positionspapier „zu Bundeswehr und Ukraine“ vor, das mehrheitlich von der Fraktion angenommen wurde.11 Das Papier versucht in drei Punkten das Bild, das die AfD, angeblich durch „mediale Verdrehungen“ mitverursacht,12 in der Öffentlichkeit abgebe, zu korrigieren. Die ersten beiden Punkte richten sich gegen eine zu starke Russlandnähe mancher AfD-Abgeordneter, insbesondere gegen Höckes Ostorientierung, und kritisiert einen platten Antiamerikanismus. Zwar habe „westliche Politik die Eskalation in der Ukraine begünstigt“, der russische Angriff könne aber damit nicht gerechtfertigt werden und sei daher „klar zu verurteilen“. Die Antwort auf eine „verkürzte und einseitige Darstellung des Ukrainekrieges in Deutschland“ könne daher nicht in einer „kritiklose[n] Übernahme russischer Positionen“ bestehen. Die AfD müsse sich um „eine differenzierte Bewertung entlang deutscher Interessen“ bemühen. „Berechtigte Kritik an der US-Außenpolitik befürworten wir, plumpe, antiamerikanische Reflexe jedoch nicht.“

Der dritte Punkt wendet sich gegen ein falsch verstandenes Bild der AfD als „Friedenspartei“ und gegen den Eindruck, die AfD suche die Nähe zum linken Pazifismus. Die Bedeutung der Bundeswehr, in der man sicherlich nicht ohne Grund ein wichtiges Sympathisantenpotenzial sieht, wird unterstrichen. Die AfD stehe „fest an der Seite unserer Bundeswehr“ und unterstütze eine Stärkung der Streitkräfte: „Dass wir im Ukraine-Krieg Diplomatie statt Waffenlieferungen fordern, macht uns nicht zu Verbündeten linker Pazifisten.“

Wie gesagt, dem Beschlussantrag der vier Abgeordneten wurde mehrheitlich in der Fraktion zugestimmt. Selbst Chrupalla pflichtete dem Antrag bei. Vergleicht man den ‚Geist‘ des Papiers mit den Positionen der JF, ist eine gewisse Nähe erkennbar. Die Kritik an einer einseitigen Russlandnähe bzw. Ostorientierung, die Kritik an einem platten Antiamerikanismus und die Betonung der Stärkung der Bundeswehr sind im Sinne der von der JF verfolgten Linie. Ob demnächst auch in anderen außenpolitischen Fragen, wie dem 2021 auf Betreiben Höckes beschlossenen DEXIT, ein Dissens in der Bundestagsfraktion aufbricht, bleibt abzuwarten. Die nächste Europawahl steht vor der Tür.

1 Vgl. z.B. https://jungefreiheit.de/debatte/2023/wie-haeltst-du-es-mit-den-panzern/.

2 Karlheinz Weißmann verweist diesbezüglich in seiner „Standortbestimmung“ auf Deutschlands Verpflichtungen gegenüber „unseren Nachbarn, insbesondere jenen des ‚zwischeneuropäischen‘ Raums, der sich von der deutschen Ostgrenze bis zur russischen Westgrenze dehnt“. Der Begriff „Zwischeneuropa“ erinnert an das bekannte gleichnamige Buch von Giselher Wirsing (1932), damals Mitarbeiter des TAT-Kreises und Mitglied der Deutsch-Akademischen Gildenschaft, der Vorläuferorganisation der DG, und später SS-Sturmbannführer. Zum ideologischen Gehalt der Zwischeneuropa-Idee als einer auf die deutsche Hegemonie abzielenden Raumkonzeption vgl. Hans Hecker: Die Tat und ihr Osteuropa-Bild 1909-1939, Köln 1974, 158-172.

3 Dieter Stein: The Weak Giant. Dt. Übers: https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2022/deutschland-weak-giant/

4 Eine neue „Sicherheitsarchitektur für Europa und die Welt“ fordert der umstrittene US-amerikanische Jurist Alfred de Zayas als Bestandteil eines recht vage gehaltenen, acht Punkte umfassenden Friedensplans in der FPÖ-nahen Zeitschrift zurZeit (Herausgeber u.a. der langjährige JF-Autor Andreas Mölzer). Vgl. zurZeit 9/2023, 32-37; vgl. auch sein Interview mit Götz Kubitschek auf sezession.de, in dem er bzgl. der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines die Darstellung von Seymour Hersh als „kohärent“ bezeichnet (sezession.de v. 21.03.2023).

5 Im Oktober 2022 forderte die Junge Alternative auf ihrem Bundeskongress „Atomwaffen für Deutschland“. Der verteidigungspolitische Sprecher der AfD Rüdiger Lucassen verlautbarte: „Glaubhafte Abschreckung setzt atomare Fähigkeiten voraus. Wer also unser Land möglichst unabhängig gegen militärische Bedrohungen schützen will, muss ernsthaft über die atomare Bewaffnung Deutschlands nachdenken.“ Chrupalla und Alice Weidel, besorgt um das inszenierte Image der AfD als Friedenspartei, wiesen ein solches Ansinnen zurück. Vgl. https://taz.de/AfD-streitet-ueber-nukleare-Bewaffnung/!58892311/ (18.10.2022).

6 Vgl. dagegen Erik Lehnert, der in der Sezession 113, 6 fragt: „Wenn EU-Europa und NATO antideutsche Veranstaltungen sind, wie stellen wir uns dann zu diesen Zusammenschlüssen?“ (Hervorh. v. Vf.) Und mit einem Seitenhieb auf die JF fragt er weiter: „Und ist nicht dort auch die Neigung besonders groß, die Lügen der Amerikaner zu glauben, insbesondere in Hinblick auf den Ukrainekrieg?“.

7 Vgl. Marcus Bensmann: Krach in der AfD-Bundestagsfraktion über prorussischen „Friedensplan“ (26.01.2023), online unter https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2023/01/26/krach-in-der-afd-bundestagsfraktion-ueber-pro-russischen-friedensplan/

8 AfD-Antrag: Deutschlands Verantwortung für Frieden in Europa gerecht werden – Eine Friedensinitiative mit Sicherheitsgarantien für die Ukraine und Russland (Deutscher Bundestag, Drucksache 20/5551); Rede Alexander Gaulands vor dem Deutschen Bundestag, 20. Wahlperiode, 85. Sitzung, 9. Februar 2023.

9 Vgl. Christian Vollradt: „Friedensplan“ – der zweite Versuch (06.02.2023), online unter https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2023/friedensplan-der-zweite-versuch/

10 Christian Vollradt: Nicht auf Augenhöhe, online unter https://jungefreiheit.de/debatte/kommentar/2023/afd-nicht-auf-augenhöhe/. Im Gespräch mit Chrupalla kritisiert auch Götz Kubitschek dessen Auftritt bei der Gedenkfeier (Sezession.de v. 11.05.2023).

11 Vgl. https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2023/afd-russland-ukraine (29.03.2023)

12 Laut JF-Berichterstattung (JF 15/23, 5) diente der Verweis der Verfasser auf die „medialen Verdrehungen“ dazu, „ihr Anliegen gewissermaßen“ zu entschärfen und einen „allzu konfrontativen Tonfall“ zu vermeiden: „Denn in Wirklichkeit […] ging es vielen in der Fraktion nicht um ‚mediale Verdrehungen‘, sondern um tatsächliche Wortmeldungen vereinzelter AfD-Politiker“, die u.a. den „Eindruck vermittelten, die AfD habe sich in dem Krieg einseitig auf die Seite Rußlands geschlagen.“

Dieser Beitrag stammt aus dem DISS-Journal#45 (Juni 2023). Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.