„Die Abgehobenen“ – ein neues Buch des Elitenforschers Michael Hartmann
Eine Rezension von Wolfgang Kastrup. Erschienen in DISS-Journal 36 (2018)
„Die Eliten sind in ihrer großen Mehrheit inzwischen so weit von der breiten Bevölkerung entfernt, dass sie zunehmend Schwierigkeiten haben, deren Probleme zu erkennen und die Folgen ihrer Entscheidungen für die Bevölkerung zu verstehen“: Dies ist keine Elitenkritik, wie sie neuerdings besonders von rechten Parteien und Bewegungen erfolgt, um sich selbst als das wahre Volk darzustellen. Vielmehr analysiert hier Michael Hartmann, renommierter empirischer Soziologe und bis 2014 Professor an der Technischen Universität Darmstadt, sehr genau und anhand vieler Beispiele aus Deutschland, den USA, Großbritannien und Frankreich, inwieweit die Eliten aus Wirtschaft, Politik, Justiz, Verwaltung und Medien in ihrer großen Mehrheit immer mehr zu einer geschlossenen Gruppe werden und so die Demokratie gefährden.
Der Autor verbindet damit zugleich eine Kritik an der neoliberalen Politik, die mit der Liberalisierung der Wirtschafts- und Finanzmärkte verhängnisvolle Konsequenzen für die breite Bevölkerung bewusst auslöste und für eine tiefe soziale und finanzielle Spaltung in der Gesellschaft sorgte.
Seinen Elitenbegriff definiert Hartmann wie folgt: „Elite, das sind jene Personen, die qua Amt oder – wie vor allem in der Wirtschaft – qua Eigentum in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen. Der zentrale Maßstab für die Zugehörigkeit zu einer Elite ist daher die Macht, über die eine Person verfügt.“ (33) Um dies zu konkretisieren, müsse z.B. bei Politikern unterschieden werden, inwieweit sie wirklich Macht ausüben, was bei einem einfachen Landtags- bzw. Bundestagsabgeordneten nicht der Fall sei. Bei Regierungsmitgliedern treffe dies allerdings sehr wohl zu. (Vgl. 37)
Zur Wirtschaftselite gehörten solche Personen, die als Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzende großer Konzerne über konkrete Unternehmungspolitik bezüglich Investitionen, Fusionen und Verlagerungen entscheiden, mit den entsprechenden Konsequenzen für Beschäftigte, Regionen und Länder. Dies treffe auch für millionen- und milliardenschwere Stiftungen zu, die mit ihren Entscheidungen Einfluss nähmen auf die Gesundheits-, Landwirtschafts- und Bildungspolitik. Beispielhaft nennt Hartmann hier die „Bill & Melinda Gates Foundation“ in den USA. (Vgl. 36)
Zwischen der Elite und den Eliten müsse aber unterschieden werden. Existiere eine einheitliche, in sich geschlossene Gruppe, die über die Bevölkerung herrsche, so könne von einer Elite gesprochen werden. Große Gemeinsamkeit gebe es hier mit dem Begriff der Oligarchie. Gebe es diese Homogenität und Exklusivität aber nicht in allen Sektoren und Bereichen, so müsse von mehreren Eliten gesprochen werden. (Vgl. 44f.)
Hartmann macht dies am Beispiel der deutschen Eliten folgendermaßen deutlich: Laut der Elitenstudie von 2012 stammen die Mitglieder der Justizelite zu zwei Dritteln aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien. Bei der Verwaltungselite seien es 62 %, bei der Medienelite über 75% und bei den Spitzen der Privatunternehmen über 83%. Bei den Unternehmen mit kommunalen, regionalen oder staatlichen Mehrheitseigentümern betrage der Anteil dagegen nur 46%. „Ganz allgemein gilt: Je stärker das Kooptationsprinzip beim Zugang zu Elitepositionen dominiert, desto exklusiver fällt in der Regel die soziale Herkunft der jeweiligen Elite aus, und je stärker das Wahlprinzip [wie in der Politik, W.K.], desto offener.“ (80) Von einer einheitlichen Elite in Deutschland könne also nicht gesprochen werden. Abgesehen von der politischen Elite gelte somit, dass die große Mehrheit der heutigen Eliten die Kinder der Eliten von gestern seien.
Der Weltwirtschaftsgipfel in Davos erwecke in vielen Medienberichten den Eindruck, als gebe es eine globale Elite von Vertretern der Politik und Wirtschaft. Dies gelte aber nur für sehr wenige Topmanager und Milliardäre. „Es dominiert in beiden Eliten ganz klar der nationale Typus, ihre Mitglieder bekleiden eine Spitzenposition in ihrem Heimatland und waren auch niemals länger im Ausland, weder während ihrer Ausbildungszeit noch später im Berufsleben.“ (91) Es existiere also weder eine globale Elite und noch ein globaler Stellenmarkt.
Die Liberalisierung der Wirtschafts-und Finanzmärkte habe die soziale Spaltung der Gesellschaft entscheidend verschärft, indem die Vermögen der Reichen und Wohlhabenden enorm angewachsen seien, ebenso wie die Armutszahlen. Die Steuergesetze hätten u.a. für eine gravierende Umverteilung von unten nach oben gesorgt. Hartmann macht dies an vielen Beispielen aus den genannten Ländern deutlich. (Vgl. u.a. 109f.)
In Deutschland habe besonders die Bundesregierung unter Gerhard Schröder u.a. mit der Agenda 2010 für eine Umverteilung gesorgt, die dann unter Angela Merkel mir ihrer „marktkonformen Demokratie“ weiter betrieben worden wäre. Die Eliten glaubten, für sie gelten eigene Regeln: Nach dem Glaubwürdigkeitsverlust nach der Finanzkrise von 2007/8 folgte eine ganze Reihe von Steuer- und Finanzskandalen, wie u.a. die vielen Steuerhinterziehungen und die kriminellen Cum-Cum und Cum-Ex-Geschäfte unterstreichen.
Für Hartmann schlägt sich diese herrschende Politik bei der Bevölkerung sowohl im Wahlverhalten wie im politischen Engagement nieder. Gewinner der sozialen Polarisierung sei die AfD, die von früheren Nichtwählern profitiere und die von Arbeitern und Arbeitslosen nach einer DIW-Studie doppelt so häufig gewählt worden sei wie im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung. (Vgl. 220) Die AfD habe sich von einer Anti-Euro-Partei mit Professorenimage zu einer rechtspopulistischen Anti-Eliten-Partei entwickelt.
Eine andere Politik sei notwendig. Wolle man der sozialen Spaltung entgegentreten und den Rechtspopulismus bekämpfen, müsse die Politik des Neoliberalismus überwunden werden. Das Schlüsselwort für eine andere Politik sei soziale Gerechtigkeit. (Vgl. 226) „Die Veränderung der Labour Party unter Jeremy Corbyn zeigt, wie eine solche Wende inhaltlich und personell aussehen müsste.“ (249) Hartmann meint damit die schonungslose Kritik an der neoliberalen Politik, die parteiinterne Demokratisierung und die personelle Zusammensetzung des Schattenkabinetts von Corbyn, dessen Politiker*innen aus der breiten Bevölkerung stammten.
Das neue Buch von Michael Hartmann will aufklären über die Ideologien der herrschenden Eliten, indem er ihre Überzeugungen, Rechtfertigungen und Selbstgerechtigkeit schonungslos kritisiert. Auch wenn etliche der Beispiele bekannt sind: In dieser komprimierten Darstellung bietet das Buch einen beachtlichen Fundus.
Kritisch muss jedoch angemerkt werden, dass Hartmann die nationalistischen und rassistischen Inhalte der rechten Bewegungen und Parteien zu sehr vernachlässigt. Wenn Sympathisanten und Wähler*innen rechter Parteien den etablierten Parteien und den herrschenden Eliten kein Vertrauen mehr schenken, dann ist diese Tatsache nicht schon der Grund des Rechtsrucks. Die nationalistischen und rassistischen Inhalte müssen einer Kritik unterzogen werden. Ebenso hätte dargestellt werden müssen, dass der Neoliberalismus eine Regulationsform des Kapitalismus ist. Das heißt: Die berechtigte Kritik des Autors gegenüber dem Neoliberalismus hätte in den Zusammenhang der kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozesse gestellt werden müssen, denn die vom Autor umfangreich beschriebenen Reichtums- und Armutsverhältnisse haben ihre Ursache in diesem kapitalistischen System, dessen Form der Neoliberalismus ist.
Michael Hartmann
Die Abgehobenen
Wie die Eliten die Demokratie gefährden
Frankfurt am Main: Campus Verlag 2018
276 Seiten, 19,95 Euro.