Eine Rezension von Wolfgang Kastrup. Erschienen in DISS-Journal 34 (2017)
Das viel beachtete Buch von Ulrich Brand und Markus Wissen Imperiale Lebensweise trägt den Untertitel Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. Damit wird klar, worum es den beiden Politikwissenschaftlern – Ulrich Brand lehrt an der Universität Wien, Markus Wissen an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) in Berlin – geht: um eine Analyse der Zusammenhänge einer in westlichen Staaten von vielen Menschen geschätzten alltäglichen Lebensweise, basierend auf ungerechten Verhältnissen im globalen kapitalistischen Kontext.
Inhaltlich ist der Band entlang von vier grundlegenden Aspekten unterteilt: Erstens geht es um „die Alltagspraxen sowie die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen und internationalen Kräfteverhältnisse, die Herrschaft über Mensch und Natur erzeugen und verstetigen.“ (13)Zweitens möchten sie erklären, weshalb in einer Zeit der sich zuspitzenden Krisen (sie meinen damit „soziale Reproduktion, Ökologie, Wirtschaft, Finanzen, Geopolitik, europäische Integration, Demokratie etc.“) die Lebensweise, die sie „imperial“ nennen, in diesem Zusammenhang zentral zu verorten sei.
Denn die „imperiale Lebensweise“ sei Mitverursacher des Klimawandels, der weltweiten Armut, der geopolitischen Konflikte und der Vernichtung lokaler Ökonomien. Dort aber, wo die Menschen aus dieser Lebensweise ihren Nutzen zögen, trage sie zur „Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse bei.“ (13)
Die angesprochenen Krisen deuten sie drittens „als Manifestation der Widersprüchlichkeit der imperialen Lebensweise.“ (Ebd.) Diese Lebensweise benötige ein „Außen“, um global auf Arbeitskräfte und Naturressourcen zuzugreifen und die entstehenden Kosten auf dieses „Außen“ zu verlagern („Problem- und Krisenexternalisierung“). Mit dem Ausdehnen der „imperialen Lebensweise“ (zu nennen wäre hier u.a. China, Indien und Brasilien) schwinde jedoch dieses „Außen“. (14) Die Alternative hierzu, der vierte Aspekt, müsste radikaler sein, als die herrschende Ökologiedebatte um die „grüne Revolution“, da diese viel zu kurz greife, d.h. die kapitalistische Dynamik und die Herrschaftsverhältnisse ignoriere. Zumal sei der Staat kein „Gegenpol“, sondern „ein wesentliches Moment in der institutionellen Absicherung der imperialen Lebensweise.“ (16)
Mit ihrem Begriff der „imperialen Lebensweise“ zielen die Autoren darauf, dass die herrschenden Produktions-, Distributions- und Konsumverhältnisse tief in den gesellschaftlichen Alltagspraxen im globalen Norden wie auch zunehmend in den Schwellenländern verankert sind. (44) In ihren Ausführungen zur Lebensweise stützen sie sich auf die Analyse des italienischen Marxisten Antonio Gramsci und auf seinen Begriff der Hegemonie.
Um eine solche Hegemonie politisch und ökonomisch zu erreichen, müsse die Zustimmung der Regierten vorhanden sein. Dafür seien Kompromisse der Regierenden notwendig, die die politische und ökonomische Herrschaftsstruktur allerdings nicht in Frage stellen. Da die Autoren den globalen und ökologischen Aspekt der Lebensweise betonen (daher das Adjektiv „imperial“) wollen sie über Gramsci hinausgehen. (Vgl. 45) Der Begriff soll erklären, „wie Herrschaft im neokolonialen Nord-Süd-Verhältnis, in den Klassen- und Geschlechterverhältnissen sowie durch rassisierte Verhältnisse in den Praxen des Konsums und der Produktion normalisiert wird, sodass sie nicht länger als solche wahrgenommen wird.“ (46)
Für die Autoren ist die „imperiale Lebensweise“ als umfassend gemeint und nicht nur auf die Konsumverhältnisse beschränkt. Vielmehr geht es auch um Produktion, um Arbeitsorganisation, um Unternehmen und um den „andro- und eurozentristische[n] Lebensentwurf einer ‚hegemonialen Männlichkeit‘.“ (54)
Auch die Dimension des „strukturelle[n] Rassismus und Neokolonialismus“ ist für Brand und Wissen mit dem Begriff der „imperialen Lebensweise“ verbunden, da die „Minderbewertung von Arbeitskraft im globalen Süden […] Ausbeutung und Unterdrückung rechtfertigten sowie ein Überlegenheitsgefühl in den Gesellschaften des globalen Nordens schafften.“ (Ebd.) Formulierungen wie „globaler Süden“ und „globaler Norden“ und, wie oben schon erwähnt, „neokoloniales Nord-Süd-Verhältnis“ erinnern an die Analysen von André Gunder Frank und den von ihm dargelegten Zusammenhang von der „Entwicklung der Unterentwicklung“ aus den 1970er Jahren.
Es ist jedoch die Frage, ob man heute infolge veränderter Weltmarktstrukturen und der strukturellen Ungleichheit in den kapitalistischen Ländern der nördlichen Hemisphäre, die die Autoren ja selbst auch erwähnen, von einem „globalen Norden“ und einem „globalen Süden“ sprechen kann. Zumindest sind Missverständnisse mit einer solchen Formulierung vorprogrammiert.
Kein erhobener Zeigefinger
Sehr positiv zu erwähnen ist, dass es den Autoren nicht um die moralische Verurteilung einer individuellen Lebensweise geht, sondern es geht ihnen in erster Linie um das Aufdecken gesellschaftlicher Strukturen, die auf soziale Ungleichheit verweisen würden und die die „imperiale Lebensweise“ reproduzierten. Es geht also nicht um einen erhobenen Zeigefinger, z.B. mit Blick auf das individuelle Konsumverhalten. Ungeachtet dessen wird natürlich jede Person bei der Lektüre des Buches auch den eigenen Lebensstil kritisch hinterfragen müssen.
Bezüglich der historischen Durchsetzung der „imperialen Lebensweise“ skizzieren die beiden Autoren vier Phasen: Der Frühkapitalismus und die erste Kolonisierung bis Ende des 18. Jahrhunderts. Es folgt die Phase des liberalen Kapitalismus und der weiter zunehmenden Kolonialisierung bis zum historischen Imperialismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die dritte Phase lassen die Autoren nach den beiden Weltkriegen mit dem Fordismus beginnen, die sie in die 1950er bis 1970er Jahre einordnen. Die neoliberal-kapitalistische Globalisierung folgt dann als vierte Phase, die bis heute andauere.
Wer spätestens in der historischen Herleitung des Begriffes eine Auseinandersetzung mit der Imperialismustheorie erwartet oder erhofft hat, wird enttäuscht sein. Nur an sehr wenigen Stellen gehen Brand und Wissen auf den Imperialismus-Begriff ein, den sie mit ihrem Begriff der „imperialen Lebensweise“ nicht „aufweichen“ wollen. „Vielmehr beanspruchen wir, die hegemoniale Verankerung imperialistischer Politik in den Alltagspraxen und –wahrnehmungen vor allem der Mittel- und Oberklassen in den Gesellschaften des globalen Nordens zu verdeutlichen.“ Die Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Persistenz imperialistischer Politik“ (67), auf die sie aber ansonsten leider nicht näher eingehen.
Die klassische Imperialismustheorie deuten sie an, indem sie in Anlehnung an diese darauf hinweisen, dass der „entwickelte Kapitalismus eines nichtkapitalistischen oder zumindest eines weniger entwickelten Außens bedarf, damit er nicht an seinen ökologischen Widersprüchen zugrunde geht.“ (122) Dies erinnert (leider gehen die Autoren nicht darauf ein) an den englischen Ökonomen und bürgerlichen Sozialreformer John Atkinson Hobson, der schon 1913 mit seinem Begriff des Imperialismus deutlich machte, dass der nationale Kapitalismus, aufgrund der nicht mehr ausreichenden Rentabilität der inneren Märkte die koloniale Expansion benötige, um neue Räume für das Kapital zu erschließen. Auf dieser Argumentation von Hobson baute dann die marxistische Imperialismustheorie auf.
Mit dem Jutebeutel im SUV zum Biomarkt
Wie die „imperiale Lebensweise“ aussieht, verdeutlichen Brand und Wissen sehr anschaulich mit ihren Ausführungen zur „imperialen Automobilität“. Am Beispiel der SUVs (Sport Utility Vehicles), einer Mischung aus Geländewagen und Limousine, illustrieren sie die widersprüchliche Lebensweise. SUVs, die sich zunehmender Beliebtheit erfreuen, machten 2014 mit 17,4 % Platz zwei der neu zugelassenen Pkws in Deutschland aus. Zwischen 2008 und 2015 verdoppelte sich absolut gesehen ihre Zahl von 1,3 auf 3,2 Millionen. (125) Allerdings sei das kein deutsches Phänomen, was die Autoren mit entsprechenden Zahlen aus den USA und China verdeutlichen. (125f.)
SUVs, vorwiegend von Besserverdienenden gekauft, seien sehr ressourcen- und emissionsintensiv, „sind schwerer, haben einen höheren Luftwiderstand, sind meist stärker motorisiert – und verbrauchen daher mindestens 25 Prozent Treibstoff mehr als konventionelle Fließ- und Stufenheckfahrzeuge.“ Auch bei Unfällen mit SUV Beteiligung sei das Risiko für Fußgänger und Insassen kleinerer Fahrzeuge, verletzt oder getötet zu werden, „deutlich höher“. (126)
Auf die offensichtliche Ambivalenz, dass meist Besserverdienende solche Fahrzeuge kaufen und gerade diese Käuferschicht meist das höhere Umweltbewusstsein hat, verweist auch eine Studie des „Car-Center Automotiv Research“ der Universität Duisburg-Essen, die von den Autoren folgendermaßen zitiert wird: „[W]ährend beim Wochenendeinkauf seit Jahren immer häufiger Bio-Produkte oder solche aus regionalem Anbau in die Einkaufstüte wandern, landet die immer häufiger im Kofferraum eines SUV. Die stehen so gar nicht für ökologisches Handeln, sondern gelten als Treibstoffschlucker.“ (127) Das Achten auf die eigene Gesundheit durch den Verzehr von Bio-Produkten und die Haltung von Autos mit hoher Ressourcen- und Emissionsintensität stellt eine widersprüchliche Lebensweise dar.
Für Brand und Wissen existiert ein enger Zusammenhang zwischen Automobilität und Subjektivität, die durch „Klassen- und Geschlechterverhältnisse geformt werden“. Die Autoren sprechen davon, dass sich eine „automobile Subjektivität des neoliberalen Kapitalismus“ herausgebildet habe. „Die Polarisierung zwischen Sicherheit und Unsicherheit sowie zwischen Überlegenheit und Subalternität, wie sie mit dem SUV auf den Straßen verschärft wird, korrespondiert mit einer zunehmenden sozialen Polarisierung sowie mit der neoliberalen Diffusion marktförmiger und konkurrenzieller Mechanismen in alle gesellschaftlichen Bereiche.“ (129)
Die von den Autoren angesprochenen Geschlechterverhältnisse lassen sich, so kann man den Gedanken fortführen, bei jeder nationalen wie internationalen Automobilmesse beobachten: Sexistische Symbole und Männlichkeitsbezüge auf technische Kompetenz und Geschwindigkeit – und das allerdings nicht nur bei SUVs.
Und die gesellschaftliche Alternative?
Nach dem Gesagten wird klar, dass eine Politik unter kapitalistischen Bedingungen im Widerspruch zu einer grundlegenden Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft steht. Deshalb scheidet auch ein grüner Kapitalismus, der lediglich Produktion und Konsum ökologisch modernisieren will, für sie aus. Es geht ihnen um eine grundlegende Transformation. Auch wenn vom Staat keine Lösung der „multiplen Krise“ (ökonomisch, ökologisch, sozial und politisch) zu erwarten ist, da er ja Teil des Problems ist und die „imperiale Lebensweise“ institutionell absichert – was dann?
Brand und Wissen verweisen darauf, dass es um eine solidarisch-kooperative Lebensweise gehe, eine Gegenhegemonie gegen die „imperiale Lebensweise“. Dazu bedürfe es Aufklärung über und die Einsicht in die eigenen Privilegien, die auf Ausbeutung und Zerstörung beruhten, national wie international.
Es gehe aber auch um Bündnisse, mit denen eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft wie ein institutioneller Umbau des Staates in Angriff genommen werden sollte. Eine solidarische Lebensweise müsse für viele Menschen erfahrbar und attraktiv sein. „Es werden tendenziell gesellschaftliche Mitte-unten-Bündnisse sein, die ein solches Projekt tragen. Es wäre aber zu wünschen, dass verstärkt auch dissidente progressive Eliten den Ernst der Lage erkennen und entsprechend handeln.“ (183)
Die Autoren beziehen sich auf Arbeitskämpfe im „globalen Norden“ wie „globalen Süden“, auf das widerständige Handeln von indigenen Gruppen und die Kritik durch Feministinnen, auf die Forderung einer Demokratisierung und Selbstverwaltung der Sorgearbeit (care-Bereich), auf eine radikale Arbeitszeitverkürzung, ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine soziale Infrastruktur und auf die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel. (Vgl. 179)
Dabei stellt sich jedoch m.E. die Frage, ob sich in einer Zeit der „multiplen Krise“ emanzipatorische Bewegungen hegemonial durchsetzen können? Natürlich ein wünschenswertes Ziel, es bleiben jedoch Zweifel. Zurückliegende wie aktuelle Erfahrungen zeigen häufig gegenteilige Wirkungen, wie etwa die Renaissance autoritärer Strukturen, Nationalismus und Rassismus. Es ist die alte Frage, die die Linke umtreibt: Warum protestieren Menschen gegen Flüchtlinge und Marginalisierte und nicht gegen kapitalistische Ausbeutung? Dass neben dem Nationalismus die „imperiale Lebensweise“ dabei eine Rolle spielt, indem angestammte Lebensweisen bedroht scheinen, zeigen die Autoren auf.
Ulrich Brand und Markus Wissen legen mit ihrem Buch eine ausführliche und fundierte Kritik der „imperialen Lebensweise“ vor, die Analyse eines komplexen Sachverhalts, die für ein breites Publikum formuliert wurde. Auch deshalb ist das Buch, trotz der erwähnten kritischen Hinweise, sehr zu empfehlen.
Ulrich Brand/Markus Wissen
Imperiale Lebensweise
Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus
oekomverlag München 2017
224 Seiten, 14,95 €
Wolfgang Kastrup ist Mitarbeiter des DISS.