Siegfried Jäger rezensiert das Buch von Thomas Quehl: Schule ist keine Insel. Erschienen in DISS-Journal 8 (2001)
Daß es sich bei Rassismus um ein Wissen handelt, das Handeln anleitet und schlimme Folgen hat, ist deutschen Politikern, Wissenschaftlern, Journalisten und auch Lehrern noch keineswegs zur selbstverständlichen Denkweise geworden. Erst seit Anfang der 90er Jahre ist in Deutschland überhaupt zur Kenntnis genommen worden, und das auch nur in eingeweihten Kreisen, daß Rassismus ein gesellschaftliches Problem darstellt. Die Welle der Anschläge und Überfälle auf Einwanderer, die Deutschland seit dieser Zeit „heimsuchte“ und viele Einwanderer das Leben kostete, traf unsere Gesellschaft daher auch ziemlich unvorbereitet. Wissenschaftliche Forschungen und präventive pädagogische Arbeit fehlten nahezu völlig.
Erst mit dem großen internationalen Hamburger Kongreß zu „Rassismus und Migration in Europa“ von 1990, von Nora Räthzel und Annita Kalpaka organisiert, dessen Ergebnisse 1992 im Argument-Verlag veröffentlicht wurden, bahnte sich eine erste Wende an. Erste Untersuchungen wurden durchgeführt, es entwickelte sich eine breitere Diskussion über politische und pädagogische Gegenmaßnahmen, die sich allerdings nur langsam im öffentlichen Diskurs zur Geltung bringen konnte, weil hier – auch als Ergebnis der öffentlichen Tabuisierung von Antisemitismus und Rassismus – ein virulentes gesellschaftliches Problem geleugnet wurde und im wahrsten Sinne des Wortes unsäglich gemacht werden sollte: im übrigen ein früher Beitrag zum Versuch einer Normalisierung postfaschistischer Befindlichkeiten. Im Unterschied dazu stand das Thema Rassismus in England bereits seit den 70er Jahren auf der Tagesordnung, und ein wohldefinierter Rassismusbegriff diente bereits seit dieser Zeit als Werkzeug zur Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit. Diese Tatsache verdankte sich größtenteils den politischen Kämpfen der Migranten und Migrantinnen gegen Marginalisierung und Rassismus in England, das sich als „Commonwealth“ und ehemalige Kolonialmacht bereits als Einwanderungsland er- und bekennen und daher, anders als Deutschland und aus anderen Gründen, die damit einhergehenden Probleme bearbeiten mußte. Diese unterschiedliche Ausgangssituation erklärt wenigstens teilweise, daß die Rassismusforschung und sich daraus ableitende Praxen in Großbritannien erheblich weiter gediehen sind als in Deutschland.
Mit dem Macpherson-Report in der Sache Stephen Lawrence, der 1996 ermordet wurde, wurde auch der Begriff des Institutionellen Rassismus zu einem Schlüsselbegriff nicht nur der Rassismusforschung, sondern auch der Debatte um die Einwanderungspolitik generell.( Zum Macpherson-Report und seinen Auswirkungen in Großbritannien vgl. Jobst Paul Artikel „Von >Einzeltätern< zum >institutionellen Rassismus< in DISS-Journal 5 (2000), S. 14-15)
In Verbindung mit einem längeren Forschungsaufenthalt hat Thomas Quehl nun in einem ausgezeichneten Reader, dessen Beiträge durch längere aktuelle Interviews angereichert sind, zentrale Aufsätze aus der englischen Debatte ins Deutsche gebracht, ergänzt durch eine differenzierte und die Unterschiede zwischen beiden Ländern berücksichtigende Einleitung. Die differenzierte Vorgehensweise Quehls wird bereits daran deutlich, daß er das englische Wort race nicht übersetzt, weil es im Unterschied zu Rasse bereits den Charakter einer gesellschaftlichen Konstruktion konnotiert hat. Thomas Quehl möchte mit diesem Band dazu ermutigen, sich intensiver mit dem anstehenden Problem zu beschäftigen und er verspricht sich solche Ermutigung dadurch, daß die hier versammelten Beiträge, wie er schreibt, „verdeutlichen, wie die Erfahrungen der beteiligten Lehrer/ innen, Erzieher/innen und Schüler/ innen als Ausgangspunkt für Formen antirassistischer Pädagogik dienen können und wie es möglich wird, ohne in ein statisches Kultur- und Identitätsverständnis zu verfallen bzw. in eine Haltung, die den in der Gesellschaft vorhandenen Rassismus ignoriert, auf vielfältige Weise gemeinsam mit den Schülern und Schülerinnen Erfahrungen von Identität, von Gleichberechtigung, von Benachteiligung und Rassismus zu erkunden.“ (S. 7)
Es ist der enge Bezug von Theorie und Praxis, der alle Beiträge dieses Bandes kennzeichnet und den Quehl besonders betont: „Unter Rückgriff auf poststrukturalistische und postkoloniale Theoriebildung und die Erkenntnismöglichkeiten, die auch die britischen Cultural Studies boten, konnte man so darangehen, soziologische Erkenntnisse und Theorien des postmodernen Subjekts auf den Boden des `wirklichen Lebens´… und auf die Füße im Klassenzimmer zu stellen.“ (S. 10) Durch diese Verzahnung kommt auch der in unserem Land häufig noch bestrittene oder geleugnete Institutionelle Rassismus, der nicht nur dem schulischem Dispositiv inhärent ist, sehr klar und überzeugend in den Blick. Dies gilt in besonderer Weise für die Beiträge von Debbie Epstein und David Gilborn, die hier hervorgehoben werden sollen, ohne daß die Beiträge der anderen Autorinnen (Chris Gaine, Cecile Wright, Richard Hatcher und Barry Troyna, Iram Siraj-Blatchford, Alison Sealey, Clare Crown, Jacqui Barnfield, Mary Stone, Marietta Harrow) dadurch geschmälert werden.
Es ist mit Sicherheit zu erwarten, daß dieses Buch die bundesrepublikanische Diskussion erheblich voranbringen wird, sowohl bezüglich der pädagogischen Praxis wie auch für die Theoriebildung im Rahmen der Rassismusforschung.
Thomas Quehl (Hg.):
Schule ist keine Insel.
Britische Perspektiven antirassistischer Pädagogik
304 Seiten, 38 DM, Münster 2000: Waxmann