„Staatsgewalten“

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Rezension von Wolfgang Kastrup

Heide Gerstenberger: Staatsgewalten, Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot 2023, 322 Seiten, 32 Euro, ISBN 978-3-89691-090-5

Heide Gerstenberger, emeritierte Professorin für die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates an der Universität Bremen, hat mit Staatsgewalten ein neues Buch veröffentlicht, das 2023 im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen ist. Bekannt ist Heide Gerstenberger vor allem durch ihre beiden herausragenden Werke Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt und Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus. Für letzteres Buch wurde sie 2023 mit dem Isaac and Tamara Deutscher Memorial Prize von der Historical Materialism Konferenz ausgezeichnet. Seit 1969 wird dieser Preis in Erinnerung an Isaac Deutscher jährlich für herausragende marxistisch orientierte Publikationen verliehen.

Die in dem neuen Buch versammelten Analysen, erstveröffentlicht in verschiedenen Büchern und Zeitschriften von den 1970er Jahren bis heute, haben eine durchgehende Thematik, nämlich die Frage nach den unterschiedlichen Formen und Wirkungen von Öffentlichkeiten. Die verschiedenen Aufsätze beschäftigen sich mit der Bedeutung konkreter gesellschaftlicher Praxis in historisch gewachsenen Strukturen. Gleichzeitig verdeutlichen die verschiedenen Analysen die Entwicklung ihrer eigenen theoretischen Konzeption von Staatsgewalt. Der zeitliche Rahmen der ausgewählten Texte reicht vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart und das Spektrum der Themen von der politischen Ökonomie des „Amerikanischen Traums“ bis zur theoretischen Konzeption einer Trennung von Politik und Ökonomie. Alle 16 Texte (inclusive der Einleitung) können hier nicht besprochen werden, deshalb werde ich mich insgesamt auf zentrale Aussagen beschränken.

Ihre Arbeiten zur Analyse von Staatsgewalten waren zunächst, wie sie schreibt, „vorzugsweise auf gesellschaftlich und in der Forschung dominante Konzepte bürgerlicher Staatsgewalt gerichtet, später zunehmend auf theoretische Ansätze, die im Zusammenhang marxistischer Analysen vertreten wurden.“ (7) Bezüglich ihrer eigenen theoretischen Entwicklung hebt sie hervor, dass sie die Sklavenwirtschaft als ein „vorkapitalistisches“ Element der vorherrschenden politischen Ökonomie benannt, aber noch nicht erkannt hatte, „dass es auch im Kapitalismus zu Arbeitsverhältnissen kommt, die mittels direkter Gewalt begründet und aufrechterhalten werden“. (7) Dass abhängig Beschäftigte, die für eine kapitalistische Produktion und Profitmaximierung erforderlich sind, „frei“ sein müssen im Sinne eines Abschlusses und auch einer Kündigung eines Arbeitsvertrags, ist aber keine ökonomische Notwendigkeit. Diefreie Lohnarbeit“ ist durch den Widerstand von Arbeitskräften und schließlich nach langen politischen Auseinandersetzungen auf das Ergebnis staatlicher Vertragspolitik zurückzuführen. Deshalb, so die Autorin in ihrem oben erwähnten prämierten Buch Markt und Gewalt, dass es bei der „Betrachtung der historischen Entwicklung kapitalistischer Arbeitsverhältnisse“ notwendig ist, „Kapitalismus nicht als bloßes Wirtschaftssystem, sondern als politisch-ökonomisches System zu analysieren“. (123) Die Erwähnung dieser theoretischen Notwendigkeit erfolgt ausdrücklich durch Gerstenberger bezüglich ihrer Fußnote auf Seite 7 ihres Buchs Staatsgewalten.

Die von der Autorin vertretene Erklärung zur historischen Entwicklung bürgerlicher Staatsgewalt kritisiert „die Annahme einer überhistorisch wirksamen Dynamik der Entwicklung von Produktivkräften“ ebenso wie das von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest vorgelegte „Konzept einer welthistorischen Dynamik von Klassenkämpfen“. (9) Gerstenberger teilt solche Gewissheiten von historischen Entwicklungen nicht.

Der Autorin zufolge hat es keinen direkten Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus gegeben. In England und Frankreich hat sich eine Epoche gebildet, Gerstenberger bezeichnet sie als Ancien Régime, die vom Feudalismus wie dem Kapitalismus verschieden verstanden werden muss. Wichtigstes Strukturmerkmal dieses Ancien Régime ist die Verallgemeinerung personaler Herrschaft. Im Feudalismus dagegen verlangte personale Herrschaft die Treue einzelner Menschen zu bestimmten Herren. Zudem ist der Krieg in dieser Epoche eine wichtige Form der Aneignung. „Bürgerliche Staatsgewalt, so meine These, ist eine besondere Ausprägung kapitalistischer Staatsgewalt. Sie entstand, wenn Gesellschaften des Ancien Régime zu bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften revolutioniert wurden.“ (90) Nicht die Funktionserfordernisse der kapitalistischen Produktion haben die „Dynamik von Gleichheitsforderungen in bürgerlichen Gesellschaften und auch deren besondere Inhalte“ konstituiert, sondern die bürgerlichen Revolutionen. (91) Diese resultieren der Autorin zufolge aus Herrschaftskrisen des Ancien Régime, da aufstrebende soziale Kräfte nicht integriert wurden und Herrschaftspositionen einer verschärften Konkurrenz unterlagen. (137) Für Gerstenberger wird die Konzeption des Feudalismus zu vage gefasst, da hier soziale Verhältnisse beschrieben werden, für welche die Begrifflichkeit Gesellschaft nicht sinnvoll ist. Der Zusammenhang dieser sozialen Verhältnisse besteht im Wesentlichen in religiöser Verallgemeinerung und in kriegerischen Auseinandersetzungen. Feudalismus als analytisches Konzept wurde erfunden, „als sich Menschen im 17. Jahrhundert die voraufgehende Epoche erklären wollten. Dazu nutzten sie Strukturmerkmale der Gesellschaft, in der sie lebten“. Das Konzept des Feudalismus verliert so „jeglichen analytischen Nutzen“. (Ebd.) Die verallgemeinerte Gewalt wurde in der Epoche des Ancien Régime institutionalisiert, und für Gerstenberger unterscheiden sich die Staatsgewalten der Staaten, die die Herrschaftsform des Ancien Régime erlebten, von den Staatsgewalten der anderen kapitalistischen Gesellschaften. „Und zwar deshalb, weil bürgerliche Staatsgewalt aus den revolutionären Transformationen von Gesellschaften entstand, in denen personale Herrschaft bereits weitgehend versachlicht und säkularisiert worden war, in denen Prozesse im Gange waren, die Wissenschaft zum gesellschaftlich durchgesetzten ‚Standpunkt‘ machten und Individuen zu Trägern von Interessen. Bürgerliche Staatsgewalt ist eine spezifische Form kapitalistischer Staatsgewalt.“ (152)

Die bürgerliche Staatsgewalt ist Gerstenberger zufolge nicht überall mit dem Kapitalismus entstanden. Damit widerspricht sie der häufig im Marxismus vertretenen Ansicht. Als Beispiel für ihre Position führt sie Frankreich an, denn die Konstitution der bürgerlichen Staatsgewalt erfolgte dort hundert Jahre bevor die kapitalistischen Produktionsverhältnisse im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dominant wurden. Sie widerspricht ausdrücklich „dem ökonomischen Funktionalismus, der den Inhalt bürgerlicher Revolutionen auf den Wandel von Produktionsverhältnissen festlegt“, denn bürgerliche Revolutionen waren Ausdruck der Kritik „gegen die Herrschaftsformen des Ancien Régime, insonderheit gegen staatlich sanktionierte Privilegien“. (153) Diesen Begriff des Ancien Régime hat Gerstenberger, wie sie ausführt, von französischen Revolutionären übernommen, die damit das bezeichneten, was sie abschaffen wollten: Privilegien und alle Formen der Herrschaft, „über die Personen oder Personengruppen als Eigentum verfügen konnten“. (154) Der Terminus Ancien Régime wurde als wissenschaftliche Kategorie erstmals von Alexis de Tocquevilles verwendet, indem er mit diesem Begriff die alte Ordnung als einen krisenhaften Prozess beschrieb. Mit diesem Hinweis und auch mit dem folgenden Zitat beziehe ich mich auf das Werk von Heide Gerstenberger Die subjektlose Gewalt (2. Auflage), in dem die Autorin noch konkreter auf diese Epoche des Ancien Régime eingeht als in dem von mir rezensierten Buch von ihr: „Was den Zeitraum anlangt, in welchem die Herrschaftsformen vom Typus Ancien Régime dauerten, so finden sich dafür in der Forschung solch unterschiedliche Bezeichnungen wie ‚frühe Neuzeit‘, ‚Feudalismus‘ oder ‚Absolutismus‘. Diese Epochenbestimmungen werden durch das analytische Konzept eines Epochenbegriffes Ancien Régime ausgeschlossen. Dagegen lassen sich sowohl das ‚Zeitalter der Reformation‘ als auch jener Epochenbegriff von ‚Neuzeit‘, der die Veränderung des Welt- und Zeithorizontes thematisiert, dem hier vorgeschlagenen analytischen Konzept inhaltlich integrieren.“ (502) Es ist schade, dass in dem hier rezensierten Buch Staatgewalten, erklärende Beispiele zur begrifflichen Klärung gelegentlich aus ihren Werken Die subjektlose Gewalt und Markt und Gewalt herangezogen werden müssen.

Über die Staatsgewalten in kapitalistischen Gesellschaften schreibt Gerstenberger, dass die kapitalistische Staatsgewalt zu erklären ist durch die Transformation der menschlichen Arbeitskraft in eine Ware, wodurch sie „formal zu Eigentümern von Waren unter anderen Eigentümern von Waren“ wurde. Hier bezieht sich die Autorin auf die ursprüngliche Akkumulation von Karl Marx als dauerhafte Realität des Kapitalismus, da die Menschen dem Warencharakter der menschlichen Arbeit beständig unterworfen sind. (308) Sehr stringent argumentiert Heide Gerstenberger hier über die Ware Arbeitskraft als soziale Voraussetzung kapitalistischer Ausbeutung und über die historische Voraussetzung für die kapitalistische Staatsgewalt, nicht als Form der Repression über die ausgebeuteten Arbeitskräfte zu erscheinen. Der Staat garantiert die Verwendung der legal erworbenen Ware; er schützt das Eigentum an Produktionsmitteln wie das Eigentum an der eigenen Arbeitskraft, aber eben auch ihre Verwendung für die Verwertung in der kapitalistischen Warenproduktion. Durch „die Gleichbehandlung von Ungleichem“ sanktioniert der kapitalistische Staat die bestehenden Verhältnisse. „Diese formale Neutralität des bürgerlichen Rechtsstaates verhindert eine legale Überwindung kapitalistischer Verhältnisse.“ (163) Und eben diese formale Gleichsetzung über die Verfügung von privatem Eigentum „trennt den Staat von den Klassenverhältnissen in der Gesellschaft“ und macht ihn so zu einer „Legitimationsinstanz“ für die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse. Aus der „Gewalt zur Durchsetzung des Kapitalismus“ wird, so die Autorin in ihrer klaren und stringenten Argumentation, eine „Gewalt zum Erhalt des Kapitalismus“. (308)

Allerdings einschränkend fügt Gerstenberger auf der nächsten Seite in zutreffender Weise hinzu, dass kapitalistische Staaten immer mal wieder diese formale Neutralität vermissen ließen und lassen, indem sie für Arbeitskräfte ein spezielles Strafrecht eingeführt hatten, die Sklaverei legalisierten, den Arbeitszwang rassistisch begründeten, weibliche Arbeitskräfte diskriminierten und bis heute ausländische Arbeitskräfte benachteiligen. „Deshalb reicht der Hinweis auf die revolutionäre Konstitution einer von privater Aneignung getrennten Institution nicht hin, um eine allgemeine Theorie des kapitalistischen Staates als einer außerökonomischen Gewalt zu begründen.“ (309)

Voraussetzung für eine kapitalistische Ökonomie ist es ihr zufolge, dass das Kapital die Verfügungsgewalt über den Einsatz von Arbeitskraft hat. Sie widerspricht der lange im historischen Materialismus verbreiteten Annahme, dass es zu der strukturellen Notwendigkeit in der Geschichte des Kapitalismus gehört, dass kapitalistische Ökonomie freie Lohnarbeit zur Voraussetzung hat. Jedenfalls würde das eine „allgemeine Definition kapitalistischer Ökonomie“ nicht rechtfertigen. (319) „Es gibt kapitalistische Gesellschaften, in denen freie Lohnarbeit nicht dominant oder jedenfalls nicht allgemein ist, es gibt aber keine kapitalistische Ökonomie ohne Konkurrenz.“ (320) Diese Aussage der Autorin ist nachvollziehbar und bezüglich der Strukturbedingung Konkurrenz auch inhaltlich begründet, erläuternde Beispiele für kapitalistische Gesellschaften ohne dominante freie Lohnarbeit wären hier aber noch angebracht. Wie schon erwähnt ist die Konkurrenz unabdingbare Voraussetzung kapitalistischer Staatsgewalt, allerdings, so Gerstenberger, bleibt es auch der Staatsgewalt vorbehalten, bestimmte Konkurrenzbeziehungen und auch bestimmte Waren von dem Warenverkehr auszuschließen. (320) In der Geschichte des Kapitalismus hat sich das immer wieder zugetragen und aktuell zeigt sich das m.E. in den Wirtschaftsbeziehungen der USA und der EU zu China. Schlussendlich schreibt die Autorin, dass die Verfügungsgewalt des Kapitals über den Einsatz menschlicher Arbeitskraft und die Freisetzung der Konkurrenz zu den „allerallgemeinsten“ Bestimmungen der kapitalistischen Staatsgewalt gehört. Dazu zählt sie notwendigerweise auch die Aneignung des Mehrprodukts bzw. die Verwertung menschlicher Arbeitskraft durch das Kapital. (321)

Heide Gerstenberger gelingt es in ihrem neuen Buch Staatsgewalten ihr Grundanliegen, die Entstehung der bürgerlichen und kapitalistischen Staatsgewalten, stringent und nachvollziehbar zu erläutern. Allerdings setzen in dem Buch ihre einzelnen, in verschiedenen Zeitschriften und Büchern veröffentlichten Artikel, historische Kenntnisse voraus, da die Autorin auf eine chronologische und übersichtliche Datengeschichte verzichtet. Erklärende Hinweise, so z.B. zum Ancien Régime oder zu kapitalistischen Gesellschaften ohne dominante freie Lohnarbeit, wären jedoch noch hilfreich gewesen. Ihr Anliegen, die Entstehung bürgerlicher Revolutionen aus den Herrschaftsstrukturen des Ancien Régime zu erläutern, gelingt ihr eindrucksvoll. Dies beinhaltet auch ihre Kritik marxistischer Ansätze, bürgerliche Revolutionen auf ökonomische Strukturerfordernisse zurückzuführen. Gerstenberger verdeutlicht, dass historisch die freie Lohnarbeit keine fundamentale Notwendigkeit kapitalistischer Produktionsweise ist. Selbst das Vorhandensein einer formal freien Lohnarbeit hat die Arbeitskräfte nicht vor Gewaltanwendung geschützt. Staatsgewalten – ein gut lesbares und sehr empfehlenswertes Buch von Heide Gerstenberger.