Nancy Fraser über ein erweitertes Kapitalismus- und Sozialismusverständnis

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Lesetipp von Helmut Kellershohn

Nancy Fraser: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Berlin: Suhrkamp 2023, 282 Seiten, 20,60 Euro, ISBN 978-3-518-02983-1

Nancy Fraser veröffentlichte 2022 zunächst auf Englisch, dann 2023 in Übersetzung auf Deutsch eine kapitalismuskritische Studie mit dem originellen Titel „Cannibal Capitalism“ („kannibalischer Kapitalismus.“). In der deutschen Übersetzung taucht diese Wortschöpfung erstmals in der Einleitung auf, als Titel verwendet sie das Bild des „Allesfressers“, der rundweg alles, aber auch alles für sich vereinnahmt. Nichts in der Welt ist sicher vor dem Appetit des Fressers „Kapitalismus“, es gibt kein Außen, das vor dem Zugriff des Fressers und „Kannibalen“ per se geschützt wäre. Das bezieht sich speziell und insbesondere auf die nichtökonomischen Bereiche des Kapitalismus und damit auf den Kapitalismus als Gesellschaftsform und nicht nur als Wirtschaftsform, als ökonomisches System im engeren Sinne (12). Der Kapitalismus braucht „Democracy, Care, and The Planet“, wie es im englischen Untertitel heißt, und verbraucht, so die These der Autorin, diese „Rahmenbedingungen“ (41) seiner Existenz in einer Art und Weise, die eben diese Existenz infrage stellen. Der Kapitalismus ist wie ein Ouroboros, „die ihren eigenen Schwanz kannibalisierende Schlange“ (10), die auf dem Umschlagbild der deutschen Ausgabe zu sehen ist. Er ist „ein wahrer Dynamo der Selbstdestabilisierung, der regelmäßig Krisen auslöst, während er routinemäßig die Grundlagen unserer Existenz auffrisst“ (12).

Der Anspruch der Autorin besteht darin, „unseren Blick auf den Kapitalismus“ zu erweitern. „[…] die Widersprüche des Systems [führen] nicht nur zu Wirtschaftskrisen, sondern auch zu Krisen in den Bereichen Care, Ökologie und Politik, die heute in voller Blüte stehen, und zwar dank der langen Periode unternehmerischer Völlerei, die als Neoliberalismus bekannt ist.“ (13) Dass in den letzten Jahren der Begriff des Kapitalismus wieder aktuell geworden ist, führt Fraser auf die „Tiefe“ (17) der gegenwärtigen Krise, die sich ihrer Meinung nach zu einer „allgemeinen Krise“ (13) ausgeweitet hat, und auf das „wachsende Bedürfnis nach einer systematischen Darstellung dieser Krise“ (17) zurück, auf das Bedürfnis, dass „die heterogenen Übel, […] die uns umgeben, auf eine gemeinsame Wurzel zurückgeführt werden können“ und „Reformen, die sich nicht mit den tiefen strukturellen Grundlagen dieser Übel befassen, zum Scheitern verurteilt sind“. Gleiches gilt für die „disparaten sozialen Kämpfe“ (18), die sich rund um die Erfahrung und Bearbeitung der verschiedenen Teilkrisen entwickelt haben und das Bedürfnis der Kämpfenden hervorrufen, deren inneren Zusammenhang analytisch zu klären, um möglicherweise einen „gegen das System gerichteten Block[]“ aufzubauen.

Bedauerlicherweise sieht Fraser auf der Seite der Aktivist:innen und Kritiker:innen eine wechselseitige Isolierung der Kritikansätze, die dem Charakter der heutigen Krise des Kapitalismus nicht gerecht werden. Auf der einen Seite „neigen unsere überkommenen Krisenmodelle dazu, sich ausschließlich auf die ökonomischen Aspekte zu konzentrieren, die sie von anderen Aspekten isolieren und gegenüber diesen privilegieren“ (19). Auf der anderen Seite fokussieren sich neuere Theoriemodelle darauf, einzelnen Krisenphänomene und Kämpfen – „um Natur, soziale Reproduktion, Enteignung und öffentliche Macht“ – „am Ort [ihrer] Produktion den Vorrang zu geben“. Fraser will diese wechselseitige Isolierung überwinden und eine Synthese vorstellen, die auf der Höhe der Zeit ist.

Ihr Konzept des „kannibalischen Kapitalismus“ greift auf die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie zurück, deren Offenheit für neuere Fragestellungen sie betont. Allerdings habe es Marx versäumt „Geschlecht, ‚Rasse‘, Ökologie und politische Macht als strukturierende Achsen der Ungleichheit systematisch zu berücksichtigen – und schon gar nicht als Gegenstände und Prämissen des sozialen Kampfes“ (19f.). Folglich müssten „seine besten Erkenntnisse neu verortet und erweitert werden“ (20). Fraser will sich also zunächst „auf Marx“ und dessen Begriff von Kapitalismus (als ökonomisches System) beziehen und dann „hinter ihn“ auf die nichtökonomischen Bedingungen kapitalistischer Gesellschaft eingehen, um ein umfassenderes Verständnis für Kapitalismus heute zu gewinnen, das nicht nur dessen „Vordergrund“ (Ökonomie), sondern auch dessen „Hintergrundbedingungen“, auch Rahmen- bzw. Möglichkeitsbedingungen genannt, mit einbezieht. Die These von Fraser, die ihrer weiteren Explikation zugrunde liegt, ist nun, „dass Marx‘ Darstellung der kapitalistischen Produktion nur Sinn ergibt, wenn wir die Hintergrundbedingungen ihrer Möglichkeit zu ergänzen beginnen.“ (26)1

Fraser entwickelt in ihrem Buch vier dieser Hintergrundbedingungen, die sie in den folgenden Kapiteln näher expliziert. Sie beschreibt ein System von Trennungen, die durch den Kapitalismus selbst als dessen verselbständigte Voraussetzungen produziert werden, und zwar in sich wandelnden Formen entsprechend der langen Transformationsgeschichte des Kapitalismus bis hin zum Neoliberalismus. Dazu gehören erstens die abgespaltenen Bereiche der sozialen Reproduktion mit den fatalen Auswirkungen auf die „Unterordnung von Frauen“ (30) durch die Verweiblichung reproduktiver Arbeit und die entsprechende Zurichtung der Geschlechterverhältnisse (Geschlechterbinarität, Heteronormativität). Zweitens – Stichwort Kannibalisierung der Natur – die scharfe „Trennung zwischen einem natürlichen Bereich, der als kostenloser Vorrat an ‚Rohmaterial‘ zur Aneignung gedacht ist, und einer ökonomischen Sphäre des Werts, der von und für Menschen produziert wird.“ (32) Drittens die Abspaltung der Sphäre des Politischen und der staatlichen Gewalt und damit die Trennung „zwischen Gemeinwesen und Wirtschaft“, von „öffentlicher und privater Macht, von politischem und wirtschaftlichen Zwang“ (35). Und viertens – hier greift Fraser auf Marxens Theorem der ursprünglichen Akkumulation zurück – die „gewaltsame und kontinuierliche Aneignung des Reichtums der unterdrückten und minorisierten Völker“ (37) im globalen Süden und damit die Spaltung der produzierenden Klassen in diejenigen, die ‚bloß‘ ausgebeutet, und diejenigen, die „für die brutale Enteignung bestimmt“ (39) sind und rassifiziert werden (Sklaven, Kolonialsubjekte, Indigene, Schuldknechte, Illegale).2 Zusammenfassend schreibt Fraser, dass diese „Hintergrundgeschichten“ (40) für das Verständnis der Vordergrundgeschichte des Kapitalismus fundamental seien. Und es sei in theoretischer wie politisch-strategischer Hinsicht wichtig, die „marxsche Perspektive mit anderen emanzipatorischen Strömungen der kritischen Theoriebildung [zu] verbinden: mit feministischen, ökologischen, politischen, antiimperialistischen und antirassistischen.“ (41)

Der Kapitalismus ist mehr als eine Ökonomie

Durch diese Verbindung verändert sich für Fraser das Bild des Kapitalismus. Es handelt sich nicht nur um ein Wirtschaftssystem, sondern um eine „kapitalistische Gesellschaft“ (41). Der Kapitalismus ist „etwas Größeres als eine Ökonomie“ (42), eine „institutionalisierte[ ] Gesellschaftsordnung“.3 Fraser grenzt diese Sichtweise ab von der Verdinglichungsthese Lukács‘, wonach die Warenform das „gesamte Leben“ inklusive Recht, Wissenschaft, Moral, Kunst und Kultur prägt. Ihrer Ansicht nach ist die „Warenform in der kapitalistischen Gesellschaft keineswegs universell. Im Gegenteil: Dort, wo sie vorhanden ist, hängt sie von Zonen der Nicht-Warenförmigkeit ab, die das Kapital systematisch kannibalisiert“ (42). „Ob das Soziale, das Ökologische oder das Politische – keine dieser nicht kommodifizierten Zonen spiegelt einfach die Warenlogik wider. Jede verkörpert spezifische normative und ontologische Grammatiken“ (42), z.B. im Bereich der Reproduktion „Ideale der Fürsorge, der gegenseitigen Verantwortung und der Solidarität“ (weitere Beispiele 42f.). Fraser will diese Grammatiken nicht idealisieren. „Dennoch ist es wichtig, ihre Abweichung von den Werten festzustellen, die mit dem Vordergrund des Kapitalismus verknüpft sind“ (43), z.B. Effizienz, Leistung etc. Frasers These lautet: „Die kapitalistische Gesellschaft ist weit davon entfernt, eine einzige, alles durchdringende Verdinglichungslogik hervorzubringen, sondern sie ist normativ differenziert und umfasst eine begrenzte Vielfalt von unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen sozialen Ontologien.“ (43)

Klassen- und Grenzkämpfe

Fraser betont die Wandelbarkeit der Trennungen/Verflechtungen je nach Akkumulationsregime. Sie unterscheidet den Merkantilismus, den liberal-kolonialen Kapitalismus, den staatlich gelenkten Monopolkapitalismus und den globalisierten neoliberalen Kapitalismus. Wichtig seien zudem für die spezifische Konfiguration der institutionellen Trennungen die sozialen und politischen Kämpfe und Widerstandsformen, die die Grenzen infrage stellen oder verteidigen und dabei auf die erwähnten normativen Grammatiken zurückgreifen (z.B. gegen die Kommodifizierung der Bildung), während im Produktionsbereich Klassenkämpfe stattfinden. Fraser spricht bezogen auf die Hintergrundbereiche von „Grenzkämpfen“.

An dieser Stelle versucht Fraser zwei Missverständnisse zu klären. Zunächst wendet sie sich gegen eine einseitige funktionalistische Auffassung der Hintergrundbedingungen (für die Warenproduktion, Arbeitsausbeutung usw.). Funktionalität ist die eine Seite, die andere Seite sind die besagten Zonen als „Reservoir ‚nichtökonomischer‘ Normativitäten“ (48), die eine eigenständige Bedeutung haben. Jede dieser Zonen „beherbergt spezifische Ontologien sozialer Praxis und normativer Ideale“ mit einem „kritisch-politische[n] Potential“, das insbesondere in Krisenzeiten „gegen zentrale wirtschaftliche Praktiken“ der Kapitalakkumulation mobilisiert werden kann. Kritik am Kapitalismus entsteht insbesondere in den erwähnten Grenzkämpfen.

Allerdings – zweites Missverständnis – warnt Fraser vor einer romantischen Lesart, die die Zonen „als etwas ‚außerhalb‘ des Kapitalismus Stehendes und von Natur aus gegen ihn Gerichtetes“ (49) betrachtet. Fraser kritisiert diese romantische Sichtweise in manchen Bewegungen (Kulturfeministinnen, Tiefenökologen, Neo-Anarchist:innen, Dekolonialisierungsaktivisten etc.), die ihre Position als an sich schon antikapitalistisch missverstehen, ohne den fundamentalen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Ökonomie und Hintergrundzonen zu beachten. „Keine der ‚nichtökonomischen‘ Bereiche bietet einen völlig externen Standpunkt, der eine absolut reine und radikale Form der Kritik ermöglichen würde. Im Gegenteil: Politische Projekte, die sich auf das berufen, was sie als das ‚Außen’ des Kapitalismus imaginieren, recyceln in der Regel kapitalistische Stereotypen“ (49f.) (Beispiel: männliche Aggression vs. weibliche Fürsorge).

Zusammenfassend beschreibt Fraser drei verschiedene „Ideen“ bzgl. der Vordergrund/Hintergrund-Beziehungen des Kapitalismus: „Erstens dienen die ‚nichtökonomischen‘ Bereiche als ermöglichende Hintergrundbedingungen der kapitalistischen Ökonomie; Letztere ist für ihre Existenz auf Werte und Inputs aus Ersteren angewiesen.“ Zweitens haben die nichtökonomischen Bereiche einen ganz eigenen Stellenwert, insofern sie „unter bestimmten Umständen Ressourcen für den antikapitalistischen Kampf bereitstellen“ können. Drittens aber sind diese „Bereiche feste Bestandteile der kapitalistischen Gesellschaft … und zeichnen sich durch ihre Symbiose mit der Ökonomie aus.“ (50)

Krisen der Kannibalisierung

Eine vierte Idee beschließt den Gedankengang. Fraser kommt auf die in der Einleitung angesprochene Krisenthematik zurück. „Wie wir gesehen haben, ist die kapitalistische Produktion nicht selbsterhaltend, sondern ein Trittbrettfahrer der sozialen Reproduktion, der Natur, der politischen Macht und der Enteignung [Expropriation]; doch ihre Ausrichtung auf endlose Akkumulation droht genau diese Bedingungen ihrer Möglichkeit zu destabilisieren.“ (51) Jedem dieser vier Bereiche entspricht eine „Gattung der Kannibalisierung“ bzw. eine spezifische „Krisentendenz“. Diese Krisentendenzen sind nicht auf „innere Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft zurückzuführen“ (nach dem Muster der von Marx bearbeiteten ökonomischen Krisenprozesse). „Sie beruhen vielmehr auf den Widersprüchen zwischen dem Wirtschaftssystem und seinen Rahmenbedingungen – zwischen Produktion und Reproduktion, Gesellschaft und Natur, Wirtschaft und Gemeinwesen, Ausbeutung und Enteignung.“ Sie produzieren soziale Kämpfe; neben den Klassenkämpfen in der Produktion kommt es zu den erwähnten Grenzkämpfen, „die für unsere erweiterte Sicht des Kapitalismus als institutionalisierte Gesellschaftsordnung unabdingbar“ (52) sind. Während Marx, so Fraser, sich mit seiner Systemkritik auf die der Ökonomie immanenten Widersprüche und die Kämpfe gegen Klassenherrschaft konzentriert, richtet sich die von ihr intendierte „Art von Kapitalismuskritik“ (53) auch auf die bereichsspezifischen Widersprüche und auf die Kritik „der Geschlechterherrschaft, der politischen Herrschaft, der Herrschaft über die Natur und der rassistischen/imperialistischen Herrschaft“. Damit gerät eine Vielfalt von Akteuren (Klassen, Geschlechter, Statusgruppen, „Rassen“, Nationen und demoi) und „Vektoren des Kampfes“ (Klassen- und Grenzkämpfe) in den Blick. „Was als antikapitalistischer Kampf zählt, ist also viel umfassender, als Marxisten traditionell angenommen haben.“ (54) Grenzkämpfe erscheinen so „in einem anderen Licht“: „als Kämpfe im Kapitalismus, um ihn herum und (in einigen Fällen) gegen ihn. Sollten sie sich selbst in diesem Sinne verstehen, könnten die an diesen Kämpfen Beteiligten kooperieren. In diesem Fall würde ihr emanzipatorisches Potenzial in ihrer Fähigkeit bestehen, sich neue Konfigurationen vorzustellen, nicht ‚bloß‘ der Wirtschaft, sondern auch in Bezug auf das Verhältnis der Ökonomie zu Gesellschaft, Natur und Politik“ (54). Auf diese neuen Konfigurationen geht Fraser im abschließenden Kapitel ihres Buches ein.

Was sollte Sozialismus im 21. Jahrhundert bedeuten?

Fraser konstatiert analog zum Kapitalismusbegriff eine parallele Renaissance des Sozialismusbegriffs (z.B. in den USA, s. Bernie Sanders oder die Democratic Socialists of America), den zu klären sie für absolut wichtig erachtet. Entsprechend ihrer kapitalismustheoretischen Argumentation fordert sie einen „erweiterten“ (226) Begriff von Sozialismus. Auch dieser könne „nicht länger allein als alternatives Wirtschaftssystem“ verstanden werden. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel reiche nicht aus. Auch die Hintergrundbedingungen müssten transformiert werden. Nicht nur die Ausbeutung der Lohnarbeit, sondern auch das Trittbrettfahren des Kapitals „bei der unbezahlten Sorgearbeit, der öffentlichen Macht und dem Reichtum, der von rassifizierten Subjekten und der nichtmenschlichen Natur expropriiert wurde“ (226) müsse beendet werden. Eine Änderung des Sozialismus-Konzepts sei notwendig, um eine „glaubwürdige Alternative“ (227) zu präsentieren, die sich vom Sowjetkommunismus und der „sozialen Demokratie“ unterscheiden und „historisch entstandene Möglichkeiten“ (228) verkörpern, d.h. nicht bloß utopisch sein sollte.

Welche Schlussfolgerungen zieht Fraser aus diesen Ausführungen für ihr erweitertes Verständnis von Sozialismus?

Der neue Sozialismus steht vor einer „großen Aufgabe“. Er muss eine „neue Gesellschaftsordnung“ erfinden, die alle Formen von Herrschaft (in allen Bereichen) tendenziell überwindet; er muss die vielfältigen Krisentendenzen (in allen Bereichen) „entinstitutionalisieren“; und er muss den „Geltungsbereich der Demokratie erheblich erweitern“ (240). Fraser fokussiert ihren Beitrag dazu auf „drei Überlegungen“, die zugleich „ein neues Licht auf einige klassische Topoi sozialistischen Denkens“ (241) werden.

1. Die erste Überlegung bezieht sich auf die „institutionellen Trennungen [und Grenzziehungen] des Kapitalismus“ (241) und die damit verbundenen Krisen und Kämpfe: Produktion und Reproduktion, Ausbeutung und Enteignung, Wirtschaft und Politik, Gesellschaft und Natur. Für Sozialist:innen stellt sich die Frage dahingehend, „ob und wie gesellschaftliche Sphären voneinander abgegrenzt und miteinander verbunden sind“ und wie ihre interne Organisation aussehen sollte.

– Es sollte nicht darum gehen, „die Trennungen ein für alle Mal zu beseitigen“ (242), sondern „die Grenzen weicher und durchlässiger zu gestalten“ und auf Kompatibilität und wechselseitige Responsivität zu achten. Auf jeden Fall sollte die „Neigung des Kapitalismus“ zu „Nullsummenspielen“ überwunden werden, „die der Natur, der öffentlichen Macht und der sozialen Reproduktion das wegnehmen, was sie der Produktion geben“ (242).

– Die Prioritäten sollten neu gesetzt werden, um die Unterordnung der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche unter das Prinzip der Warenproduktion und Kapitalakkumulation zu beenden. „In der Tat besteht die Aufgabe des Sozialismus genau darin, die Dinge in den Vordergrund zu stellen, die das Kapital in den verleugneten Hintergrund drängt.“ (243)

– Der „Prozess der institutionellen Gestaltung“ muss demokratisiert werden. Fraser bezeichnet das als „Redomainung“: „die Grenzen neu ziehen, die gesellschaftlichen Bereiche abstecken und entscheiden, was in diese Bereiche aufgenommen werden soll“ (243). Die Demokratisierung und gerechte Gestaltung der Entscheidungsprozesse sollten inklusiv sein und auf Gleichberechtigung aller beruhen.

– Wichtige Prinzipien sollten Nachhaltigkeit und intergenerationelle Gerechtigkeit sein: Erforderlich sind ‚Reparatur‘ und Ersatz der Ressourcen in den Bereichen, „die der Kapitalismus so rücksichtslos kaputt gemacht hat“ (244).

2. Die zweite Überlegung betrifft die Frage der Verwendung des gesellschaftlichen Überschusses (über das hinaus, was die Gesellschaft braucht, um sich reproduzieren zu können, zuvor Privateigentum der Kapitalistenklasse).

– die „Kontrolle über den gesellschaftlichen Überschuss“ und das heißt auch generell über das Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums („wollen bzw. brauchen wir es überhaupt und wenn ja, wie viel, welcher Art, wie und wo?“) muss demokratisiert werden.

– Überschuss kann auch in „gewonnene[r] Zeit“ (Zeit über die notwendige Arbeitszeit für die einfache Reproduktion hinaus) berechnet werden. Die Gewinnung freier Zeit war für die sozialistischen Klassiker wie Marx von großer Bedeutung. Fraser betont aber, dass „in der Anfangsphase eines neuen Sozialismus“ (246) der Spielraum für mehr freie Zeit begrenzt sein wird. „Der Grund dafür liegt in der enormen unbezahlten Rechnung, die die sozialistische Gesellschaft vom Kapitalismus erben würde.“ (246) Zudem gibt es „massenhaft unbefriedigte Bedürfnisse der Menschen überall auf der Welt“ (247), z.B. bei der Gesundheitsversorgung, Wohnraum etc. Nicht zu vergessen die Aufgabe der Dekarbonisierung der Weltwirtschaft.

3. Die dritte Überlegung bezieht sich auf die „Rolle der Märkte in einer sozialistischen Gesellschaft“ (247). Märkte sollten, so Fraser, bei der Verteilung des gesellschaftlichen Überschusses keine Rolle mehr spielen, da es sich um kollektives Eigentum handelt. Ebenso sollte der Markt auf der „Ebene der Grundbedürfnisse“ (248) obsolet sein. Was Grundbedürfnisse sind, auf die ein Rechtsanspruch bestehen sollte, muss demokratisch entschieden werden. Die diesbezüglichen Güter sind öffentliche Güter.4 Bleibt, so fragt Fraser, zwischen diesen beiden Polen überhaupt noch Platz für Märkte? – Fraser plädiert für eine „Mischung aus verschiedenen Möglichkeiten“: Dazu gehören Märkte, Genossenschaften, Commons, selbstorganisierte Assoziationen und selbstverwaltete Projekte. Märkte würden in einer solchen Mischwirtschaft „in ihrer Funktionsweise weder die Dynamik der Kapitalakkumulation und der privaten Aneignung des gesellschaftlichen Überschusses befeuern noch davon verzerrt werden“ (249).

Abschließend betont Fraser sowohl die Partialität und Vorläufigkeit ihrer Sichtweise als auch die Vorzüge. Sie wolle den „Ökonomismus der gängigen Vorstellungen“ (250) überwinden helfen und die „Relevanz des Sozialismus für eine breite Palette aktueller Probleme“ aufzeigen, „die über die der traditionellen Arbeiterbewegung hinausgehen, nämlich soziale Reproduktion, struktureller Rassismus, Imperialismus, Entdemokratisierung und Klimawandel“. Zudem wolle sie einen Beitrag leisten zur Neuformulierung einiger alter „Topoi des sozialistischen Denkens“ (250). Für die Leser:innen ihres Buches gilt: Weiterdenken!5

1 Mit der ursprünglichen Akkumulation hat Marx selbst eine solche Hintergrundbedingung angedeutet. Die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus nämlich beruht auf „Raub und Enteignung“ (26f.). Rosa Luxemburg und David Harvey folgend ist diese „ursprüngliche Akkumulation“ bzw. Expropriation ein „fortwährender, wenn auch inoffizieller Mechanismus der Akkumulation, der neben dem offiziellen Mechanismus der Ausbeutung weiterläuft – also neben der sozusagen ‚Vordergrundgeschichte‘ von Marx.“ (27)

2 Diese vier Hintergrundbedingungen werden separat in den Kapiteln 2-5 ausführlich behandelt. Zu früheren Arbeiten Frazers, vor allem zum Thema soziale Reproduktion vgl. Irina Herb/Sarah Uhlmann: Zum Widerspruch zwischen Akkumulation und der Reproduktion des Lebens. Social Reproduction Theory als umfassende Analyse kapitalistischer Gesellschaften, in: PROKLA 214/2024, 11-31.

3 Dem trug aber bereits Marx dadurch Rechnung, dass er bezogen auf den Kapitalismus von einer bürgerlichen „Gesellschaftsformation“ sprach, analog zur feudalen Gesellschaftsform.

4 Nebenbei: Fraser lehnt ein bedingungsloses Grundeinkommen ab, weil nämlich die Befriedigung der Grundbedürfnisse weiterhin an die Warenform gebunden wäre.

5 Eine kritische Rezension findet sich bei Christian Stache auf kritisch-lesen-de, der neben einigen bedenkenswerten Kritikpunkten doch recht vorschnell und plakativ dem Buch Frasers das Etikett „intersektionaler Revisionismus“ aufklebt. Vgl. https://kritisch-lesen.de/rezension/intersektionaler-revisionismus.