„Akkumulation – Überausbeutung – Migration“

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Rezension von Wolfgang Kastrup

Janina Puder: Akkumulation – Überausbeutung – Migration, Frankfurt/M.: Campus Verlag Frankfurt/ New York 2022, 343 Seiten, 44,00 Euro, ISBN 978-3-593-51639-4

Die vorliegende Veröffentlichung der Forschungsarbeit Akkumulation – Überausbeutung – Migration von Janina Puder, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel, basiert auf ihrer Dissertation. Titel und Untertitel des Buches Arbeit im malaysischen Palmöl-Industriellen-Komplex verweisen speziell auf die Überausbeutung niedrigqualifizierter Arbeitsmigrant*innen am Beispiel des malaysischen Palmölsektors. Palmöl wird hauptsächlich in Malaysia und Indonesien angebaut und ist eines der wichtigsten Pflanzenöle auf dem Weltmarkt. In zahlreichen Nahrungsmitteln und Kosmetikprodukten ist der Rohstoff Bestandteil; zudem eignet sich Palmöl im Besonderen zur Herstellung „vermeintlich ökologisch nachhaltigen Biokraftstoffen“. (15) Auf der bisher wenig beachteten spezifischen Ausbeutung von Migrant*innen mit niedriger Qualifikation in diesem Palmölsektor liegt der Schwerpunkt der Untersuchung von Puder. Dabei bleibt der gravierende ökologische Schaden durch den expandierenden, monokulturellen Palmölanbau nicht unberücksichtigt, denn diese Ausdehnung der monokulturellen Ölpalmkultivierung führt zu einer permanenten Grenzverschiebung zwischen Plantagenanbaugebieten und ehemaligen Waldgebieten. Komplexe Ökogebiete werden so in riesige agroindustrielle Landschaften verwandelt. Auf den malaysischen Plantagen arbeiten ca. 80 Prozent der Arbeiter*innen aus Indonesien, Indien, Bangladesch oder den Philippinen. (17)

Die Autorin geht von der Grundannahme des Marxschen Ausbeutungstheorems aus, wonach die Ausbeutung von Lohnarbeit strukturell in der kapitalistischen Produktionsweise zu sehen ist. Die natürliche Grenze dieser Ausbeutung ist erreicht in der Reproduktion der Arbeitskraft auf einem Mindestniveau. Mit der Überausbeutung argumentiert Janina Puder überzeugend, dass die Arbeitsmigrant*innen im malaysischen Palmölsektor über ein „normales“ Maß hinaus ausgebeutet werden. „Daraus erwächst zugespitzt formuliert die These, dass Arbeitsmigrant*innen in der malaysischen Palmölindustrie systematisch überausgebeutet werden. Diese These bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Davon abgeleitet stellt sich die Frage, wie es überausgebeuteten Arbeiter*innen gelingt, ihre Arbeitskraft zu reproduzieren.“ (18) Karl Marx hat die Überausbeutung von Arbeitskräften zwar nicht als eigenständiges Phänomen betrachtet, die Möglichkeit der Überausbeutung aber durchaus benannt. So spricht er beispielsweise von einer „Mehrarbeit verlängert durch die Überschreitung ihrer normalen Grenzen“ oder bezüglich des Arbeiters über die „verkümmerte Reproduktion seiner Arbeitskraft“. (MEW 23, 333) Die Forschungsarbeit der Autorin schließt hier erfreulicherweise eine Lücke, denn in der deutschsprachigen Sozialwissenschaft ist das Thema der Überausbeutung der Arbeitskraft bisher wenig systematisch behandelt worden.

Methodisch stützt sich die vorliegende Studie auf die von Michael Burawoy entwickelte Extended Case Method (ECM), die bei qualitativen sozialwissenschaftlichen Studien mit einem theoretischen Ausgangspunkt beginnt, um dann die reflexive Verbindung mit der empirischen Forschungsarbeit herzuleiten. (34)

Die malaysische Gesellschaft ist der Autorin zufolge „quer zur Klassenzugehörigkeit vorwiegend entlang von Ethnie, Religionszugehörigkeit, Herkunft und Geschlecht hierarchisiert“. Die Herrschaftsverhältnisse werden zusätzlich durch den „postkolonialen Kontext der Entwicklung“ von Malaysia beeinflusst. (36)

Aus Ausbeutung wird Überausbeutung, wenn die Verausgabung der Arbeitskraft die Arbeitssubstanz der Arbeiter*innen so weit angreift, dass sich diese nicht mehr vollständig regenerieren kann. Überausbeutung ist aus Sicht des Kapitals eine Strategie, zusätzlichen Mehrwert im Produktionsprozess zu generieren. Für die Arbeitskräfte bedeutet dies Löhne, die die eigene Reproduktion nicht sichern können. Hinzu kommen die permanente Ausdehnung des Arbeitstages und Arbeitsbedingungen, die an die physische und psychische Substanz gehen. Folglich sind sie auf zusätzliche Einkommensquellen angewiesen. „Es sind die Arbeiter*innen selbst, die getrieben durch die Unsicherheit der Reproduktion ihrer Arbeitskraft permanent nach Gelegenheiten suchen, Überstunden zu leisten.“ (278) Das Perfide ist, dass dies dann als freiwillige und somit eigenverantwortliche Entscheidung erscheint. Weitere zusätzliche und notwendige Einkommensquellen sind informelle Tätigkeiten, Tauschgeschäfte, die Aufnahme von Schulden und das illegale Betreiben von Subsistenzwirtschaft. (280f.)

Der Staat schafft durch das vorherrschende Arbeitsmigrationsregime die Voraussetzungen für die Überausbeutung im Palmölsektor. Die „Segmentierung des Arbeitsmarktes, die Kanalisierung von Arbeitsmigrant*innen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit in voneinander separierte Bereiche des Niedriglohnsegments und die institutionelle Diskriminierung migrantischer Arbeiter*innen im Hinblick auf gewerkschaftliche (Selbst-)Organisation“ verhindern „den kollektiven Widerstand migrantischer Arbeiter*innen“. (300)

Überproportional ist der Anteil weiblicher Arbeiterinnen, die als Tagelöhnerinnen zu den niedrigsten Einkommen und schlechtesten Arbeitsbedingungen in diesem Wirtschaftszweig beschäftigt werden. „Weibliche Arbeitsmigrantinnen bilden […] eine tragende Säule der überausbeuterischen Arbeitsverhältnisse im malaysischen Palmölsektor, indem sie kostenfreie reproduktive, zum Teil unbezahlte wertproduktive und häufig unregulierte informelle Arbeit leisten.“ (280f.)

Die Überausbeutung migrantischer Arbeitskräfte in der Palmölindustrie in Malaysia ist, wie Janina Puder betont, kein Einzelfall. Vergleichbare Verhältnisse zeigen sich beispielsweise in der exportorientierten industriellen Latexhandschuhherstellung oder im häuslichen Pflegebereich. (309)

Die Ausführungen der Autorin machen deutlich, dass Überausbeutung und Ausbeutung zusammen gesehen werden müssen. Sie sind als Resultat der Funktionslogik einer kapitalistischen Produktionsweise zu begreifen.

Es zeigt sich in den gesamten Ausführungen, und vor allem mit dem Bezug auf Karl Marx, dass Puder den Begriff der Ausbeutung zutreffend im Sinne eines politökonomischen Tatbestandes, einer Systemnotwendigkeit versteht und nicht, wie es häufig geschieht, als moralische Kategorie einer ungerechten Behandlung der Lohnarbeitenden durch das Kapital. Ihre Forschungsarbeit weist eine stringente und theoretisch eindeutige Argumentationslinie auf, die sie dann mit einer umfassenden empirischen Datenlage verbindet. Da die Autorin das soziale Ungleichheitsverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital als eine Beziehung versteht, die aus der kapitalistischen Vergesellschaftung der Arbeit und der Produktion hervorgeht, ist ihre Forschungsarbeit ein wertvoller Beitrag für die soziologische Ungleichheitsforschung.