Die neue Dimension des Rassismus in Deutschland
Von Heiko Kauffmann
„Flüchtlings-Ausgaben Bürgergeld: DER GROSSE KOSTEN-KNALL – Wer soll das bezahlen?“ (BILD v. 11.11.23); „Asyl-Report: WARUM ES SO NICHT WEITERGEHEN KANN“ (SUPERillu vom 9.11.23). – Schlagzeilen wie diese beherrschen z. Zt. die Asyl-Debatte. Sie sind das Echo auf Aussagen und Interviews von Politikern, die Bürgerinnen und Bürger bewusst oder fahrlässig in Unruhe versetzen und damit Vorurteile und Aggressionen auslösen. Kein Wort von Solidarität und Menschenwürde, von Integration, Flüchtlings-Schutz und völkerrechtlichen Verpflichtungen. Mit Schlagworten wie „Illegale“, „irreguläre Migration“, „Einwanderung in die Sozialsysteme“, „Überlastung“ u.a. wird zunächst die Sprache ideologisiert, dann folgen Denken und Handeln.
Weniger Geld, reduzierte Leistungen („bis auf Null“, Christian Lindner); beschleunigte Verfahren; mehr, schnellere und brutalere Abschiebungen; gewaltsame Zurückweisungen; „Schachern“ um die Obergrenze; Haftlager an den Außen-Grenzen; Auslagerung von Asylverfahren nach Afrika und in mögliche Dritt-Staaten; weiter: Tausendfaches Sterben-Lassen im Mittelmeer und vor den Toren Europas.
Restriktionen über Restriktionen, immer drastischere Angriffe auf die Rechte von Geflüchteten, Schikanen ohne Ende – ein Deja-Vu der 90-er Jahre?
In der gegenwärtig erhitzten, von der extremen Rechten entfachten Asyl-Debatte zündeln ‚etablierte‘ Politiker der Opposition und auch der Ampel-Regierung mit fragwürdigen und falschen Behauptungen. Ihre vermeintliche Hoffnung, damit die AfD klein halten und bei den Wählern punkten zu können, trägt zur weiteren Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft bei. Es braut sich eine brandgefährliche rassistische Stimmung zusammen, in der Drohungen, Anschläge und Feindseligkeiten gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte erschreckend zunehmen. Die Gewaltmeldungen überschlagen sich: In den ersten drei Quartalen 2023 gab es 1515 Angriffe auf Schutzsuchende und ihre Unterkünfte – nach der bereits sehr hohen Zahl von 1371 registrierten Straftaten im gesamten Jahr 2022.
Erleben wir gerade eine Zeitenwende auch im Asyl- und Migrations-Diskurs, ein konservatives Rollback, eine Wiederkehr der 90-er Jahre?
Vor 30 Jahren führten eine stetig zunehmende politische und mediale Hetze gegen Geflüchtete zu tödlichen Anschlägen und Pogromen – und schließlich zur Zerstörung des Artikels 16 GG, des Grundrechts auf Asyl.
Ausgerechnet die (Ampel-)Regierung, die für „Fortschritt“, „Respekt“ und „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ stehen wollte, stimmt in den populistischen Überbietungs-Wettbewerb flüchtlingsfeindlicher Stimmungsmache ein, die ihrem humanitären und integrations-orientierten Anspruch zuwiderläuft.
Die neuen Gesetzespläne fördern nicht den sozialen Frieden, sondern polarisieren die Gesellschaft. Sie helfen weder den stark belasteten Kommunen noch bestärken sie die ehrenamtlich engagierten Bürgerinnen und Bürger, die in Städten und Gemeinden zu Tausenden für Integration, Teilhabe und ein alle bereicherndes Leben engagiert sind. Sie bestärken vielmehr rechtsextreme Scharfmacher, die mit ihren Rufen „Ausländer raus“ und „Deutschland den Deutschen“ beabsichtigen, dieses weltoffene und demokratische Land in einen autoritären Obrigkeitsstaat zurückzuführen.
Wie in den 90-er Jahren – und auch nach 2015 – stellen sich Regierungs-Parteien und politisch Verantwortliche mehrheitlich nicht hinter die vielen Initiativen der demokratischen Zivilgesellschaft und stärken dieser den Rücken; vielmehr geben sie dem Druck medialer Hetze und zündelnder Politiker nach und spielen damit Rechtsextremisten, Rassisten und der AfD in die Karten.
Wenn man die oft hemmungslos und faktenfrei vorgetragenen Ressentiments à la Friedrich Merz, Carsten Linnemann, Jens Spahn und anderer verfolgt, kann einem Angst und Bange um unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden. Aussagen wie die von Jens Spahn, man müsse „irreguläre Migrations-Bewegungen gegebenenfalls mit physischer Gewalt“ aufhalten, sind purer Rassismus und Wasser auf die Mühlen rechtsradikaler Akteure, die sich durch derartige Vorschläge bestätigt und ermutigt fühlen könnten.
Keines der jetzt geplanten Gesetze, schon gar nicht die unverantwortliche Rhetorik geschichtsvergessener Politiker beendet auch nur ein einziges der sozialen und ökonomischen Probleme, die sie vorgeben zu lösen.
Die Tiefpunkte der deutschen Geschichte lehren uns: Was ‚Obrigkeiten‘, gesellschaftliche Autoritäten, was die Politik in Zeiten von Krisen und Unsicherheiten skandiert, kann ‚unten‘ in Gewalt eskalieren, wenn sich ihre Adressaten dadurch bestätigt und legitimiert fühlen, ihr rassistisches Tun mit ‚allen Mitteln‘ durchzusetzen.
Statt die Ursachen von Missständen und Versäumnissen zu analysieren, sie zu benennen, zu bearbeiten und zu einer Lösung zu führen, wird der Focus auf vermeintliche ‚Sündenböcke‘ gelenkt, Leidtragende von Verfolgung, Gewalt und existenzieller Not; sie werden – endlich im Zufluchtsland angekommen – erneut Opfer von Diskriminierung und Ausgrenzung.
Es ist nicht die Schuld der Flüchtlinge, dass wir zu wenig Kitaplätze haben, die Krankenhäuser voll sind und es kaum bezahlbare Wohnungen gibt. Es wird höchste Zeit, dass sich die Politik ‚ehrlich macht‘, Fehler und Versäumnisse aufarbeitet und neue Prioritäten setzt, statt extremistischen Scharfmachern auf den Leim zu gehen.
Im Rahmen der Willkommenskultur 2015 waren vorausschauende Aufnahme- und Unterbringungs-Konzepte, Integrations- und Infrastrukturmaßnahmen geplant, die auch für neue Krisen vorgehalten werden sollten. Diese möglichen Verbesserungen wurden jedoch durch Seehofers restriktive Asylpakete und einen dramatisch inszenierten Stimmungswandel alsbald wieder verworfen.
Wissenschaftliche Untersuchungen und historische Erfahrungen belegen:
Je restriktiver und härter der Kurs gegen Flüchtlinge und Minderheiten ist, je diskriminierender Gesetze und je brutaler Abschiebungen werden, desto mehr polarisiert sich die Gesellschaft, umso mehr verschärfen sich Feindseligkeiten und Ablehnung gegen Geflüchtete und Minderheiten, umso mehr werden Rassismus und Antisemitismus gestärkt.
Das „Buhlen um rechts“ markiert eine lange Traditionslinie und Kontinuität politischer und medialer Hetze in Deutschland. Sie war immer schon Nährboden für feindselige Menschenbehandlung und reicht mit den NSU-Mordtaten, mit Hanau, Halle und vielen ungezählten, nicht benannten alltäglichen Angriffen auf Geflüchtete und Minderheiten bis in die Gegenwart.
Deutschland ist seit den 90-er Jahren deswegen wiederholt von UN-Gremien kritisiert worden. Die jeweiligen Innenminister von Schily bis Seehofer haben diese Kritik und die Empfehlungen der Ausschüsse stets zurückgewiesen und auf der Lebenslüge beharrt, in Deutschland gäbe es keinen ‚staatlichen‘, keinen institutionellen Rassismus.
Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung anlässlich der jüngsten Überprüfung durch den UN-Menschenrechtsrat Versäumnisse und Probleme beim Schutz der Menschenrechte eingeräumt hat. „Rassismus sei in Deutschland lange heruntergespielt worden“, so die Beauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg am 9.11.2023 im Deutschlandfunk: Deutschland werde weiter gegen Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und andere Formen von Ausgrenzung und Diskriminierung kämpfen.
Dieser Zusage stehen die jüngst beschlossenen Maßnahmen diametral entgegen, bei denen die Regierung eingesteht, „an die Grenze des rechtsstaatlich Zulässigen gegangen“ zu sein – so der Freidemokrat (!) und Justizminister(!) Marco Buschmann in der ‚BILD am Sonntag‘ vom 29.10.2023.
Seine Aussage macht deutlich, dass Regierung und Abgeordnete sehr genau wissen, dass die geplanten Gesetze mit Menschenwürde und Flüchtlings-Schutz nicht vereinbar sind. Sie sind vielmehr ein Sammelsurium der Abwehr und Abschreckung zur Verhinderung der Inanspruchnahme des Asylrechts in einer Grauzone zwischen (Völker-)Rechtsbruch und rassistisch unterfütterten Gesetzen.
Rassismus in Deutschland ist noch längst nicht überwunden; gerade die jüngsten Entwicklungen offenbaren die staatlichen Anteile daran und machen deutlich, dass Rassismus auch aus der Mitte der Gesellschaft und aus dem Geist von Gesetzen kommt.
Institutioneller und individueller, staatlicher und alltäglicher Rassismus bedingen einander. Maßnahmen wie die geplanten tragen zur weiteren Zermürbung, Stigmatisierung und Dehumanisierung von Flüchtlingen bei.
Statt Rassismus zu fördern und in der Gesellschaft zu verfestigen, wäre vielmehr die Einsetzung einer Enquete-Kommission aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft überfällig, um institutionellen und individuellen Rassismus in Deutschland zu untersuchen, zu analysieren und durch geeignete Maßnahmen zu überwinden.
Die Zivilgesellschaft spielt dabei die entscheidende Rolle, unsere Verfassung und die Menschenwürde zu schützen und ihre ganze Kraft darauf zu richten, dass Empathie, Mitmenschlichkeit und Solidarität über Ausgrenzung, Rassismus und Barbarei obsiegen!
Heiko Kauffmann war 1986 Mitgründer der Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL, von 1994 bis 2002 Sprecher von PRO ASYL und bis 2012 Vorstandsmitglied. Als Mitherausgeber veröffentlichte er mehrere Reader in der Edition DISS. Der Artikel ist zuerst in der Ostsee-Zeitung v. 23.03.2024 erschienen.