„Zahraas Erwartungen in ihrem Traumland“

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Von Krieg, Mut und Hoffnungen: ein Interview mit einer Syrerin, die nach Deutschland geflohen ist

Von Berivan Slemann

„Alle fragen: Warum willst du noch studieren? Du bist zu alt!  Der wahre Grund seid ihr. Das ist eure Schuld. Also ohne Aufenthaltserlaubnis darf man nicht an Sprachkursen teilnehmen“

(Zahraa)

 

Zahraa wurde zu ihren Fluchterfahrungen und ihrer Einstellung zur deutschen Flüchtlingspolitik interviewt. Ihre Antworten werden im Folgenden zusammengefasst und eingeordnet. Dies ist ein Versuch, zu zeigen, wie Menschen darauf reagieren, wenn sie durch Krieg und ein autoritäres Regime gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen und sich kriminellen Fluchthelfern anzuvertrauen.

Am Anfang des Artikels sollte angemerkt werden, dass meine Wahl dieses Themas auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass ich die tragischen Momente und Härten einer Flucht aus Syrien selbst erlebt habe und sie deshalb gut nachvollziehen kann. Durch das Interview wollte ich die Meinung der betroffenen Person selbst hören, was häufig nicht passiert. Diese wird außerdem von meinem Standpunkt aus auch diskutiert. Insbesondere im Hinblick auf die gegenwärtige Asylpolitik und Verbesserungsmöglichkeiten. Wenn diese Vorschläge berücksichtigt würden, würde dies einen erheblichen Fortschritt in der Fluchtpolitik darstellen und Flüchtlinge ein hohes Maß an Integration und Offenheit in ihren neuen Gesellschaften erreichen.

 

„Wir verdienen ein besseres Leben“

Der Syrienkonflikt seit 2011 hat zu einer der größten Fluchtbewegungen der Welt geführt. Dies hat die Menschen gezwungen, sich auf gefährlichen Wegen ins Ungewisse zu begeben.

Allerdings muss die Flucht nicht immer eine spontane Reaktion sein, sondern kann eine seit Jahren geplante Entscheidung sein. Und diese Gründe können das Ergebnis kumulativer Ursachen sein, die immer schlimmer werden, bis zu dem Punkt, dass der Einzelne sie nicht mehr ertragen kann und bei dem Versuch, die Situation zu verbessern, scheitert. So war es bei Zahraa: Sie ist eine von Millionen syrischen Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit ihr Heimatland verließen. Wenn das Leben von Angst und Hilfslosigkeit geprägt ist, bleibt diesen Menschen keine andere Wahl, als ihre traurigen Erinnerungen in einen Koffer zu packen und in ein unbekanntes Morgen zu fliehen. Die Wahrheit ist also, dass die individuellen Fluchtgründe vor dem Syrienkrieg zum Teil ganz unterschiedlich waren, aber als es zu einem bewaffneten Konflikt kam, ging es vor allem darum, sich selbst, die Familien und die Kinder für ein besseres Leben zu retten.

„Die Situation verschlechterte sich, die Grundlagen des Lebens und die Gesamtsituation auch. Und wegen des Krieges mussten wir von einem Ort zum anderen ziehen. Die Situation war sehr schlimm, man konnte darin psychisch nicht leben… Es ist Krieg, kein Strom, Panzergeräusche! […] Wir wollten fliehen, wir wollten ein besseres Leben“ (Zahraa)

Mit der Formulierung „Von den Kriegszeiten zu einem neuen Himmel voller Hoffnungen und Leben in einer neuen Zukunft“ beginnt Zahraa ihre erste Antwort. Sie ist in Syrien geboren und aufgewachsen. Sie war 19 Jahre alt, als sie aus Syrien nach Deutschland kam. Die Fluchtentscheidung war für sie und ihre Familie kein Zufall oder spontane Reaktion auf die Eskalationen durch das Regime zu Beginn der Konflikte, sondern war ein Gedanke, der innerhalb der Familie schon länger präsent war. Sie floh mit ihrer Mutter und zwei Schwestern aus Syrien, nachdem ihr Vater und drei weitere Schwestern nach Deutschland geflohen waren. Sie nahmen den Landweg in die Türkei. Gemeinsam mit vielen anderen Flüchtlingen bestiegen sie ein kleines überfülltes Boot aus der Türkei über das Mittelmeer an die griechische Küste. Sie hatten keine andere Möglichkeit und mussten die gefährliche Überfahrt in einer Gruppe aus vier Frauen wagen. Nach einer langen und entbehrungsreichen Reise erreichten sie schließlich die Küste Europas, wo sie auf Rettungskräfte und Hilfsorganisationen trafen, die ihnen Schutz und Unterstützung boten.

In Deutschland angekommen, musste Zahraa sich zunächst in einem Flüchtlingslager registrieren lassen und auf ihr Asylverfahren warten. Während dieser Zeit lernte sie Deutsch und nahm an Integrationskursen teil, um sich in ihre neuen Traumheimat zurechtzufinden. Schließlich erhielt Zahraa die offizielle Aufenthaltsgenehmigung und konnte für ihre Karriere planen. Sie studiert zurzeit soziale Arbeit und arbeitet als Familienhelferin beim Jugendamt. Durch ihren Mut und ihr starkes Beharren, konnte sie ihre Träume verwirklichen.

 

Flüchtlinge als Held*innen

Bekanntlich werden Flüchtlinge oft klischeehaft als schwach und hilflos dargestellt. Dazu werden sie von Rettungsorganisationen fotografiert, wenn sie ihnen Essen, Wasser, Kleidung und Decken geben, um sich selbst als Held*innen und freundliche Retter*innen zu zeigen. Diese Bilder zeigen aber nur die halbe Wahrheit. Insbesondere wenn es um den Zusammenhalt zwischen den Geflüchteten geht.

„Die jungen Männer hatten die Grenzzäune heruntergezogen, damit wir und die anderen darunter hindurchgehen konnten. Ich kann mich gut erinnern, als ich meine Mutter und meine beiden Geschwister nicht finden konnte. Da kam ein junger Mann, um mir zu helfen. Ich habe seine Hand fest gegriffen. […] Ich kannte ihn nicht, aber ich packte ihn aus Angst. Ich war beruhigt“ (Zahraa)

Dieses Zitat zeigt, dass Flüchtlinge nicht immer hilflos sind. Sie haben gemeinsame Ziele, die sie verbinden und dazu bewegen, sich gegenseitig solidarisch zu helfen und ihre Träume zu verwirklichen. Zahraa erzählte auch, dass die Männer Frauen, Kindern und älteren Menschen viel geholfen hatten. Sie sind ins Meer gegangen, um die Gruppe sicher an die Küste zu bringen. Sie trugen schwere Taschen von anderen. Sie beruhigten weinende Mütter und schützten Frauen vor Gefahren.

 

Was könnte passieren, wenn die Flüchtlingspolitik anders ausgestaltet wäre?

Länder die Flüchtlinge aufnehmen, sollten versuchen, eine neue Perspektive für diese zu schaffen und sie rechtlich und sozial gleichstellen. Die Betroffenen sehen hier aber oft große Mängel. Dazu könne man viel sagen, antwortet Zahraa, als sie gefragt wird: „Was würden Sie an der Flüchtlingspolitik ändern, wenn Sie die Möglichkeit hätten zu entscheiden?“ Sie hat folgende Verbesserungsvorschläge gemacht:

 

1.Verbesserung der Lagerbedingungen

„Mein Bruder blieb sieben Monate im Lager und litt unter schweren Depressionen. Stellen Sie sich vor, jeden Tag der gleiche Ablauf, keine Kommunikation mit der Außenwelt. Allein das reicht aus, um psychisch krank zu werden. Nicht nur er, es gibt Leute, die wegen des großen psychischen Drucks, dass sie nicht herausgehen dürfen, drogenabhängig sind. Ich empfehle aus psychischen und sozialen Gründen, dass die Menschen nicht längere Zeit in Lagern bleiben“ (Zahraa)

Zahraa hat etliche Vorbehalte gegenüber dem deutschen Flüchtlingsrecht und wie Deutschland mit Flüchtlingen umgeht. Rahmenbedingungen, die die Freiheit der Flüchtlinge beschränken, hält sie für unzulässig. Sie betont, dass dies eine Enttäuschung für die neu ankommenden Migranten darstellt. Aufgrund von eingeschränkten Kontakten, fehlender Kommunikationssprache, Schwierigkeiten bei der Integration und der Angst vor Ablehnung in dem neuen Land durch die Einheimischen, sind sie psychisch nicht in der Lage, sich an ihr neues Leben anzupassen. Auch die Furcht vor Verzögerung oder Ablehnung des Asylantrags spielt von Anfang an eine große und entscheidende Rolle im Leben der Flüchtlinge. Wenn die zuständigen Gerichte bzw. Behörden das Verfahren verzögern oder wenn es eine Lücke in den Dokumenten und Beweisen gibt, kann das Asylverfahren mehrere Monate bis Jahre dauern, was zu einem langfristigen Gefühl von Unsicherheit führen kann. Außerdem wollte Zahraa diesen Aspekt des psychischen Drucks durch einige Erfahrungen in ihrem familiären Umfeld hervorheben. Als schwierige Erinnerung schildert sie ein beeindruckendes Ereignis von ihrem erkrankten Bruder: „Als mein Bruder, der ca. ein Jahr vor uns angekommen war, meine Mutter gesehen hat, legte er seinen Kopf in ihren Schoß und weinte stundenlang. Das war ein unvergessliches Moment, er war vor lauter Verzweiflung eine ganz andere Person.“

 

  1. Unterstützungsanforderung von minderjährigen Flüchtlingen im Familienzusammenführungskontext

Zahraa wurde in einem Aufnahmelager in Deutschland gefragt, ob sie als Sozialhelferin arbeiten wolle. Ihre Ablehnung begründete sie so:

„Ich haben die Arbeit in Lagern nicht akzeptiert, weil der Umgang mit den Bewohnern schwierig ist. Ich weiß nicht, was ihre Reaktion wäre, wenn man ihnen sagt, dass die Asylverfahren länger dauern könnten. Sie akzeptieren das nicht. Sie wollen ihre Familien schnell zu sich holen. Ich schlage deswegen vor: Die minderjährigen Kinder, die ohne ihre Eltern kommen, müssen bezüglich der Familienzusammenführung mehr unterstützt werden“ (Zahraa)

Es wäre wichtig, dass die Regierungen und Behörden diese Schwierigkeiten erkennen und Maßnahmen ergreifen, um den Prozess der Familienzusammenführung zu erleichtern. Das kann durch die Bereitstellung von klaren Richtlinien, Unterstützung bei der Beschaffung von Dokumenten und die Reduzierung von bürokratischen Hürden geschehen.

Tatsächlich sind Familienzusammenführungen mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden. Zahraa nimmt an, dass eine Verzögerung negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen habe und zu schweren psychischen Verletzungen führen könne.

Zu den Herausforderungen, die auftreten können, gehören: 1.) Bürokratische Hürden: Der Prozess der Familienzusammenführung kann sehr komplex und bürokratisch sein. Es erfordert oft eine Vielzahl von Dokumenten und Nachweisen, die beschafft werden müssen, und es können lange Wartezeiten auftreten. 2.) Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten: Es kann schwierig sein, alle erforderlichen Dokumente für die Familienzusammenführung zu beschaffen, insbesondere wenn die Flüchtlinge aus Ländern kommen, in denen die Verwaltungssysteme zerstört oder nicht gut organisiert sind.

Deshalb fordert Zahraa erhebliche Unterstützung für junge Flüchtlinge, um ihre Erlebnisse zu verarbeiten und mit ihren Familienmitgliedern ein sicheres Leben zu genießen. Diese Forderungen zielen darauf ab, junge Flüchtlinge bestmöglich zu unterstützen und ihnen die Chance zu geben, sich in ihrer neuen Heimat zu integrieren und ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Es wird deutlich, dass Zahraa großen Wert auf die Unterstützung junger Flüchtlinge legt. Dies kann zwei Gründe haben: Einerseits hat sie selbst schwierige Situationen erlebt oder aus ihrem Familienkreis davon gehört. Andererseits kann das als ein Zeichen für den Zusammenhalt und die Solidarität mit ihrem Mitmenschen verstanden werden.

 

3.Anspruch auf Erlernen der Sprache muss unabhängig von einer Aufenthaltserlaubnis sein

Auffällig sind Zahraas deutlichen Forderungen nach Sprachkursen:

„Alle fragen: Warum willst du noch studieren? Du bist zu alt! Der wahre Grund seid ihr. Das ist eure Schuld. Also ohne Aufenthaltserlaubnis darf man nicht an Sprachkursen teilnehmen. Mein zweiter Wunsch wäre: frühe Angebote zum Erlernen der Sprache. Was meine ich damit? Ich habe zwei Jahre gebraucht, bis die Aufenthaltserlaubnis kam und ich die Sprache lernen durfte. Also zwei Jahre meines Lebens sind unnötig vergangen und das ist der Punkt, an dem sie sich verbessern müssen.“ (Zahraa)

Zahraa kritisiert fehlende Sprachkurse als Hindernis für die Integration und Teilhabe am Arbeitsmarkt. Sie betont diese Forderung, da sie implizit auf die Schwierigkeiten abhebt, mit denen ausländische junge Personen mit Universitätsabschlüssen und einem hohen akademischen Leistungsniveau konfrontiert sind. Für sie sei das Erlernen der Sprache und das Erreichen eines hohen Sprachniveaus besonders wichtig, was viel Mühe und viel zu viel Zeit kostet.

Es ist vorgesehen, dass Migrant*innen Anspruch auf den Besuch von Sprachkursen erst ab dem Erhalt der Aufenthaltserlaubnis haben, was in manchen Fällen zwei oder drei Jahren dauern kann. Das hat auch Zahraa erlebt. Dies hat bei ihr dazu geführt, dass sie erst verspätet, ihr Studium angefangen hat. Eindrucksvoll beschreibt sie die Reaktionen von Anderen in ihrer Studienumfeld. Ihr wird vorgeworfen, es wäre ihre Schuld, so spät mit dem Studium zu beginnen. Sie beschreibt ihre Wut und Trauer über das, was sie ständig gesagt bekommt.

Dementsprechend gibt es eine große Unstimmigkeit zwischen diesen Einschränkungen und den unberechtigten Vorwürfen von Anderen im sozialen Feld. Nicht alle Menschen können die gesetzlichen Einschränkungen für Flüchtlinge verstehen. Sie betrachten dies als ein Versagen des Flüchtlings selbst und vergessen die strengen Gesetze, die für ihn gelten, die seine Freiheit einschränken und ihn von der Teilnahme am Arbeits- oder Studienleben abhalten.

 

  1. Forderungen nach soziokulturellen Initiativen und mehr Orientierungshilfen

„Da wir am Anfang in einem kleinen Dorf waren, gab es niemanden, der uns anleitete oder uns orientierte. Wir waren einfach orientierungslos. Meiner Meinung nach sollte es einen Spezialisten in jeder Stadt geben, um die Flüchtlinge anzuleiten.“ (Zahraa)

Hier wird deutlich, wie schwierig die ersten Schritte in der neuen Umgebung für Flüchtlinge sind. Dabei sieht Zahraa deutliche Probleme bei der fehlenden Initiative von Deutschen.  In einfachen Worten: Sie lassen sie allein.  Außerdem kritisiert sie fehlendes Verständnis für ihr Kultur am Beispiel von Frauen, die sich um ihre Kinder kümmern und denen dann vorgeworfen wird, nicht berufstätig zu sein.

„Meine Mutter ist zum Beispiel alt, sie kann nicht mehr arbeiten. Es ist so, dass die Frauen in unsere Gesellschaft viele Kinder haben. Die Kindererziehungsschwierigkeiten wirken auf das Leben der Eltern, vor allem kosten sie ihnen im Alter Kraft. Kindererziehung sollte berücksichtigt werden. Oder besser gesagt, es sollte von Spezialisten klar gemacht werden, dass unsere Kultur und Lebensumstände andere sind. Es ist selbstverständlich für uns alle, dass wir früher oder später im Arbeitsleben beitragen sollen. Und um ein gerechtes Gleichgewicht erreichen zu können, profitiert die Gesellschaft zwar nicht von diesen älteren Menschen, aber von ihren Kindern.“ (Zahraa)

Zahraa kritisiert hier, dass nicht gesehen wird, dass sich das Leben in Ländern des Nahen Osten stark von dem in europäischen unterscheiden kann. Es sollte akzeptiert werden, wenn ältere Frauen ihre Rolle nur in der Kindererziehung sehen. Die Gesellschaft profitiere auch von diesen, da sie ihre Kinder für den Arbeitsmarkt vorbereiten.

Würden Zahraas Vorschläge umgesetzt, wäre das eine deutliche Verbesserung. Leider fehlt dazu der politische Wille. Trotzdem zieht Zahraa insgesamt ein positives Fazit:

„Ich bin froh, dass ich da bin, wir sind alle gleich.“ (Zahraa)

Deutschland habe ihr und allen syrischen Flüchtlingen viel geholfen und öffne Karrieremöglichkeiten für alle Altersgruppen auch bei Ausländer*innen. Die Muslime würden als Teil der Gesellschaft gesehen. Und weil Deutschland viel getan hat, muss derjenige, der nimmt, auch etwas geben. Irgendwo werden sie aktiv sein und genau das geben, was sie genommen haben.

 

Berivan Slemann studiert Soziologie an der Universität Duisburg-Essen, obwohl die Behörden ihr als Geflüchtete strikt davon abgeraten haben und sie in einer Ausbildung sehen wollten. Im Frühjahr 2023 absolvierte sie ein Praktikum im DISS, in dem dieses Interview entstanden ist.