Kohei Saito neues Buch „Systemsturz“
Rezension von Wolfgang Kastrup
Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus, München: dtv 2023, 316 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-423-28369-4
Der japanische Wissenschaftler Kohei Saito, Associate Professor für Philosophie an der Universität von Tokio, hat nach dem 2016 erschienenen Buch Natur gegen Kapital wieder ein neues Werk veröffentlich, das in Japan im Original über eine halbe Million Mal verkauft wurde. Der prägnante Titel lautet Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Es geht in der Analyse des Buches um die Verflechtung von Kapital, Gesellschaft und Natur im Anthropozän, wobei dieses Zeitalter, wie er zum Schluss schreibt, besser „Kapitalozän“ (277) genannt werden sollte, da der Kapitalismus den Planeten zerstört, die Ursachen des Klimawandels also im System des Kapitalismus zu suchen sind. Um es vorweg zu sagen: Mit den theoretischen Grundlagen des späten Karl Marx kommt Saito zu dem Ergebnis, dass nur mit dem „Degrowth-Kommunismus“ die einzige Option vorhanden ist, die Krise zu überwinden und eine gerechte und nachhaltige Gesellschaft zu verwirklichen. (273)
Aber der Reihe nach: Saito beschreibt die von Menschen gemachten Katastrophen, seien es die von BP verursachte Ölpest im Golf von Mexiko, die Waldbrände im Amazonasgebiet, hervorgerufen durch das multinationale Agribusiness, oder der Einsturz des Gewerbegebäudes mit fünf Textilfabriken in Bangladesch, der über 1000 Menschenleben kostete. Diese Katastrophen sind auf kapitalistische Strukturen zurückzuführen. Der Autor bezieht sich auf die Soziologen Ulrich Brand und Markus Wissen, die auf eine „imperiale Lebensweise“ in den Industrieländern verweisen, die ohne Ausbeutung von Rohstoffen und ohne die Energie des globalen Südens nicht möglich wäre. (22) Des Weiteren führt er den Soziologen Stephan Lessenich und dessen Begriff der „Externalisierungsgesellschaft“ an, der das Abwälzen von Kosten bzw. auch Kompensationszahlungen in die Peripherien sowie das Unsichtbarmachen für den „Wohlstand“ in den Industrieländern zum Inhalt hat. „Die Externalisierungsgesellschaft schafft unaufhörlich Peripherien, wohin Belastungen abgewälzt werden. Dadurch ist unsere Gesellschaft zu Wohlstand gekommen.“ (24) Ebenfalls positiv bezieht sich Saito auf die „Weltsystemtheorie“ des US-amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein, der, vereinfacht formuliert, den Kapitalismus in „Zentrum“ und „Peripherie“ differenziert: Billige Arbeitskräfte werden in der Peripherie bzw. im Globalen Süden ausgebeutet, wodurch die Güterpreise gedrückt werden, während im Zentrum die Güter mit einer großen Gewinnspanne verkauft werden. (24) Leider versäumt es Saito, zu den erwähnten Theorien der unterschiedlichen Soziologen auch kritische Stimmen in der wissenschaftlichen Literatur zu erwähnen. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass das Buch sich an eine große Leserschaft wendet und deshalb in sehr verständlicher Sprache geschrieben ist, worunter gelegentlich die analytische Schärfe leidet.
Saito kritisiert den inneren Wachstumszwang des Kapitalismus als eine Grundproblematik der menschengemachten und kapitalgetriebenen Klimakatastrophe. Da der Kapitalismus nach „Selbstvermehrung des Kapitals“ strebt, besteht für den Autor „die einzige Möglichkeit, um das Wirtschaftswachstum zu unterbinden und sich der Klimakrise entgegenzustellen, den Kapitalismus aus eigener Kraft zu stoppen sowie einen großen Wandel hin zu einem postkapitalistischen Degrowth zu vollziehen“. (90) Saito strebt keinen Degrowth-Kapitalismus an. Da es um eine freie, gleiche, gerechte und nachhaltige Gesellschaft geht, müsse man sich einer „viel radikaleren Kritik bedienen: des Kommunismus“. (104f.) Allerdings hat sein Begriff davon aber auch gar nichts mit dem Kommunismus sowjetischer Prägung zu tun. Vielmehr bemüht sich der Autor um eine Zusammenführung von Marx’scher Theorie und Degrowth. (105)
Saito entdeckt neue Pfade der Diskussion bei Marx und leistet eine plausible Exegese verschiedener Marx-Quellen, unveröffentlichter Schriften, die, so der Autor, nahelegen, dass Marx missverstanden wurde. Dabei bezieht er sich auf die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), dessen Mitarbeiter er ist. Dank der in der MEGA „enthaltenen großen Menge an Manuskripten und Notizen [ist es] nun endlich möglich, den Fokus auf die in Vergessenheit geratene ökologische Kapitalismuskritik des späten Marx zu richten“. (122)
Saito will deutlich machen, dass der späte Marx sein progressives Geschichtsbild und den darin enthaltenen Eurozentrismus der früheren Jahre aufgegeben hatte. „Dem Marxschen progressiven Geschichtsbild zufolge ist vor allem die Entwicklung der Produktivkräfte die Triebfeder der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Daraus folgt, dass jedes Land zuerst eine Industrialisierung nach dem Modell des westeuropäischen Kapitalismus durchlaufen muss, um die Produktivität zu erhöhen. In diesem Sinne setzt das progressive Geschichtsbild also den Produktivismus voraus, doch dieser legitimiert wiederum den Eurozentrismus.“ (125) Als Beleg für dieses progressive Geschichtsbild und den Eurozentrismus führt Saito ein Zitat von Marx aus dem Kapital an: „Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft.“ (MEW 23, 12) In dem Brief von Marx an die russische Revolutionärin Vera Sassulitsch vom 8. März 1881, zwei Jahre vor seinem Tod, (Brief an V.I. Sassulitsch), sieht Saito den „Kristallisationspunkt der Philosophie des späten Marx versteckt“ liegen, da Marx hier sein progressives Geschichtsbild erkennbar kritisiert. (130) Marx zufolge beschränkt sich die Analyse in seinem Werk Das Kapital „ausdrücklich auf die Länder Westeuropas“. (MEW 19, 242) Als weiteren Beleg führt Saito Ausführungen von Marx aus der Vorrede zur russischen Ausgabe des Kommunistischen Manifests von 1882 an, in denen es heißt: „Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.“ (MEW 4, 576) Kohei Saito schreibt dazu: „Ohne diese Vorrede würde das in Marx‘ jungen Jahren verfasste ‚Manifest der Kommunistischen Partei‘ als Lobrede auf das progressive Geschichtsbild missverstanden werden, einer Gefahr, der sich der späte Marx ausreichend bewusst war.“ (131) Deutlich wird das in den Aussagen von Marx, dass die russische Dorfgemeinschaft keine kapitalistische Entwicklung durchlaufen müsse, um zum Kommunismus zu gelangen. Für Saito ist dies ein Beweis, dass sich Marx‘ Geschichtsauffassung in erheblicher Weise gewandelt hatte. (132) Durch seine Forschungen über Naturwissenschaften und Kommunen ist Marx in späten Jahren zu diesen Erkenntnissen gelangt. Für Marxologen, so der Autor, ist das allerdings nichts Neues. (133)
Saito beansprucht etwas grundsätzlich Neues, gewissermaßen ein Alleinstellungsmerkmal, indem er das Konzept des Degrowth mit den Forschungen von Marx zu Ökologie und Kommunen verbindet. „So weit, Marx als ‚Degrowth-Kommunisten‘ zu denken, ist bisher jedoch noch niemand gegangen.“ (148) Der Autor versteht dieses Konzept als „ein Werkzeug für den Entwurf der zukünftigen Gesellschaft“. (149) Dieser zukünftige Kommunismus ist durch einen „genossenschaftlichen Reichtum“ gekennzeichnet, der kollektiv verwaltet wird. Mit diesem Begriff bezieht sich Saito auf eine Textstelle von Marx aus dessen Werk Kritik des Gothaer Programms (MEW 19, 21). Genossenschaftlicher Reichtum wird hier dem Autor zufolge als ein „Common“ gedeutet. (150)
Die Überschrift von Kapitel 7 „Der Degrowth-Kommunismus rettet die Welt“ hat dann in ihrer Formulierung etwas Missionarisches. Hier verkündet er die fünf zentralen Säulen: 1. Wandel zur Gebrauchswirtschaft, also eine Abkehr von kapitalistischen Verhältnissen, wo der Wert in Form der Ware das Wichtigste ist. 2. Verkürzung der Arbeitszeit: Für weniger Arbeitszeit und mehr Lebensqualität. 3. Aufhebung uniformer Arbeitsteilung: Für die Wiederherstellung der Kreativität der Arbeit. 4. Demokratisierung des Produktionsprozesses: Je demokratischer der Produktionsprozess, desto langsamer die Wirtschaft. 5. Fokus auf systemrelevante Arbeit: Für einen Wandel zur Gebrauchswertwirtschaft und die Wertschätzung arbeitsintensiver systemrelevanter Arbeit. (224-235) Forderungen, die in früheren Zeiten auch schon mal von Gewerkschaften und sozialistischen Bewegungen erhoben wurden.
In seinem Schlusswort bekräftigt Kohei Saito nochmals den Zusammenhang von Kapitalismus und Klimakrise. Der beste Weg aus der Klimakrise ist seiner Argumentation zufolge der „gedankliche Kristallisationspunkt des späten Marx, also der Degrowth-Kommunismus“. (273) Einer möglichen Ratlosigkeit für einen Systemwandel zu begegnen, also Mehrheiten für einen solchen Degrowth-Kommunismus zu finden, beantwortet er mit der Zahl der „3,5 Prozent“, wobei er sich auf die Harvard-Politologin Erica Chenoweth bezieht. Wenn 3,5 Prozent der Menschen gewaltlos und entschlossen aufbegehren, kommt es einer Studie dieser Politologin zufolge zu großen gesellschaftlichen Umwälzungen. (275) Saito bezieht sich hier u.a. auf die Occupy-Wall-Street-Bewegung („Wir sind die 99 Prozent“) und die globale soziale Klimastreikbewegung Fridays for Future. „Solche mutigen Protestbewegungen führen zu großen gesellschaftlichen Veränderungen. Die Demos wachsen auf Zehntausende, dann Hunderttausende Menschen an. Videos erreichen in den sozialen Medien Millionen. Bei den Wahlen schlägt sich das dann in Millionen Stimmen nieder, der Weg zur Umwälzung wird frei.“ (275f.)
Dass diese Protestbewegungen mutig waren bzw. sind und viele Menschen erreicht und überzeugt haben, ist sicherlich richtig, große gesellschaftliche Veränderungen sind jedoch in keiner Weise erfolgt. Auch die Zahl 3,5 Prozent der aufbegehrenden Menschen erscheint sehr willkürlich. Hier kommt in seinem Schlusswort eine missionarische Rhetorik zur Rettung der Welt zum Ausdruck, die das gesellschaftliche und kapitalistische Kräfteverhältnis deutlich verkennt. Richtig und absolut verdienstvoll ist das Buch in seiner Analyse über die Verflechtung von Kapital, Gesellschaft und Natur. Dies bezieht sich auch auf die Darlegungen des Autors über die Erkenntnisse des späten Marx zu Natur, Ökologie und Kommunen. Recht hat Kohei Saito zudem mit folgender Bemerkung über die SDGs (Sustainable Development Goals, Ziele für nachhaltige Entwicklung), den Green New Deal und das Geoengineering: „Der Klima-Keynesianismus verspricht uns ein grünes Wirtschaftswachstum, doch auch er kann zu nichts anderem führen als einer weiteren Durchdringung der Gesellschaft mit der imperialen Lebensweise und dem ökologischen Imperialismus.“ (274)