Körperliche Selbstbestimmung – für wen?

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Der feministische Diskurs um Abtreibung

 

Von Hannah Kaufmann

Das Thema Abtreibung ist und war ein zentrales Anliegen für die feministische Bewegung. Während sich einige noch an die Aktion „Ich habe abgetrieben“ im Stern 1971 erinnern, denken andere an die entgegengesetzte Lebensschutzbewegung, die Märsche für das Leben, oder zuletzt an die verheerende Entscheidung um Roe vs. Wade in den USA. In Deutschland ist Abtreibung seit 1871 durch den Paragraf 218 im Strafgesetzbuch illegal, heute jedoch bei bestimmten Indikationen nicht strafbar. Seit den 1930er Jahren gab es zusätzlich den § 219a, der es Ärzt*innen verbot, über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren. Jahrzehntelang kämpfte die deutsche feministische Bewegung gegen diese Regelungen. Zwei zentrale Ereignisse prägten und verstärkten den Diskurs um Abtreibung in den letzten Jahren und stecken somit einen Rahmen ab, in dem eine Kritische Diskursanalyse interessant erscheint.

Am 24.11.2017 wurde die Ärztin Kristina Hänel wegen Verstoß gegen den § 219a verurteilt. Diese Verurteilung löste eine Welle der Solidarität und Aufmerksamkeit für das Thema aus. Hänel reichte später eine Verfassungsbeschwerde ein. Aber erst 2022 wurde unter der Ampel-Regierung der § 219a gestrichen und eine Kommission eingesetzt, um zu prüfen, ob eine Regulierung für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches möglich ist.

Bei der Analyse des Diskurses wurde sich zunächst auf das feministische Feld konzentriert. Dafür wurden zwei Strukturanalysen mit dem Zeitraum 17.11.2017–01.05.2023 durchgeführt. Um ein möglichst breites Spektrum eines feministischen Sagbarkeitsfeldes vom Zweite-Welle-Feminismus bis zum Vierte-Welle-Feminismus abzustecken, wurden die traditionsreiche EMMA und das neuere MISSY MAGAZINE zur Analyse herangezogen.

 

EMMA – Gegen eine Unterdrückung durch Kirche und Staat

Die Analyse konnte zeigen, dass der Abtreibungsdiskurs in den Artikeln der EMMA mit verschiedenen anderen Diskursen verschränkt ist. Zuerst fallen der medizinische und juristische Diskurs ins Auge. Hier kommt die Frage auf, warum der rechtliche Rahmen des Schwangerschaftsabbruchs so oft zur Sprache kommt und ein feministisches Magazin nicht anders an das Thema herantritt. Die EMMA, vor allem die Autorin Alice Schwarzer, blickt auf einen langen Kampf gegen diese Regelung zurück, in dessen Tradition sie immer noch steht – und gerade da sich nach wie vor nichts an dem Paragrafen 218 verändert hat, scheint sie an der rechtlichen Perspektive festzuhalten.

Aus anderen Diskursverschränkungen lässt sich darüber hinaus eine staats- und auch kirchenkritische Haltung des Magazins ablesen: Die Aussage Unterdrückung kommt aus der Liaison von Kirche & Staat, sowie die Häufigkeit der Themen katholische Kirche, Papst oder Vatikan belegen diesen Standpunkt. Eine Dreifachverschränkung zwischen Abtreibungs-, Islam- und Parteiendiskurs stützt ebenso eine staatskritische Position, wie auch eine kritische Haltung gegenüber dem politischen Islam. Die Gefahr, die laut EMMA von ihm ausgehe, werde von der Politik nicht ausreichend wahrgenommen (vgl. Schwarzer, 15.12.21). Des Weiteren führt auch die Verschränkung des Abtreibungsdiskurses mit dem Geschlechterdiskurs und dem Thema Transgeschlechtlichkeit zu interessanten Effekten.

Als Dreifachverschränkung mit dem Parteiendiskurs wirkt sie ebenfalls staatskritisch (Kritik am neuen Transsexuellengesetz). Darüber hinaus fügt sich die Verschränkung aber in einen generellen Standpunkt der Autor*innen ein, der den „Trend“ zu Hormonbehandlungen zur Geschlechtsangleichung bei Jugendlichen als gefährliche „neue Geschlechtsrollen-Zwänge“ (Schwarzer, 15.12.21) einstuft und darüber hinaus auf der biologischen Zweigeschlechtlichkeit beharrt. Besonders interessant ist der sich daraus ergebende Standpunkt bzw. die Grenzen des Sagbarkeitsfeldes zu körperlicher Selbstbestimmung: Transition, das Tragen eines Kopftuches oder auch Sexarbeit werden abgelehnt bzw. als Unterdrückungsmechanismen verstanden und werden somit nicht als Teil körperlicher Selbstbestimmung verstanden.

Ein weiterer Aspekt, der die Grenze des Sagbaren absteckt, ist die Frage, bis wann eine Abtreibung für legitim gehalten wird. Die EMMA vertritt dabei die Meinung, dass es das Recht der Frau sein muss, über ihren Körper zu entscheiden, solange das „werdende Leben“ ihren Körper noch nicht verlassen hat (o. A., 3.11.17). Andere Positionen oder Argumente zu dieser Frage tauchen im untersuchten Korpus nicht auf.

Aus der Strukturanalyse ergibt sich insgesamt ein Bild patriarchaler Unterdrückung durch Kirche und Staat, gegen die von feministischer Seite seit den 1970er Jahren gekämpft wurde und es auch weiterzukämpfen gilt. Durch Aussagen, die Selbstbestimmung als Kompetenz von Betroffenen unterstreichen, Schwangerschaftsabbrüche normalisieren oder auf Schadwirkungen der restriktiven Gesetzgebung (Versorgungsnotlage, Wissensdefizit bei Ärzt*innen) aufmerksam machen, wird die eigene Position stark gemacht und das Aufbegehren gegen die Unterdrückung legitimiert. Die institutionelle Politik wird nur selten als Lösungsakteur angesprochen. Man wirft ihr vor, sich gegen die Mehrheit nach der Kirche zu richten: „Seither bewegt sich der deutsche Staat auf einem Zickzackkurs, auf dem er es vor allem einem recht machen will: dem Vatikan und seinen AnhängerInnen – statt seinen Millionen Bürgerinnen“ (Schwarzer, 30.1.19).

In der EMMA wird häufig über Abtreibungsgegner*innen berichtet (insbesondere durch Bezüge in die USA), was einen Besorgnis erzeugenden Effekt hat. Gleichzeitig wirkt die große Anzahl an Themen, die sich auf feministische Aktionen beziehen, auch bestärkend für betroffene Leser*innen.

MISSY – Selbstbestimmung intersektional denken und gemeinsam erkämpfen

Auch im MISSY Magazin ist der Abtreibungsdiskurs vielfältig mit anderen Diskursen verschränkt und wird mit verschiedenen gesellschaftspolitischen Themen assoziiert. Besonders interessant ist die Diskursverschränkung mit dem ökonomischen Diskurs, die vor allem in der Aussage Unterdrückung ist intersektional zum Tragen kommt und dem Magazin eine kapitalismuskritische Position verleiht. Die intersektionale Position, die das Magazin nicht zuletzt für sich selbst beansprucht, wird also auch in Verbindung mit dem Thema Abtreibung deutlich. Neben dem ökonomischen Diskurs macht dies auch die Diskursverschränkung mit dem Geschlechterdiskurs sowie den Themen Behinderung und Flucht deutlich. Körperliche Selbstbestimmung muss für die Autor*innen der MISSY für alle Geschlechter gelten und „[…] wir müssen verstehen, dass Schwangerschaftsabbrüche kein Thema sind, dass nur cis Frauen negativ betrifft“ (Apraku, 11.07.22). Einen Eingriff in die Selbstbestimmung verstehen die Autor*innen immer als politisches Machtmittel gegen marginalisierte Gruppen. Und da alle Unterdrückungsformen intersektional ineinandergreifen, müssen diese auch zusammen gedacht und bekämpft werden.

Darüber hinaus wird als Quelle der Unterdrückung weniger die Kirche verstanden, als vielmehr gesellschaftliche Strukturen, die nicht loszulösen sind von kapitalistischen und rassistischen Verhältnissen, die aber vor allem von der Neuen Rechten und fundamentalistisch-religiösen Akteuren aufrechterhalten werden. Die Neue Rechte wird als besondere Gefahr herausgehoben, die neuerdings die antifeministischen Proteste der Lebensschützer*innen unterstütze.

Als ein besonders zentrales Mittel im Kampf gegen die Unterdrückung (insbesondere im Sinne einer Tabuisierung) wird die Entstigmatisierung des Themas Abtreibung – konkret ein möglichst offenes Sprechen möglichst überall – herausgestellt.

Auch das MISSY Magazin markiert die Geburt als Grenze für eine Abtreibung: „Kein*e Feminist*in kann ein Szenario wollen, in dem es legal wäre, ein halb geborenes Kind einer Sichtkontrolle auf die Schwere der Beeinträchtigung zu unterziehen und es dann totzuspritzen, wenn es ‚schlimmer‘ ist, als die dann doch nicht zukünftige Mutter es sich vorstellen kann“ (Achtelik, 17.03.20)

 

Das feministische Sagbarkeitsfeld

Aus beiden Analysen ergibt sich eine zentrale Stellung der körperlichen Selbstbestimmung. Was aber genau darunter zu verstehen ist, darüber herrscht in dem feministischen Diskurs Uneinigkeit. Überall wird (gewollte) patriarchale Unterdrückung als Grund für das eingeschränkte Recht auf Abtreibung erkannt. Trotzdem lässt sich die intersektionale Vorstellung von Selbstbestimmung im MISSY Magazin kaum mit dem Verständnis patriarchaler Unterdrückung der EMMA vereinen. Während Missy den Kampf um Selbstbestimmung mit den antirassistischen und transaktivistischen Kämpfen verbindet, warnt EMMA vor einer Gefährdung der Selbstbestimmung durch transsexuelle Identitäten und politischen Islam.

Ebenso gibt es keine eindeutige Position dazu, ob die Politik als geeignete Lösungsakteur*in betrachtet wird oder nicht. Mal werden die Parteien und ihre Wirkungsmacht angesprochen (EMMA), während in anderen Momenten der Fokus darauf liegt, wie zivilgesellschaftlich für das Recht gekämpft werden kann, wobei die Parteien teilweise lächerlich gemacht werden (MISSY).

Besonders durch zwei Feinanalysen konnten Kollektivsymbole und normalisierende Effekte herausgearbeitet werden. Besonders fällt eine Rückschritt-Fortschritt Achse ins Auge: Körperliche Selbstbestimmung wird als fortschrittlich, deren Restriktion durch Abtreibungsgesetze hingegen als rückschrittlich eingestuft. Entsprechend wird vor einem Backlash gewarnt, der die Regelungen wieder verschärft und so das Selbstbestimmungsrecht einschränkt – dieser nimmt im Dossier der EMMA einen wichtigeren Platz ein. Im feministischen Diskurs scheint Einigkeit zu bestehen, dass Abtreibungen etwas Normales sind, worüber offen gesprochen werden sollte. Diese Normalität wird ganz im Sinne der Normalismustheorie durch statistische Dispositive und den Verweis auf Durchschnitte hergestellt (vgl. Jäger & Jäger 2007, S. 62).  So wird zum Beispiel in beiden Heften mit Verweis auf Studien belegt, dass Abtreibungen nicht traumatisch seien. Die EMMA bezeichnet Schwangerschaftsabbrüche als „universelles Vorkommnis in allen Bevölkerungsschichten“ (Schwarzer, 03.09.22) und weist darauf hin, dass eine Mehrheit gegen die geltende rechtliche Regelung sei.  Im MISSY Magazin kann zudem das offene Sprechen über Schwangerschaftsabbrüche als normalisierende Strategie herausgearbeitet werden.

Aus den Struktur- und Feinanalysen ergibt sich ein Bild patriarchaler Unterdrückung, gegen die die Betroffenen kämpfen. Beide Magazine sprechen dabei aus einer „Wir“-Position der Betroffenen. Die Unterdrücker-Position wird neben Politiker*innen vor allem von der Lebensschutzbewegung besetzt. Sowohl Kirche als auch Neue Rechte werden hierbei als wichtige Akteur*innen herausgearbeitet.

Neben der Struktur des Diskurses stellt sich die Frage nach den Grenzen des Sagbarkeitsfeldes. Was die Abtreibung selbst betrifft, kann festgehalten werden, dass deren Rechtfertigung nur bis zur Geburt reicht. Es wird an keiner Stelle davon gesprochen, dass es die Möglichkeit geben solle, auch während oder nach der Geburt ein Kind nicht zu bekommen. Daran anknüpfend werden auch Themen wie Adoption oder Kinderwunsch nicht angesprochen. Ganz kurz wird in der MISSY das Thema Regretting Motherhood angesprochen, jedoch wird es nicht weiter expliziert. Dieser Umstand verdeutlicht, dass es im feministischen Diskurs um Abtreibung weniger um die Themen Schwangerschaft oder Kinderkriegen geht als allgemein um das Recht auf körperliche Selbstbestimmung. Eine moralische Debatte um das Leben der Föten wird abgelehnt und der Diskurs eher dahingehend geprägt, dass der Körper der Schwangeren und ihre Selbstbestimmung im Mittelpunkt stehen.

Insgesamt konnte durch die Analyse en détail gezeigt werden, dass es auch innerhalb des hier untersuchten Teiles des Abtreibungsdiskurses zu Deutungskämpfen kommt zwischen einer Diskursposition, die eher dem Zweite-Welle-Feminismus entspricht, und einer der dritten und vierten Welle. Obwohl beide die Möglichkeit für eine legale und sichere Abtreibung fordern, ist das Thema so vielfältig und eng mit anderen verflochten, dass widersprechende Standpunkte auftauchen. Es kann aber auch festgehalten werden, dass neben allerlei (durchaus wichtigen und existenziellen) feministischen Deutungskämpfen in einem Punkt Einigkeit besteht: Entgegen den diskriminierenden rechtlichen Regelungen, sollte jede schwangere Person selbst entscheiden dürfen, ob sie die Schwangerschaft abbrechen möchte oder nicht und dabei hinreichend medizinisch unterstützt werden.

 

Hannah Kaufmann studiert Politikwissenschaft in Bamberg und Frankfurt am Main. Als Praktikantin am DISS erforschte sie den feministischen Diskurs über Abtreibung. Ihre komplette Kritische Diskursanalyse ist auf Nachfrage beim DISS erhältlich.