Verteidigung einer Illusion

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Von Nadja Kutscher

Grundlage des folgenden Textes ist die aktuelle Veröffentlichung der Autorin im transcript Verlag mit dem Titel: „Das Narrativ vom ‚großen Austausch’. Rassismus, Sexismus und Antifeminismus im neurechten Untergangsmythos“. Sie basiert auf einer im Vorjahr am Lehrstuhl für Menschenrechte der Universität Erlangen-Nürnberg eingereichten Dissertation. Für diese wurden per Kritischer Diskursanalyse (vgl. Jäger 2015) Texte aus den extrem rechten Publikationen Compact-Magazin und Sezession ausgewertet.

Geburten und Migration sind in extrem rechten Milieus seit Langem zwei Kernpunkte einer Erzählung: der des bedrohten, sterbenden, im Austausch begriffenen Volkes. Das Narrativ vom ‚großen Austausch’, das seit Jahren besonders von Mitgliedern der sogenannten Neuen Rechten[1] verbreitet wird (Weiß 2017), vereint unter dieser Themenverknüpfung alle menschenverachtenden Topoi der extremen Rechten. Der österreichische Identitäre Martin Sellner, beschreibt in einem Kapitel der deutschen Übersetzung von Renaud Camus’ Buch „Revolte gegen den großen Austausch“, der ‘große Austausch’ sei genau das, was der Bewegung als übergreifender Begriff lange gefehlt habe, um Themen wie „Masseneinwanderung, Islamisierung, Demographiekollaps und andere negative Erscheinungen, die wir als Bedrohung unserer Identität erkannten“ in einen Kontext zu bringen (Camus 2016, S. 190 f.).

Dem Austauschnarrativ zufolge würden Geburtenrückgänge unter als genuin deutsch oder europäisch verstandenen Bevölkerungen in Kombination mit unkontrollierter Migration aus dem Nahen Osten und afrikanischen Ländern dazu führen, dass das deutsche Volk bzw. europäische Völker aussterben. Schuld am ersten Aspekt, den Geburtenrückgängen, sei ein ausschweifender Feminismus, der traditionelle Rollenbilder und Familienwerte zerstört habe. Schuld an der Migration (aus bestimmten Teilen der Welt, wohlgemerkt) seien globale, oft als jüdisch codierte Eliten, die Zuwanderungsströme gezielt nach Europa leiten würden (Kutscher 2023).

Ich möchte für diesen Artikel zwei Punkte aus der Analyse der Erzählung (ebd.) herausgreifen, die mir besonders erstaunlich erscheinen. Zunächst gehe ich auf die Beobachtung ein, dass die Akteur:innen, die das Austauschnarrativ verbreiten, zwar stets auf die vermeintlich nötige Verteidigung eines von ihnen ersonnenen deutschen Volkes pochen, eben jenes jedoch nicht einmal in ihren eigenen Augen real existiert. Anschließend beschreibe ich, wie dem von der extremen Rechten als Feind auserkorenen (männlichen) Migranten Eigenschaften zugeschrieben werden, die sich das Milieu eigentlich für ihr deutsches Volk wünscht, es aber dennoch schafft, sie in das Negativbild des Feindes einzupassen.

 

Illusionäre Volksbilder

Wenn die extreme Rechte davon spricht, das deutsche Volk müsse gegen den ‘großen Austausch’ verteidigt werden, dann meint sie damit nicht die deutsche Bevölkerung. Ausgeklammert werden all jene, die per Rassifizierung als nicht genuin deutsch gelten (Kutscher 2023, S. 91-110). Doch selbst dieser Ausklammerung folgend entspricht das, was von der deutschen Bevölkerung übrigbleibt, nicht der extrem rechten Volksvorstellung. Ausführlich wird in entsprechenden Veröffentlichungen dargelegt, wie selbst die qua Rassifizierung zu Deutschen Erklärten dem Volk schaden und zu seiner Zersetzung beitragen. Die so beschriebene Bevölkerung sei an einer Stärkung des Volkes nicht interessiert und schon gar nicht bereit, für die Verteidigung des Volkes einzustehen (ebd., S. 142-149).

So entsteht ein Bild der Volksfeinde im Inneren, die zwar aufgrund ihres rassifizierten Deutschseins nie ganz aus dem gedanklichen Volkskonstrukt ausgeschlossen werden können, doch in eine Schaden bringende Randposition geraten – sei es aufgrund einer ‘falschen’ politischen Gesinnung, einer ‘volksschädlichen’ Sexualität, fehlender Kinder oder fehlendem Verteidigungssinn. Ein Volk, wie es sich die extreme Rechte wünscht und herbeiredet, existiert so noch nicht einmal in ihren eigenen Augen.

Es überrascht angesichts dessen nicht, dass das zu verteidigende, gute Volk in Texten über den ‘großen Austausch’ – wenn überhaupt – nur vage beschrieben wird. Vielmehr macht sich das Eigene hauptsächlich an der Ablehnung des Anderen fest (Kutscher 2023, S. 135-142). Beispielhaft können hierzu Darstellungen zum Frauenbild dienen: Durch die Beschreibung des Anderen als Vergewaltiger oder berechnendem Eroberer, wird das Eigene zum Gegenbild all dessen. Jobst Paul (2019, S. 48 f.) führt diesbezüglich aus, dass eine Selbsterhöhung des Eigenen, die sich aus der Herabsetzung des Anderen ergibt, „auch mehr oder weniger stillschweigend impliziert sein [kann]“.

Eben das geschieht hier: Der rassifizierte Andere wird derart detailliert geschmäht, dass sich das Eigene als Gegenpol nur daraus ergibt. Lediglich vage Verweise auf geschichtliche Errungenschaften, Blutlinien oder Tradition finden sich in den Texten. Die Auslassung von Details bietet der extremen Rechten gewisse Spielräume, was genau denn nun das Eigene ausmacht; wie schwer das Ausbuchstabieren einer vermeintlich gemeinsamen, homogenen Kultur ist, haben Debatten in der Vergangenheit hinreichend gezeigt (Kutscher 2023 S. 136-139). Hinzu kommt: Eine detaillierte Darstellung des Eigenen ist schlichtweg nicht nötig. Denn in Wahrheit geht es in dem Narrativ nicht darum, ein Volk – das doch selbst in den Augen seiner Verfechter nichts als Illusion ist – zu verteidigen, sondern darum, den Feind zur Gefahr zu machen, zu schmähen und zu entmenschlichen.

 

Abwertende Bewunderung

Die extreme Rechte zeichnet das Bild unkontrolliert und unberechtigt einströmender Migrant:innen, die von Eliten gesteuert nach Europa und Deutschland gelangen, um dort eine vermeintlich homogen-weiße[2] Bevölkerung zu ersetzen. Damit die Bedrohung, die das Narrativ trägt, verfangen kann, werden gerade dem Stereotyp des nicht-weißen männlichen Migranten gewisse Eigenschaften zugeschrieben. Bekannt nicht nur aus extrem rechten Milieus ist etwa die Ethnisierung von Sexismus (Jäger et al. 2019), also der Topos des sexuell übergriffigen Migranten, der eine Bedrohung für die weiße deutsche Frau darstellt. Auch das Sprechen über Kriminalität durch ‘Familienclans’ oder über Misogynie und Unterdrückung von Frauen durch migrantisierte Männer findet sich weit über extrem rechte Zusammenhänge hinaus (vgl. Shooman 2014). Im Austauschnarrativ werden diese und weitere Topoi reproduziert, um die angebliche Bedrohung des deutschen Volkes greifbar zu machen.

Betrachtet man diese Zuschreibungen im Detail, fällt auf, dass dem migrantisierten Anderen im Grunde Eigenschaften zugewiesen werden, die sich die extreme Rechte für ihr deutsches Volk wünscht: Volks- und Familiensinn, ein hierarchisches Geschlechterverhältnis, Stolz und Wehrhaftigkeit. Dass es in dem Narrativ gelingt, solche Eigenschaften bzw. Zuschreibungen für das Eigene positiv, für den Anderen als negativ darzustellen, liegt in der Geist/Körper- oder Kultur/Natur-Dichotomie begründet.

Das deutsche Illusionsvolk der extremen Rechten wird als zivilisiert und kultiviert dargestellt – als Gegenpol zu einem Anderen, der als unberechenbarer, zügelloser Feind beschrieben wird. Dieser verkörpert den Pol der Natur, ist unersättlich, instinktgeleitet, während das Eigene als kontrolliert, vernünftig und objektiv handelnd beschrieben wird (Paul 2019; Kutscher 2023). Diese grundlegende Unterteilung ermöglicht es, die gleichen Eigenschaftskonstruktionen auf der einen Seite als negativ und abzulehnend und auf der anderen Seite als erstrebenswert und nobel auszulegen.

Beispielhaft deutlich wird dies an der Darstellungen des rassifizierten, migrantisierten Mannes als testosterongesteuert und stark. Während sich die extreme Rechte vom ‘deutschen Mann’ Stärke und Durchsetzungsvermögen wünscht, schmäht sie die Eigenschaften im Anderen, da dieser in seiner Stärke als überbordend und unersättlich dargestellt wird – seine Stärke geht in Angriff und (sexuelle) Gewalt über. Ähnlich ist es mit Blick auf Familienbilder zu beobachten: Der von der extremen Rechten ersehnte Familiensinn schwappt beim Feind in ausschließende Gemeinschaftsstrukturen und Clanmentalität über.

Im Bild des Anderen werden (aus extrem rechter Sicht) positive Grundlagen ins Negative verkehrt, da sie bei ihm ausschlagen. Ähnlich kolonialer Beschreibungen von Einheimischen als kindgleich und unberechenbar, wird dem Anderen zugeschrieben, mit seinen Anlagen nicht recht umzugehen und übers Ziel hinauszuschießen. Auch hier suggeriert die oben erwähnte implizierte Entgegensetzung, dass das eigene Volk mit den gleichen Eigenschaften umzugehen wisse – geordnet und verantwortungsvoll (Kutscher 2023, S. 169-172).

 

Fazit

Bei der Untersuchung des Narrativs vom ‚großen Austausch’ wird spätestens auf den zweiten Blick klar: Hier geht es nicht darum, tatsächlich bedrohte Menschen oder Gemeinschaften zu schützen. Es geht darum, den absoluten Hass auf den rassifizierten Feind und die darauf basierenden menschenverachtenden politischen Forderungen – wie die Verweigerung des Rechts auf Asyl – der extremen Rechten zu rechtfertigen. Wo das deutsche Volk als akut bedroht oder bereits in Vernichtung begriffen gezeichnet wird, heiligt der Zweck der vermeintlichen Verteidigung alle Mittel.

Die Themenverschränkung von Migration und Geburtenraten macht Intersektionen von Rassismus und Sexismus zur tragenden Säule des Narrativs. Dabei erfolgen immer wieder Rückgriffe auf rassistisch-sexistische Topoi, die fest im öffentlichen Diskurs verankert sind – explizit auch außerhalb extrem rechter Milieus. Die Tradiertheit dieser Topoi auch im hegemonialen Diskurs ermöglicht es den Akteur:innen, Einfallstore auch außerhalb der eigenen Filterblase zu nutzen. Es bleibt deshalb stete Aufgabe von Wissenschaft und gesellschaftlicher Öffentlichkeit, der Reproduktion solcher Versatzstücke extrem rechter Narrative entgegenzuwirken und ihre undemokratischen, menschenverachtenden Grundlagen offenzulegen.

 

Nadja Kutscher studierte Politikwissenschaften am Erlanger Lehrstuhl für Menschenrechte. Sie arbeitet und forscht zu extrem rechten Narrativen, Gender-Themen und Diskriminierung.

 

Literatur

Camus, Renaud 2016: Revolte gegen den Großen Austausch. Schnellroda: Verlag Antaios.

Hornscheidt, Lann/Nduka-Agwu, Adibeli 2010: Der Zusammenhang zwischen Rassismus und Sprache. In: Nduka-Agwu, Adibeli/Hornscheidt, Lann (Hg.): Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen. Frankfurt/M: Brandes & Apsel, S. 11-52.

Jäger, Margarete/Kroppenberg, Max/Nothardt, Benno/Wamper, Regina 2019: #120Dezibel: Frauenrechte oder Antifeminismus? Populistische Diskursstrategien der extremen Rechten und Anschlussstellen im politischen Mainstream. Düsseldorf.

Jäger, Siegfried 2015: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. Münster: Unrast.

Kellershohn, Helmut; Becker, Andrea; Schlöter, Laura 2023: Die Haltung der Neuen Rechten zu Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Einführung, in: Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung: Konzepte der Neuen Rechten zu Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. DISS-Journal Sonderausgabe #6, S. 4-7.

Kutscher, Nadja 2023: Das Narrativ vom „großen Austausch“. Rassismus, Sexismus und Antifeminismus im neurechten Untergangsmythos. Bielefeld: transcript Verlag.

Paul, Jobst 2019: Der binäre Code. Leitfaden zur Analyse herabsetzender Texte und Aussagen. Frankfurt/M: Wochenschau.

Shooman, Yasemin 2014: „… weil ihre Kultur so ist“. Narrative des antimuslimischen Rassismus. Berlin, Bielefeld: transcript.

Sow, Noah 2009: Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus. München: Wilhelm Goldmann Verlag.

Weiß, Volker 2017: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

[1]        Zum Begriff der „Neuen Rechten“ siehe auch: Kellershohn, Helmut; Becker, Andrea; Schlöter, Laura (2023): Die Haltung der Neuen Rechten zu Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Einführung, in: DISS-Journal Sonderausgabe #6, S. 4-7.

[2]        Das Adjektiv „weiß“ wird als Konstrukt verstanden und soll deshalb aus dem Schriftbild hervortreten. In der Antirassismusforschung verbreitet ist die Kursivierung des Begriffs „weiß“ und die Großschreibung des Begriffs „Schwarz“, da letzterer als politische Selbstbezeichnung verstanden wird (vgl. Sow 2009, S. 25; Hornscheidt/Nduka-Agwu 2010, S. 32 f.).