Religion und Macht

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Ein DISS-Gutachten zum Christlichen Fundamentalismus
trägt Alarmierendes zusammen.

Von Jobst Paul

Unter dem Titel Religion und Macht. Zum extremistischen Potenzial des christlichen Fundamentalismus hat das DISS soeben ein Gutachten fertiggestellt. Im Auftrag von CoRE-NRW, einem wissenschaftlichen Netzwerk, das sich mit den Bedingungen und Formen extremistischer Radikalisierung sowie wirksamen Gegenmaßnahmen beschäftigt, wurden in dem Gutachten Daten, Aspekte und Themen zusammengetragen, die insgesamt ein alarmierendes Bild abgeben.

Insbesondere wird festgestellt, dass die Exekutiven und Legislativen angesichts der hohen Konzentration auf die Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus weitgehend übersehen haben, dass sich seit Jahren Radikalisierungsprozesse aufseiten christlicher Gruppierungen abzeichnen, die für die demokratische Stabilität und die Grundrechte in Deutschland eine nicht minder große Gefahr darstellen können.

Zu wenig beachtet wurde z.B., dass die islamistische Radikalisierung teilweise sogar zum Vorwand für eine christlich-fundamentalistisch motivierte Bewegung (vgl. PEGIDA), bzw. für eine Annäherung zwischen rechten und christlich-fundamentalistischen Gruppierungen wurde. Die rechten Parteien Europas haben, so eine im Gutachten zitierte Quelle, in der „Selbstvergewisserung“ einer „christlichen (Staats-)Identität“ inzwischen sogar ein „verbindendes Element“ geschaffen.

Dabei ist es jedoch nicht geblieben: Welche Energie die Ideologie der ‚christlichen Restauration‘ in den vergangenen Jahrzehnten gewonnen hat, zeigte sich anhand der Motivlagen nahezu aller Attentäter der vergangenen Jahre, die sich zur Ideologie des ‚christlichen Abendlandes‘, zu Antisemitismus und zur Restauration vergangener autoritärer, antidemokratischer Machthierarchien bekannten, wobei in jüngster Zeit eine Verengung auf Männlichkeitsideale, Anti-Feminismus, den Kampf gegen Selbstbestimmungsrechte im Bereich von Reproduktion, Lebensformen und geschlechtlicher Identität stattgefunden hat, nicht zuletzt auf den Kampf gegen jene, die gegen Diskriminierung und Ungleichheit eintreten.

Dass die Ausbildung eines christlich-fundamentalistischen Komplexes auf den Regierungsebenen des Bundes und der Länder bis heute letztlich keine spezifische Reaktion hervorgerufen hat, führt das Gutachten auf die Praxis der Verfassungsschutzbehörden zurück, diese Entwicklung dem Rechtsextremismus zuzuschlagen, wodurch die ‚christliche‘ Dimension unsichtbar wird. Nicht weniger unglücklich ist die Tatsache, dass damit auch antisemitischen Motiven kein eigener Status zugebilligt wird: Grundlage scheint die These, in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sei über den ‚rassistischen Antisemitismus‘ eine ‚Säkularisierung‘ des Antisemitismus erfolgt, so dass ein christlich-religiöser Antisemitismus zu existieren aufgehört habe und Antisemitismus daher fortan allein dem Rechtsextremismus/Nazismus zuzuordnen sei.[1]

Gegen eine Veränderung dieser anachronistischen Situation sind, so das Gutachten, zudem prozedurale Barrieren eingebaut: Da die Regierungsebenen offenbar nur aufgrund von Abwägungen der Verfassungsschutzbehörden aktiv werden können, scheint sich auf Regierungs- und Parlamentsebene kein eigener politischer Wille auszuformen.

Im Gegenteil: Die Bundesregierung verweigert – was Deutschland betrifft – im Namen der Geheimhaltung Antworten auf entsprechende parlamentarische Anfragen, während sie ausführliche Berichte zu den alarmierenden Entwicklungen des christlichen Fundamentalismus außerhalb von Deutschland, etwa in Brasilien und Afrika veröffentlicht. Deutsche Parlamentarier haben nicht einmal das Recht, Unterlagen zu den Verhältnissen in Deutschland in geschützten Räumen einzusehen.

Dass es dabei allerdings viel zu entdecken gebe, ist zweifelhaft: Anhand von Indizien kommt das Gutachten zum Schluss, dass die zuständigen Behörden mit dem Eindruck, einen Hochsicherheitstrakt zu bewachen, lediglich eine Leerstelle verdecken: Die letzte nennenswerte Dokumentation der Bundesregierung zum christlichen Fundamentalismus liegt, so das Gutachten, 20 Jahre zurück.

All dies steht in Kontrast zur realpolitischen Bedeutung, die der christliche Fundamentalismus ideologisch und organisatorisch inzwischen gewonnen hat, wobei die Entwicklung durch zwei erstaunliche Weichenstellungen überhaupt erst denkbar wurde. Zum einen war dies die Etablierung einer Allianz von evangelikalen, katholisch-fundamentalistischen und orthodoxen Bewegungen. Zum anderen durch deren radikale Reduktion des ‚theologischen‘ Anspruchs auf die Diabolisierung von Selbstbestimmungsrechten im Bereich von Reproduktion, von Lebensformen und geschlechtlicher Identität und des Kampfs gegen Diskriminierung und Ungleichheit. Erst dadurch wurden Anschlusstüren für die extreme Rechte, aber auch für eine Vielfalt esoterischer und verschwörungsorientierter Gruppierungen geöffnet.

Eine große Aussagekraft haben bereits die dokumentierten Finanzströme. Das Gutachten zitiert eine 2021 veröffentlichte Dokumentation des Europäischen Parlamentarischen Forums, nach der (zwischen 2009 und 2018) 707,2 Millionen US-Dollar in die „Anti-Gender-Bewegung“ flossen. Hauptgeldgeber war eine Gruppe von 54 Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Stiftungen, religiösen Organisationen und politischen Parteien aus den USA, Russland und Europa (ohne Russland). Allein 81,3 Millionen US-Dollar stammten von 10 US-amerikanischen NGOs und konservativen Denkfabriken, die ihrerseits durch Stiftungen amerikanischer MilliardärInnen finanziert werden. Den Löwenanteil von 437,7 Millionen US-Dollar stellten europäische Geldgeber, darunter zwanzig private Stiftungen und transnationale NGO-Allianzen, ein Anti-Abtreibungsverband, eine Anti-LGBTQIA+-Kampagne, eine christliche Partei (auf europäischer Ebene), eine Social-Media-Plattform und eine Reihe pseudo-katholischer rechtsextremer Akteure. Hinzu kamen religiöse Institutionen und „paneuropäische faschistische Parteien“.

Eines der erfolgreichsten Aktionsmodelle verfolgen auf evangelikaler Seite über 400 ‚Großkirchen‘, die mit einer derzeit kaum überschaubaren, am Schnellballsystem orientierten Bandbreite von Organisations- und Aktionsformen zwischen lokalen und regionalen, bzw. nationalen und internationalen Ebenen „hin- und herchangieren“. Mit Hilfe der Gründung von immer neuen lokalen Kleingruppen werden einerseits die finanziellen Quellen erweitert, während so andererseits die ‚Mutterkirchen‘ schlagkräftiger werden. Großverbände wie z. B. die katholisch orientierte Tradition, Family and Property (TFP) haben bereits fast autarke Finanzstrukturen geschaffen.

Für einen zusätzlichen Machtzuwachs sorgt die Etablierung einer professionellen juristischen Ebene. So stellt ein US-Verband wie die Alliance Defending Freedom (ADF) auch (und gerade) regionalen (evangelikalen) Kleingruppen überall auf der Welt juristischen Beistand zur Verfügung, um über Musterprozesse gegenüber Verwaltungen Entscheidungen zugunsten der dauerhaften Aktionsfreiheit fundamentalistischer Akteure durchzusetzen.

Das Gutachten gibt freilich zu bedenken, dass mit ‚Aktionsfreiheit‘ oft eine verbale und politische Radikalisierung einhergehen kann, die sich mit Religionsfreiheit legitimiert und die zugleich für extrem rechte Bewegungen attraktiv ist. So liege die Tendenz zur Radikalisierung bereits in den fundamentalistischen Logiken selbst, etwa in ihrer Wiederbelebung des ‚Satans‘ in der politischen und ideologischen Auseinandersetzung. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass sich innerhalb des christlichen Fundamentalismus immer stärker abgehobene Führungsebenen entwickeln, denen nach innen eine verstärkte Sozialkontrolle entspricht. Zudem – so das Gutachten – könne die Energie von ‚diabolischer‘ Rhetorik jederzeit auf totalitäre Ziele unmittelbar gerichtet werden.

Vor diesem Hintergrund unterstreicht die Dokumentation, dass seit Jahren eine Fülle zivilgesellschaftlicher, journalistischer und wissenschaftlicher Literatur auf die Gefahren hinweist, aber – soweit überschaubar – lediglich ein einzelnes Forschungsprojekt auf europäischer Ebene von amtlicher Seite gefördert wurde. Diese Tatsache bestätigt den Befund des Papiers, dass ein schwer nachvollziehbarer Kontrast zwischen der Dramatik der Entwicklung und der ‚Nicht-Befassung‘ durch die Regierungen auf Länder- und Bundesebene besteht.

Vor diesem Hintergrund verweist das Gutachten auf einen im Mai 2023 vom Europaparlament verabschiedeten Bericht über die Einflussnahme aus dem Ausland auf alle demokratischen Prozesse in der Europäischen Union, einschließlich Desinformation geradezu als ‚Weckruf‘ an die Mitgliedsregierungen, auf die Entwicklung zu reagieren.

Das Parlament zeigt sich alarmiert über mehr Anti-Gender-Bewegungen in Europa, die sich gegen Fortschritte in der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und gegen die Rechte der Frauen und LGBTI+-Personen stellen, bzw. mit Desinformationskampagnen bestehende Rechte rückgängig machen wollen. Ihnen würden Finanzmittel in Millionenhöhe, u.a. aus Russland und den USA zufließen. Darüber hinaus gebe es deutliche Verbindungslinien zum Rechtsextremismus. Die Mitgliedsregierungen werden daher aufgefordert, Basisorganisationen und Bürgerinitiativen, die gegen diese Entwicklungen angehen, langfristig zu unterstützen. Die EU-Kommission soll einen EU-Rechtsrahmen gegen Desinformation und Hetze schaffen.

Eingedenk dieser Forderungen endet das Gutachten daher mit einem ausführlichen, an die Regierungen und Parlamente gerichteten Katalog von Empfehlungen für Forschung und Praxis. Die Veröffentlichung des Gutachtens, verfasst von Jobst Paul, durch CoRE NRW ist zeitnah zu erwarten.

 

Jobst Paul ist Mitarbeiter am DISS mit den Themenschwerpunkten Diskurs-, Rassismus- und Antisemitismusforschung

 

[1]        Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (2020): Antisemitismus im Rechtsextremismus. Online unter: https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/hintergruende/DE/rechtsextremismus/antisemitismus-im-rechtsextremismus-3.pdf?__blob=publicationFile&v=4, zuletzt geprüft am 13.09.2023.