Das Europakonzept der AfD 2023

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Von Helmut Kellershohn

Seit ihren Anfängen verfolgt die AfD eine gegenüber der EU und dem Euro skeptische bis ablehnende Politik, die sich im Laufe der Zeit mit ihren programmatischen Forderungen verschärft hat. Im Kern geht es ihr zum einen um eine Renationalisierung der Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik sowie weiterer Politikfelder wie der Außen-, Sicherheits-, Migrations- und Klimapolitik. Zum anderen ringt sie um die Frage, ob die Renationalisierung vermittels einer Reform der EU (im Sinne eines Rückbaus), eines einseitigen Austritts oder einer einvernehmlichen Auflösung der EU in Verbindung mit der „Neugründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (so im Grundsatzprogramm von 2016) herbeigeführt werden soll.

Im Folgenden gehe ich auf die beiden Europawahlprogramme der AfD von 2019 und 2023 (hier: Leitantrag der Bundesprogrammkommission) näher ein, um die Entwicklung der AfD-Programmatik bzgl. ihrer Haltung zur EU nachzuzeichnen. Dass diese Frage auch mit der Haltung zur NATO und zu den USA gekoppelt ist, soll im Verlauf der Ausführungen verdeutlicht werden.

 

Die Europawahlprogramme 2019 und 2023 im Vergleich

Auffallend sind zunächst die begrifflichen und argumentativen Übereinstimmungen in beiden Programmen.[1] Die AfD lehnt einen „wie auch immer gearteten“ europäischen „Gesamtstaat“ (EP I, 7; EP II, 7), einen „europäischen Superstaat“ (EP I, 11; EP II, 10) „mit Gesetzgebungskompetenz und einer eigenen Regierung“ (EP I, 11; EP II, 10) ab. Zur Begründung verweist sie darauf, dass es für ein „solches Gebilde weder ein Staatsvolk“ gebe, noch dass dieses Gebilde „über das erforderliche Mindestmaß an kultureller Identität“ (EP I, 7) verfügen würde. Die europäischen „Kulturen, Sprachen und nationale[n] Identitäten“ seien „durch Jahrhunderte dauernde, geschichtliche Entwicklungen entstanden“ (EP I, 11), eine europäische Identität sei daher eine „Illusion“. Im Gegenteil beruhe die „politische, ökonomische und soziale Stärke Europas“ gerade auf „der Vielfalt der nationalen Kulturen und Traditionen“ (EP I, 11; ähnlich EP II, 10). Die AfD macht sich also die ethnopluralistische Argumentation der Neuen Rechten zu eigen, um gegen die „Idee der ‚Vereinigten Staaten von Europa‘“ zu polemisieren. Als Gegenidee offeriert sie das gaullistische Ideal eines „Europas der Vaterländer“ (EP II, 47) respektive der Nationen (Kapitelüberschriften: EP I, 10; EP II, 9) oder, wie es auch heißt, einer „neue[n] europäische[n] Wirtschafts- und Interessengemeinschaft“ (EP I, 11; EP II, 7); prosaischer ist neuerdings die Rede von einem „Bund europäischer Nationen“ (Kapitelüberschrift EP II, 11).

Die beiden Europawahlprogramme unterscheiden sich allerdings in der eingangs angesprochenen Grundfrage: Reform oder Auflösung der EU bzw. Austritt aus der EU. Im Programm von 2019 begnügte sich die AfD damit, die Kritik auf – aus der Sicht der AfD – unerwünschte Entwicklungen in der EU[2] zu fokussieren und gleichzeitig die Rückbildung der EU in Richtung eines „Europa[s] der Nationen“ ins Visier zu nehmen. Mit dieser Zweigleisigkeit[3] glaubte die AfD die von ihr kritisierte Entwicklung der EU verhindern zu können, um gleichzeitig, wenn die Rückbildungsstrategie, die sie als „Reform“-Strategie (EP I, 11) deklarierte, keine Erfolge („in angemessener Zeit“, EP I, 12)[4] zeitigt, eine Legitimationsgrundlage zu haben, um die Auflösung der EU in ihrer jetzigen Form zu betreiben: Dann halte man „einen Austritt Deutschlands [DEXIT; H.K.] oder eine geordnete Auflösung der Europäischen Union und die Gründung einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft für notwendig“ (EP I, 12). Der ‚schwarze Peter‘ würde dann bei den politischen Kräften in Europa gelegen, die die EU angeblich zu einem „Superstaat“ formen wollen.[5]

Entgegen dieser Optionslösung wurde im Bundestagswahlprogramm 2021 auf Betreiben des Höcke-Lagers der DEXIT nach britischem Vorbild beschlossen. Auf dem Bundesparteitag 2022 allerdings fokussierte sich die von Gauland und Höcke eingebrachte Resolution „Europa neu denken“ auf die „einvernehmliche Auflösung der EU“ und stellte wie in EP I die „Gründung einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft“ zur Diskussion. Laut FAZ sagte Höcke damals zur Begründung, „mit der Resolution wolle die AfD dem Eindruck begegnen, sie plädiere allein für einen Austritt Deutschlands aus der EU. Stattdessen wolle sie aber ‚Schritte beschreiben, um die EU zu überwinden‘“ (FAZ vom 19.06.2022). Nach heftigen Debatten wurde das Papier an den Bundesvorstand zur Überarbeitung überwiesen. Jetzt plädierte die Bundesprogrammkommission (BPK) in ihrem Leitantrag zum Europawahlprogramm 2023 erneut, ohne Wenn und Aber, für die „geordnete Auflösung der EU“ (EP II, 7) und die Neugründung eines Bundes europäischer Nationen. Zur Begründung heißt es: „Die EU ist ein undemokratisches und reformunfähiges Konstrukt“ (Kapitelüberschrift: EP II, 9), als Projekt sei sie „gescheitert“, sie habe sich zu einem „Konstrukt entwickelt, das immer mehr Gewalt an sich zieht und von einer intransparenten, nicht kontrollierten Bürokratie regiert wird.“ (EP II, 10) Allerdings wurde die Auflösungsforderung der BPK im Nachhinein mit der seltsamen Begründung gestrichen, es handele sich um ein „redaktionelles Versehen bei der Präambelerstellung ohne Beschlusslage der BPK“ (Antragsbuch S. 7).[6] Der korrigierte Text lautet nunmehr: „Wir wollen eine neue europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft gründen, einen Bund europäischer Nationen.“[7] Die neue Sprachregelung,[8] die auf die Auflösungsformel verzichtet, impliziert jedoch eindeutig die Auflösung der EU in ihrer jetzigen Form als Ziel der AfD – und nicht mehr als bloße Option, wie noch im Europawahlprogramm von 2019.

Aufschlussreich sind diesbezüglich die Überlegungen Maximilian Krahs, der auf dem Parteitag Ende Juli zum Spitzenkandidaten für die EU-Wahl bestimmt wurde. In einem Interview mit der Jungen Freiheit erklärte er, warum auf die Auflösungsformel verzichtet wurde:

„Wir sagen ganz klar: Die EU von heute ist von Agenda und Struktur eine Katastrophe für Deutschland und Europa. Wir sagen aber auch: Es muß Europapolitik geben, es braucht institutionelle Zusammenarbeit, und zwar in einem neuen Bund der Vaterländer. Um von unbefriedigenden Status quo zum erstrebten Status quo futurus zu gelangen, wird es ein Nebeneinander von Disruption und Evolution geben, viele Behörden und Strukturen müssen einfach weg, andere transformiert werden. Der Begriff ‚Auflösung der EU‘ ist für diesen Prozeß zu unterkomplex, er lädt zu Fehlinterpretationen und Unterstellungen seitens unserer politischer [sic!] Gegner ein, insofern benutze ich ihn nicht.“ (JF-online vom 31.07.2023)[9]

Krah bindet also die Auflösung der EU an einen längeren Prozess ihrer Umformung, an dessen Ende eine formelle Neugründung (Bund der Vaterländer bzw. Nationen) stehen könnte. Ein solcher Prozess von innen heraus wäre ja auch nur dann möglich, wenn es entsprechende politische Mehrheiten auf der Ebene des EU-Parlaments, vor allem aber und vorrangig eine einvernehmliche Entscheidung im Europäischen Rat gäbe. Es handelt sich also um einen durchaus langwierigen Prozess, der eine weitgehende radikale Umwandlung der politischen Landschaft in Europa voraussetzt, die man salopp als „Orbanisierung“ Europas definieren könnte. Im Leitantrag der BPK wird ein solcher Prozess dahingehend angedeutet, dass die AfD in dem zu wählenden EU-Parlament „Parteien aus allen Ländern für das Zukunftsprojekt einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft“ gewinnen und mit ihnen zusammen „unsere Vorstellungen konkretisieren“ (EP II, 12) will.[10]

Im Übrigen fordert die AfD, dass alle „Grundfragen der EU“, solange sie noch existiert, durch „nationale Volksabstimmungen“ (EP II, 8) in den betroffenen Staaten entschieden werden müssten, um deren Souveränitätsrechten Geltung zu verschaffen.[11] Auch in der Frage des Austritts bzw. des DEXIT, der in der Präambel des Leitantrags abschließend (und knapp) angesprochen wird, müsse „das Volk, der Souverän unseres Staates, nach dem Vorbild anderer Mitgliedsstaaten in einer Volksabstimmung“ (EP II, 8) entscheiden. Aus dem Text geht nicht hervor, dass die AfD über die Klärung des Prozederes hinaus tatsächlich den DEXIT zum Gegenstand ihres Wahlkampfes machen will. Eine derartige einseitige Lösung zu empfehlen, wäre auch kontraproduktiv in einem Europawahlkampf: Warum soll die Wählerschaft Abgeordnete wählen, die gar nicht in das EU-Parlament wollen bzw. allenfalls die Tantiemen auf Kosten der Steuerzahler:innen einstreichen möchten. Insofern ist die von Maximilian Krah beschriebene Strategie der „Disruption und Evolution“ mit dem Ziel der Gründung eines neuen europäischen Bundes den Wählern und Wählerinnen eher vermittelbar. Welche Funktionen aber soll ein derartiger Bund übernehmen?

 

Der Bund europäischer Nationen

(1.) Das angestrebte Gegenmodell, nunmehr Bund europäischer Nationen genannt, wird bereits im Europawahlprogramm von 2019, damals noch im Rahmen einer Reformstrategie, ansatzweise beschrieben. Als „Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner Staaten“ (EP I, 11) soll das neue Gebilde auf „multilateralen Staatsverträgen“ und „partnerschaftlicher Kooperation“ (EP I, 12)[12] basieren. Gewährleistet sein sollten „insbesondere ein möglichst unbehinderter Binnenmarkt“ (EP I, 7) und nach außen hin „Freihandel und offene Märkte“ respektive der Verzicht auf „protektionistische Bestrebungen“ (EP I, 21). In EP II, 12 heißt es: „Wir bekennen uns zur sozialen Marktwirtschaft, zum gemeinsamen Markt, der Zollunion und einer gemeinsamen Handelspolitik. Es gilt das Ziellandprinzip (Waren und Dienstleistungen müssen den gesetzlichen Anforderungen im Zielland genügen).“

(2.) An allererster Stelle der Gemeinschaftsaufgaben steht jedoch der „Schutz der europäischen Außengrenzen“, um die sog. Masseneinwanderung zu beenden („Festung Europa“), und zwar durch „die Errichtung physischer Barrieren, eine technische Überwachung und den Einsatz von Grenzschutzkräften“ unter der Verantwortung nationaler Behörden, geregelt auf der Basis multilateraler Verträge (EP II, 12). Parallel zur Abschottungspolitik sollen „auf nationaler und europäischer Ebene […] Remigrationsprogramme auf- und ausgebaut werden.“ (EP II, 25) In diesem Zusammenhang beruft sich die AfD, vor allem mit Blick auf die unerwünschte Zuwanderung „aus den Staaten des islamischen Kulturkreises“ (EP II, 16) durchaus auf eine „Identität des europäischen Kulturraumes und seiner Nationen“ (EP II, 19) – eine Identität, von der sie im anderen Kontext, nämlich im Kontext einer möglichen Staatsbildung Europas, nichts wissen will (s. oben).

(3.) Das dritte verbindende Element ist die gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Die AfD sieht einen „Umbruch“ hin zu einer „multipolaren Ordnung“ (EP II, 50), in der „globale und regionale Großmächte um Vormachtstellungen ringen“. Deutschland und Europa rechnet sie offensichtlich nicht zu den globalen Großmächten. Denn: „Deutschland und Europa dürfen sich dabei nicht zu Gefolgsleuten einer Großmacht reduzieren lassen.“ (Hervorh. d.V.) Die damit supponierte Äquidistanz richtet sich aber unausgesprochen gegen die USA und die im Leitantrag mit keinem Wort erwähnte NATO. Noch im Europawahlprogramm von 2019 lehnte die AfD, wie bereits im Grundsatzprogramm, die Schaffung einer „europäischen Armee“ ab, einschließlich der bereits eingeleiteten Maßnahmen,[13] die in diese Richtung weisen, und verband dies mit der Forderung nach einer „Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO, um hier Deutschlands Rolle und Einfluss zu erhöhen“ (EP I, 19). Davon ist im Leitantrag keine Rede mehr. Argumentiert wird nun wie folgt:

Europa müsse ein „eigenständiger sicherheitspolitischer Akteur“ werden und einen „unabhängigen Pol in der neuen, multipolaren Welt“ (EP II, 51) bilden. Zu diesem Zweck müssten die europäischen Staaten ihre „militärischen Fähigkeiten […] in einem eigenen System kollektiver Sicherheit“ bündeln, d.h. ihre Streitkräfte, ohne deren Selbstständigkeit aufzuheben, „in einer Verteidigungsgemeinschaft zusammenfassen“, womit man auf die alte französische Idee einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft rekurriert.[14] Die US-amerikanischen Streitkräfte sollten durch eigene, d.h. durch die Kooperation europäischer Streitkräfte ersetzt werden. Ob dies nun gegen den Willen oder mit Einverständnis der USA und mit Aufkündigung oder im Rahmen des NATO-Bündnisses geschehen soll, wird offengelassen. Eine Stärkung der Rolle Deutschlands im Rüstungsbereich wird angestrebt, Deutschland soll in Zukunft bei den notwendigen europäischen Rüstungskooperationen in technologischer Hinsicht die „Systemführerschaft“ (EP II, 52; vgl. EP I, 20) übernehmen.

(4.) Auf dem „Weg zum Bund europäischer Nationen“ (Kapitelüberschrift EP II, 12) strebt die AfD umfassende institutionelle Veränderungen der „Fehlkonstruktion EU“ an.[15] Neben der bereits angesprochenen Etablierung von Volksabstimmungen (s. oben) wären dies

die Abschaffung des „undemokratisch gewählten“ EU-Parlaments, die Rechtssetzungskompetenz läge bis zur „Neuordnung der Verhältnisse“ allein beim Rat (II, 13);

schon jetzt in der Übergangszeit die Verkleinerung des bürokratischen Apparats der EU (II, 13);

die Beendigung der „Förderung von Europaparteien und deren Stiftungen“ (II, 13);

die Umwandlung des Europäischen Gerichtshofs in einen „Kompetenzgerichtshof“, gewählt von den obersten Gerichten der Nationalstaaten (II, 14);

die Bekämpfung des Lobbyismus durch die Einrichtung eines „Lobbyregisters“ und die Abschaffung sämtlicher Privilegien; NGO’s müssen ihre Finanzquellen und Aktivitäten offenlegen (II, 14).

(5.) Angesichts eines solch längeren Transformationsprozesses versteht es sich, dass der DEXIT, auch wenn er noch im Leitantrag erwähnt wird, keine maßgebliche Rolle im Europawahlkampf spielen wird. Die neue Richtung gibt Höcke die von ihm selbst als populistisch deklarierte Parole vor: „Diese EU muss sterben, damit das wahre Europa leben kann“ (Interview bei Phönix), und bezeichnet den Weg dorthin als einen „organischen“, nicht revolutionären Prozess, was in etwa dem entspricht, was Krah mit „Disruption und Evolution“ anspricht. Selbst Alice Weidel, die lieber vom Rückbau der EU spricht, kann sich damit vereinbaren. Die Höckes und Krahs wissen ganz genau, dass die AfD gegenüber den anderen europäischen Rechtsparteien, die ja teilweise in Regierungsverantwortung sind und durchaus von der EU (und dem Euro) profitieren, am ‚Katzentisch‘ sitzt, vorerst jedenfalls, und angewiesen ist auf „starke Partner“ (Alice Weidel), die ihre Position unterstützen, wovon man aktuell (noch) nicht ausgehen kann. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass die großen und wichtigen Rechtsparteien aus Italien, Frankreich, Polen und Ungarn auf dem Parteitag nicht anwesend waren.

 

Streit um die NATO

Einer der Knackpunkte in der innerparteilichen Debatte (ablesbar an den Anträgen zum Programm) ist des Weiteren die Haltung zu den USA, zur NATO und zum Ukrainekrieg. Die Notwendigkeit einer diesbezüglichen Klärung ergibt sich zwingend aus der Bestimmung des Bundes europäischer Nationen als Verteidigungsgemeinschaft. Höckes Kriegsrede in Gera, in der er sein außenpolitisches Programm skizzierte (Stichworte: Ostorientierung, Großraumdoktrin),[16] fließt insofern in den Leitantrag ein, als jedes Bekenntnis zur NATO fehlt. Von der Stärkung des europäischen Flügels der NATO, wie noch im Europawahlprogramm von 2019 und selbst noch im Höcke/Gauland-Papier,[17] ist keine Rede, ein Dissens gegenüber den geopolitischen Interessen der USA wird vorsichtig angedeutet und der russische Angriff auf die Ukraine wird nicht als völkerrechtswidrig deklariert. Man kann das als Versuch der BPK bewerten, Streitpunkte zu umgehen, wenn man zum Vergleich die Ausführungen der von Höcke inspirierten Alternativ-Präambel (Antragsbuch S. 22ff.) heranzieht, die in der Begründung dem Leitantrag mangelnde Klarheit vorwirft, will sagen: es fehlt der BPK-Präambel die klare Feindbestimmung, nämlich die Frontstellung gegen die US-geführte NATO, die quasi als konstitutiv für ein „unabhängiges europäisches System kollektiver Sicherheit“ definiert wird. Die USA hätten „mit der Osterweiterung der EU im Nachgang zur NATO […] einen tiefgreifenden Einfluss auf die europäische Ordnung gewonnen“, demzufolge die „Länder Europas […] in Konflikte hineingezogen“ worden seien, „die nicht die ihren“ seien. Dies widerspräche „diametral“ deren „natürlichen Interessen“ an „fruchtbaren Handelsbeziehungen im eurasischen Raum“. Die Schuld am Ukrainekrieg, auch wenn dies nicht offen gesagt wird, tragen die USA; die „selbstruinöse Sanktionspolitik der EU“ sei Folge der Abhängigkeit von den USA, und die endlosen Waffenlieferungen (nicht der russische Angriff auf die Ukraine) würden „zum ersten Mal seit Jahrzehnten“ den Frieden in Europa gefährden.

In der letztlich verabschiedeten Präambel, die auf einem u.a. von Marc Jongen und Maximilian Krah formulierten Kompromissvorschlag beruht, wird versucht, Höckes dezidiert antiamerikanische Stoßrichtung vorerst zu entschärfen. Deren Konsequenz wäre in der Tat der Austritt aus der NATO. Nunmehr heißt es: „Jegliche Dominanz außereuropäischer Großmächte in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik lehnen wir ab. […][18] Deshalb ist es notwendig, dass Europa seine Verteidigungsfähigkeit schrittweise in die eigene Hand nimmt“ (Hervorh. durch Vf.) und Deutschland seine Wehrfähigkeit steigert. Das „Wie“ (ob innerhalb oder außerhalb der NATO) wird offengelassen und genau wie in der Frage der Auflösung der EU dilatorisch in die Zukunft verschoben. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Krah, immerhin Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl, nach Abschluss der AfD-Europawahlversammlung betont, dass er einen NATO-Austritt derzeit nicht befürworten würde. „Die NATO ist zum derzeitigen Zeitpunkt völlig alternativlos, aber wir wünschen uns eben, dass sie nicht mehr alternativlos ist.“[19]

 

Helmut Kellershohn ist Mitarbeiter im Ak rechts  und im Ak Gesellschaftstheorie des DISS.

 

[1]        Im Folgenden werden die beiden Europawahlprogramme als EP I und EP II abgekürzt. Vgl. https://www.afd.de/wp-content/uploads/sites/111/2019/03/AfD_Europawahlprogramm_A5-hoch_web_150319.pdf und https://www.afd.de/wp-content/uploads/2023/06/2023-06-14_Leitantrag-Europawahlprogramm.pdf

[2]        Ein Beispiel: „Die AfD fordert die Durchsetzung der vertraglichen Verbote der Staatsfinanzierung durch die EZB und der Vergemeinschaftung der Schulden, sowie eine Rückführung der Befugnisse der EZB auf reine Geldpolitik, keine Umwandlung des ESM in einen europäischen Währungsfonds und ein sukzessives Ende der EZB-Anleihenkaufprogramme und der ‚Rettungs‘-Programme über EFSF und ESM“ (EP I, 30).

[3]        Beispiel: „Die AfD lehnt eine Europäische Staatsanwaltschaft und die weitere Verlagerung von Aufgaben der Justiz auf die EU ab. Die AfD wendet sich nicht nur gegen alle Versuche der EU, sich die Zentralkompetenzen einer Bundesregierung anzueignen, […]. Die AfD verlangt stattdessen den Rückbau bereits eingerichteter beziehungsweise im Aufbau befindlicher überflüssiger Justizbehörden“ (EP I, 50).

[4]        Diese Formulierung im EP I schwächte eine Passage im damaligen Leitantrag der Bundesprogrammkommission ab, in dem noch von einem Zeitraum „innerhalb einer Legislaturperiode“ (EP I, 8) die Rede war. Die Abschwächung erfolgte nach einer Intervention Alexander Gaulands auf der Europawahlversammlung in Riesa.

[5]        Deutlicher, weniger verklausuliert als gegenüber der EU argumentierte die AfD hinsichtlich des Euro. So heißt es etwa im Bundestagswahlprogramm (BWP) von 2017 ganz im Sinne des Grundsatzprogramms: „Der Euro ist für ein Wirtschaftsgebiet mit derzeit 19 völlig unterschiedlich leistungsfähigen Volkswirtschaften eine Fehlkonstruktion und kann in dieser Form ökonomisch nicht funktionieren.“ (BWP 2017, 30) Die AfD verlangt daher die „Wiedereinführung der nationalen Währungen“, gegebenenfalls, so das Zugeständnis, unter „paralleler Beibehaltung des Euro“ (ebd.). In EP II wird eingeräumt, dass „strukturgleiche Länder […] eine Gemeinschaftswährung behalten oder neu schaffen“ (II, 12) könnten.

[6]        Zum Antragsbuch vgl. https://www.afd.de/wp-content/uploads/2023/07/AfD_Antragsbuch_EWV_anonymisiert.pdf

[7]        Die letztlich verabschiedete Präambel lautet inhaltlich identisch, aber sprachlich leicht modifiziert: „Daher streben wir einen ‚Bund europäischer Nationen‘ an, eine neu zu gründende europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft“.

[8]        Martin Schmidt (ARD Berlin) schreibt: „Aus Parteikreisen heißt es, dass vor allem Co-Parteichefin Alice Weidel im EU-Auflösungsstreben ein Problem gesehen habe und daher die Umformulierung vorziehen würde. Auch die Formulierung aus dem Bundestagswahlprogramm 2021 habe sie nicht für geeignet gehalten. Damals hatte die AfD geschrieben, sie halte einen Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union für notwendig.“ (https://www.tagesschau.de/inland/afd-eu-100.html)

[9]        Seltsamerweise hatte Krah in der ursprünglichen Fassung des Interviews selbst (wie übrigens auch Höcke) von einer Auflösung der EU gesprochen. Gegenüber der JF sprach er dann von einem „redaktionellen Fehler“.

[10]       Diese Äußerung offenbart unfreiwillig, dass die AfD sich nicht sicher sein kann, ob andere rechte Parteien in Europa das Anliegen der AfD teilen. Bereits mit ihrer Ausstiegsforderung 2021 stieß sie auf wenig Gegenliebe.

[11]       „Solange die Fehlkonstruktion EU fortbesteht, werden wir uns dafür einsetzen, weitere Einschränkungen der nationalen Souveränität und weitere Umverteilungen von Wohlstand und Vermögen unserer Bürger durch EU-Regelungen zu verhindern.“ (EP II, 12)

[12]       Die Formulierung „partnerschaftliche Kooperation“ war im EP I insofern ein Euphemismus, als gleichzeitig ein ungehinderter Wettbewerb der sozialen Sicherheitssysteme („keine europäische Sozialunion“, EP I, 56) oder im Bereich der Steuersysteme (nach Abschaffung des Euro) (EP I, 24) eingefordert wird. Demgegenüber stehen Maßnahmen gegen Lohndumping (EP I, 55), den „Erwerb europäischer Unternehmen durch chinesisch beherrschte Unternehmen“ (EP I, 18) oder etwa Maßnahmen zum Schutz des deutschen „Bauernstand[es]“ (EP I, 45).

[13]       „Die ‚Ständige Strukturierte Zusammenarbeit‘ (Pesco) als Vorstufe zu einer EU-Armee und Doppelstrukturen der EU (z.B. Battle Groups und zusätzliche EU-Stäbe) sowie einen europäischen Verteidigungsfonds und eine europäische ‚Friedensfazilität‘ lehnen wir ab.“ (EP I, 19)

[14]       Der Plan des französischen Ministerpräsidenten René Pleven (1950) sah allerdings eine gemeinsame Armee (damals bezogen auf Frankreich, Italien, Westdeutschland und die Benelux-Länder) vor, die die AfD ablehnt.

[15]       Bereits laut EP I sollten bestimmte EU-Institutionen und Vergemeinschaftungsformen entweder wegfallen, wie z.B. das „undemokratische EU-Parlament“ (EP I, 12) oder die „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) (EP I, 17), oder umgebaut werden, wie z.B. der Europäische Gerichtshof (EP I, 13).

[16]       Vgl. hierzu näher Helmut Kellershohn: Höckes Kriegsrede am 3. Oktober 2022 in Gera, in: DISS-Journal 45/2023, 14-17.

[17]       Im Höcke/Gauland-Papier von 2022 heißt es: „Die EVG [Europäische Verteidigungsgemeinschaft] wird Mitglied einer reformierten NATO (Depolitisierung und Beschränkung auf die militärische Verteidigung des Bündnisgebietes, Straffung der Entscheidungsverfahren, Revision der Partnerschaftslisten und der Agenda 2030, keine Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens).“

[18]       Krah zufolge gehört auch Russland zu den außereuropäischen Großmächten: „Europa ist danach das Gebiet des europäischen Festlands einschließlich Zyperns und Maltas, aber ohne Rußland, Weißrußland, die Türkei und mit den Grenzfällen Moldawien und der Westukraine.“ (Maximilian Krah: Politik von rechts. Ein Manifest, Schnellroda 2023, 66).

[19]       Zitiert nach Handelsblatt vom 06.08.2023 (https://www.handelsblatt.com/dpa/afd-spitzenkandidat-krah-derzeit-kein-nato-oder-eu-austritt/29304518.html). Ähnlich argumentiert er bezüglich der EU und des EURO.