Lesetipps zum Ukrainekrieg

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Von Wolfgang Kastrup

 

Freerk Huisken: Frieden. Eine Kritik

Freerk Huisken: Frieden. Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass, Hamburg: VSA 2023, 150 Seiten, 12,00 Euro, ISBN 978-3-96488-193-9

 

Aus Anlass des Ukrainekrieges hat Freerk Huisken, Professor im Ruhestand an der Universität Bremen, ein neues Buch Frieden. Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass herausgegeben. Wie der Titel schon deutlich macht, kommen hier abweichende Meinungen zum Thema Frieden zum Ausdruck. Es geht dem Autor um die Frage, was Friedenspropaganda, -appelle und -politik, von denen gesprochen wird, beinhalten, und weshalb im Ukrainekrieg die westliche Friedensordnung militärisch verteidigt wird.

Die Rede vom Frieden beherrscht die hiesige politische Debatte als moralische Rechtfertigung der westlichen bzw. deutschen Kriegsbeteiligung gegen „das Böse“ in Gestalt der Russischen Föderation und im Besonderen in Gestalt des russischen Präsidenten Putin. Aus der Friedensmoral wird für Huisken eine Kriegsmoral. (11) „Die moralische Befassung mit dem Krieg ist identisch mit einer Weigerung, sich irgendeinen freien Gedanken über politische Anliegen von hochgerüsteten Staaten und ihre Gründe dafür zu machen, warum sie sich im Krieg mit wechselseitiger Zerstörung von Menschenmassen, Rüstungspotenzial, Infrastruktur usw. Niederlagen beibringen wollen.“ (12) Bei der vorherrschenden moralischen Einschätzung des Krieges wird mit dem Stellen der Schuldfrage diese zugleich entschieden, sodass politische Gründe für das Handeln des Schuldigen durch „moralisch vorgefertigte Rechtskategorien ersetzt werden. (13) Allerdings, so hebt der Autor hervor, bestimmt nicht die Moral das politische Handeln, sondern umgekehrt lassen sich für politische Handlungen von Staaten immer moralische Rechtfertigungen finden. „Das ist eben das Praktische an moralischer Argumentation: Es findet sich zur Legitimation jedes politischen Interesses immer die passende Moral.“ (20)

Freerk Huisken befasst sich neben der Friedensmoral und der Friedensbewegung mit Friedensappellen von links, rechts und aus der „Mitte der Gesellschaft“. An dem Manifest für den Frieden von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht beispielsweise kritisiert der Autor u.a., dass hier „Humanität und Vernunft zu den eigentlichen Prinzipien deutscher Politik erklärt“ werden und es deshalb patriotisch ausgefallen ist. Dass Schwarzer, Wagenknecht und die vielen weiteren Unterzeichner Elend, Tod und Verwüstung in der Ukraine beklagen, ist natürlich nachvollziehbar. „Aber dieselbe Empathie vom Kanzler zu verlangen, ist hanebüchen! Wenn der Kanzler Leichenberge und Verwüstungen nicht ertragen könnte, hätte er mit der Kriegsunterstützung gar nicht erst beginnen dürfen! Im Krieg – man muss offenbar die brutale Wahrheit noch einmal wiederholen – sind solche Gemetzel die Mittel, um den Gegner in die Knie zu zwingen.“ (66)

Huisken zufolge ist die „Konkurrenz auf dem Weltmarkt“ das „ökonomische Herzstück“ der vielbeschworenen Friedensordnung, für deren Sicherung die westlichen Länder, im Besonderen die USA, bereit sind, Kriege zu führen. (95) Die Nutzbringung des Weltmarkts durch die Staatenkonkurrenz unterstellt die politische, militärische und ökonomische Hegemonie der USA. Die anderen Staaten lassen sich auf diese Konkurrenzordnung ein, um sich selbst an den Reichtümern des globalen Kapitalismus zu bedienen. (118) Die Weltfriedensordnung wird von der Weltmacht USA als ihr Werk betrachtet. (122) Wenn allerdings China als ernstzunehmender Konkurrent bezüglich der Nutzung des Weltmarkts den USA den Rang streitig macht, wird China mit Militärstützpunkten eingekreist, werden militärische Bündnisse im Indopazifik gegen China gegründet, die Taiwan-Frage provokativ verschärft und die Geschäfte mit China in besonders sensiblen Bereichen eingeschränkt.

Wenn Staaten beständig aufrüsten und große Teile des nationalen Reichtums in Kriegsgerät investieren, wie es aktuell weltweit geschieht, dann rechnen sie mit Kriegen, die ja auch dann in unschöner Regelmäßigkeit zwischen Staaten ausbrechen. Der Frieden in dieser Welt kommt offensichtlich nicht ohne Krieg aus. Krieg und Frieden schließen sich also nicht aus. Die abweichende Meinung von Huisken zum Ukraine-Krieg kommt im Schlussteil nochmals deutlich pointiert zum Ausdruck:

„Dass ‚der Westen‘ die freiheitliche Friedensordnung im Ukrainekrieg verteidigt, ist also keine Lüge, sondern kapitalistische Wahrheit. Die Lüge liegt allein in der moralischen Schönfärberei dieser Friedensordnung zu einem Hort der schönsten Werte. Es geht dem Westen in diesem Krieg um die Wiederherstellung von ‚zivilen Beziehungen‘ im kapitalistischen Verkehr zwischen Staaten, für den die USA ein Russland mit eigenen imperialistischen Ansprüchen auch dann nicht dulden will, wenn die vergleichsweise begrenzt sind.“ (146)

Freerk Huisken unterzieht in seinem Buch aus aktuellem Anlass die herrschende Friedensmoral, die Friedensbewegung, die unterschiedlichen Friedensappellen und die westlich geprägte hegemoniale Friedensordnung einer eindeutigen und prägnanten Kritik. Wer in einer Zeit der herrschenden Kriegsmoral eine abweichende Meinung zum Thema Frieden lesen möchte und sich mit Gründen und politischen Absichten von kriegführenden Staaten befassen möchte, für den ist das Buch von Freerk Huisken sehr aufschlussreich.

Felix Jaitner: Russlands Kapitalismus

Felix Jaitner: Russlands Kapitalismus. Die Zukunft des „System Putin“, Hamburg: VSA 2023, 183 Seiten, 16,80 Euro, ISBN 978-3-96488-162-5

Der Politikwissenschaftler und ausgewiesene Russland-Experte Felix Jaitner hat im VSA Verlag das Buch Russlands Kapitalismus mit dem Untertitel Die Zukunft des „System Putin“ veröffentlicht. Das Besondere an dieser Analyse ist, dass der Autor eine Sichtweise auf den Ukraine-Krieg wirft, die „im westlichen Mainstream als auch in der linken Debatte nur unzureichend berücksichtigt“ wird. (9) Er meint damit, dass die immer expansiver werdende russische Außenpolitik als Reaktion des Machtblocks zu verstehen ist, und zwar auf die vielen Krisen in Russland und auch im postsowjetischen Raum. Jaitner betont dabei, dass diese Sichtweise nicht im Widerspruch zu dem Argument steht, dass die Politik Russlands darauf ausgerichtet ist, ihre hegemoniale Position im postsowjetischen Raum zu erhalten. Konkret bezieht sich das auf die militärischen Interventionen in Georgien (2008), in Kasachstan (2021/2022) und aktuell seit 2022 in der Ukraine. „Allerdings sind die spezifischen Entwicklungen und innergesellschaftlichen Dynamiken der einzelnen Länder wichtige Erklärungsfaktoren für die wiederkehrenden Konflikte in der Region, so auch für den Krieg in der Ukraine.“ (Ebd.) Auch die so beliebte Personalisierung der russischen Politik, dargestellt im „System Putin“, wird den Herrschaftsverhältnissen, die Putin repräsentiert, nicht gerecht. Für Jaitner muss die Regierungspolitik von Putin als eine spezifische Antwort des Machtblocks gesehen werden, die sich aus der Transformationsphase der 1990er Jahre ergibt. Die daraus resultierenden strukturellen Widersprüche des radikal eingeführten russischen Kapitalismus („Schocktherapie“) unter Boris Jelzin wirken bis heute nach. (10) Dem Autor zufolge setzte die autoritäre Entwicklung in Russland spätestens 1993 ein, als die Regierung unter Jelzin das Parlament durch loyale Truppen beschießen ließ und eine „präsidentielle Verfassung“ einsetzte. Es ging um die entscheidende Frage, wie die neue Wirtschaftsordnung umgesetzt wird. „Das Entstehen autoritärer Herrschaftsverhältnisse steht folglich in einem engen Zusammenhang mit der Etablierung der neuen Wirtschaftsordnung.“ (11)

Jaitner widerspricht der Ansicht, dass die Einführung des Kapitalismus mit der Auflösung der Sowjetunion alternativlos gewesen ist. (12) Bezüglich der Auflösung der Sowjetunion bezieht sich Jaitner auf ein Treffen am 8. Dezember 1991, der sog. Belowescher Vereinbarung, wo die Präsidenten der russischen, ukrainischen und belorussischen Teilrepubliken Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislaw Schuschkewitsch beschlossen, die Sowjetunion aufzulösen. „Dabei trafen sie sich weder im Rahmen eines institutionalisierten Gremiums des Unionsverhandlungsprozesses noch hatten die sowjetische Regierung unter Michail Gorbatschow oder das Parlament (Oberster Sowjet) den Teilnehmern entsprechende Entscheidungsvollmachten erteilt. Die Auflösung der Sowjetunion forcierte die Sezessionsdynamik, die die Legitimität multiethnischer Staaten bedrohte und die meisten Nachfolgestaaten erfasste.“ (Ebd.) Dies ist in der Tat eine schlüssige Argumentation von Felix Jaitner, die in der wissenschaftlichen Literatur kaum erwähnt wird und deshalb zur Erklärung von Entwicklungsprozessen im postsowjetischen Raum wichtig ist. Denn in der Infragestellung des multiethnischen Charakters der ukrainischen Gesellschaft liegt für den Autor eine wichtige Ursache des aktuellen Konflikts in der Ukraine. (12) So erhoffte sich die ethnisch-nationale Elite in der Ukraine durch die staatliche Unabhängigkeit eine Stärkung ihrer politischen und ökonomischen Position, um so u.a. den einsetzenden Privatisierungsprozess zu ihrem Vorteil zu beeinflussen. (13) Die vorangetriebenen Nationalstaatsbildungen nutzten ethnische Minderheiten, um Unabhängigkeitsforderungen zu stellen. Der Autor bezieht dieses Phänomen auf den russischen Nordkaukasus, auf die Ostukraine, auf Georgien (Südossetien, Abchasien), auf Moldawien (Transnistrien) und auf Zentralasien. „Die Antwort der Regierungen in allen Konflikten ist fast ausschließlich repressiv.“ (165)

Jaitner zufolge zeigen der Krieg in der Ukraine und die zunehmende politische Repression in Russland, „dass zentrale gesellschaftliche Widersprüche im Verlauf der letzten 30 Jahre nicht gelöst, sondern im Zuge der Transformation verstetigt und vertieft wurden“. (15) Dabei muss die Einführung des Kapitalismus „als zentrale Konfliktlinie in der russischen Gesellschaft der 1990er-Jahre“ gesehen werden, die bis heute eine demokratische Entwicklung behindert. (Ebd.) Die daraus folgenden Wirtschaftskrisen („Vielfachkrise“) mit einer einhergehenden großen sozialen Ungleichheit führten weniger zu sozialen Protesten, sondern zu einer Zunahme nationalistischer und rassistischer Bewegungen und Parteien. (19) Jaitner zitiert diesbezüglich den Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge: „Der Nationalismus ist sowohl ein ideologisches Zerfallsprodukt als auch Resultat der Umbruchsituation, allerdings kein organisch gewachsener, sondern ein etwa in Russland seitens nationaler Machteliten zur Ablenkung von unsozialen Folgen der Transformationskrise eingesetztes Manipulationsinstrument.“ (127)

Die in der Jelzin-Ära einsetzende Privatisierungspolitik und die damit verbundene Deregulierung des Finanzsektors führten zur „Entstehung einer korrupten Bourgeoisie, die getrieben von ihrer kurzfristigen Profitorientierung aktiv dazu beitrug, staatliche Institutionen und demokratische Prozesse zu unterminieren“ (166). In der Präsidentschaft von Wladimir Putin ist der autoritäre Sicherheitsstaat etabliert worden. Jaitner spricht hier von einer „oligarchisch-etatistische[n] Ordnung“. Das bedeutet eine starke Kontrolle des politischen Systems und der Zivilgesellschaft; Staatsbürokratie und Oligarchie sind die zentralen Träger und bilden „eine gemeinsame herrschende Klasse“ (168f.). Durch die autoritäre Machtpolitik in Russland werden nicht nur gesellschaftliche Auseinandersetzungen unterdrückt, die Konflikte werden stattdessen verstetigt und durch die imperiale Machtpolitik wird der gesamte postsowjetische Raum destabilisiert. (173)

Felix Jaitner analysiert in seinem Buch Russlands Kapitalismus, dass neben dem Argument von Russlands aggressiver hegemonialer Politik im postsowjetischen Raum, und damit des Krieges gegen die Ukraine, eine Sichtweise hinzugefügt werden muss, nämlich die der Reaktion des russischen Machtblocks auf die vielen Krisen in Russland und in angrenzenden Staaten der ehemaligen UdSSR. Die Reaktion zeigt sich in einer immer expansiver werdenden Außenpolitik. Es ist das Verdienst von Jaitner, eine solche Sichtweise in die Debatte um das Verstehen (nicht Verständnis!) der russischen Politik einzubringen. Jaitner verfolgt den Prozess der Durchsetzung des Kapitalismus in Russland („Schocktherapie“) und zeigt die oligarchischen Strukturen, die Korruption in der Umgebung von Putin und die Defizite in den sozialstaatlichen Institutionen auf. Dem Buch und seinem Autor ist eine große Aufmerksamkeit zu wünschen.