„Die Gegenwart als Werden erfassen“

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Rezension von Wolfgang Kastrup

 

Karl Lauschke: „Die Gegenwart als Werden erfassen“. Inhalt, politischer Kontext und Rezeption von Georg Lukács‘ Geschichte und Klassenbewusstsein, Münster: Westfälisches Dampfboot 2023, 528 Seiten, 38 Euro, ISBN 978-3-89691-085-1

Karl Lauschke, Sozial- und Wirtschaftshistoriker, hat sich mit seinem aktuell im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienenen Buch „Die Gegenwart als Werden erfassen“. Inhalt, politischer Kontext und Rezeption von Georg Lukács‘ Geschichte und Klassenbewusstsein der Aufgabe gestellt, das berühmte Werk von Lukács „als eine Monographie zu betrachten, also als ein Buch, das ein Thema behandelt, Schritt für Schritt analysiert und auch hätte heißen können: ‚Die Bedeutung des Klassenbewusstseins im Klassenkampf des Proletariats‘“ (13). Obwohl sich Georg Lukács (1885-1971), ungarischer Philosoph und Parteimitglied der ungarischen KP, von seinem bekanntesten Buch Geschichte und Klassenbewusstsein, 1923 im Malik Verlag in Berlin erschienen, selbstkritisch wegen der u.a. zu großen Nähe zur Hegels Philosophie distanzierte und, so Lauschke, Lukács zitierend, „für überholt und in vielerlei Hinsicht falsch“ (10) hielt, setzte die Rezeption seines Werkes in Deutschland und auch international in den 1960er Jahren ein. Verbunden war damit die Hoffnung auf „einen bahnbrechenden Neuanfang unorthodoxer marxistischer Theoriebildung, dazu geeignet, eine radikale Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft zu leisten und sich zugleich vom realen Sozialismus abzugrenzen“ (12). Lauschke kritisiert nachvollziehbar, dass in der umfangreichen Literatur zu Geschichte und Klassenbewusstsein mehr und mehr der politische Zusammenhang, in dem dieses Buch entstand, ausgeblendet wird. Auch die fast ausschließliche Konzentration auf den Mittelteil des Buches mit dem Aufsatz Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats hält er inhaltlich für nicht angemessen. (12f.) Dies ist auch für den Autor dieser Zeilen neu und überraschend, denn auch ich habe das Buch schwerpunktmäßig unter dem erwähnten Aufsatz der „Verdinglichung“ gelesen. Lauschke zufolge ist aber nach dem Sinn der Reihenfolge der verschiedenen Aufsätze (u.a. Was ist orthodoxer Marxismus?, Rosa Luxemburg als Marxist, Klassenbewusstsein, Legalität und Illegalität) in diesem Buch zu fragen, wobei er sich auf ein Zitat von Lukács bezieht, der auf einen sachlichen Zusammenhang in der Abfolge der Texte hinwies. (15) Für Lauschke ist diese Aufsatzsammlung kein philosophisches Werk für linke Intellektuelle, sondern Lukács, so betont er, wollte in die Diskussion eingreifen, die sich mit den Fragen revolutionärer Politik beschäftigt. (16) Dabei geht es in den Texten zentral um die Frage der dialektischen Methode, um die Gegenwart zu erkennen und die richtigen politischen Antworten zu geben. Mit Gegenwart meint Lukács, Lauschke zufolge, Krieg, Krise, das langsame Tempo der Revolution und die neue ökonomische Politik Sowjetrusslands. (16) Die Absicht von Karl Lauschke ist es, Geschichte und Klassenbewusstsein „als historische Quelle zu behandeln“, die Gedanken darzulegen, zu analysieren, um so Lukács zu verstehen. (18)

Der Autor arbeitet sehr stringent heraus, dass für Lukács „die Quintessenz des Marxismus“ nicht in einzelnen Aussagen zu finden ist, nicht in dem Glauben an ein „heiliges Buch“ von Marx, sondern einzig und allein, wie oben erwähnt, in der dialektischen Methode. Nur auf diese Methode bezogen ergibt sich eine Orthodoxie des Marxismus, und zwar ausschließlich. (21) Der Marxismus ist für Lukács integraler Teil des Klassenkampfes, zu der die Arbeiterklasse durch die kapitalistischen Verhältnisse genötigt wird. Die marxistische Theorie kann „ihr praktisches Wesen entfalten, indem sie diese Klasse in die Lage versetzt, mit dem Bewusstsein ihrer besonderen Lage zugleich den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu erkennen, der sie in den Kampf zwingt, welcher schließlich über die bestehende Ordnung hinaus treibt, will sich die Klasse tatsächlich behaupten“. (22) Nur wenn, wie Lukács schreibt, „die dialektische Beziehung des Subjekts und Objekts im Geschichtsprozess“ in den Mittelpunkt gerückt wird, ist die dialektische Methode eine revolutionäre Methode. (23)

Der für das Buch verfasste Aufsatz Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats ist gegenüber den anderen Texten der längste und sicherlich auch der bekannteste. Der Begriff „Verdinglichung“ ist einer der wirkmächtigsten Begriffe in der Sozial- und Kulturkritik im „westlichen Marxismus“ des deutschsprachigen Raums. Er ist auch heute noch Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Die kapitalistische Produktionsweise wird hier als verursachend für die soziale Verdinglichung der Lebensformen gemacht. Lukács, so Lauschke, greift hier auf die Ausführungen von Karl Marx in Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis (Das Kapital, Bd. 23, 85ff.) zurück, ein „Schlüssel zum Verständnis bürgerlichen Denkens“. (100) Die Zentralität der Kategorie der Ware im Marxschen Kapital für die kapitalistische Gesellschaft wird dabei betont. „Erst mit dem Kapitalismus wird die in der Warenform angelegte Verdinglichung zur vorherrschenden Erscheinungsweise der Gesellschaft […]“ (ebd.), indem das Verhältnis zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit erhält. Das bedeutet: Wenn gesellschaftliche Beziehungen als dingliche Eigenschaften in Erscheinung treten, verhüllt der fetischistische Schein die Wirklichkeit, bleibt für das Alltagsbewusstsein undurchsichtig und lässt gesellschaftliche Verhältnisse als naturalisiert erscheinen. Da die warenförmige Durchdringung alle Lebensbereiche erfasst, so auch die der Arbeiter, die ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen müssen, kann deren Schicksal auf die ganze Gesellschaft verallgemeinert werden, sodass die Verdinglichung als über den Produktionsprozess hinausgreifend zu verstehen ist. (Vgl. 102)

Wenn von den Arbeitern die kapitalistischen Verhältnisse begriffen werden, also eine Aufhebung der Verdinglichung erfolgt, können sie ihre partikularen und vorübergehenden Interessen überwinden und sich ihrer gesellschaftlichen Lage bewusst werden. Gefasst werden kann dieses Klassenbewusstsein nur dialektisch. (Vgl. 474) Nur in der Kommunistischen Partei nimmt das Klassenbewusstsein des Proletariats als revolutionäre Bewegung „wirklich Gestalt an“ als Verkörperung des revolutionären Sinns des Proletariats. (475) Nur durch „das praktisch-kritische Handeln der Partei“ wird die Trennung von Form und Inhalt durch die Praxis aufgehoben, sodass das Proletariat ein Bewusstsein von sich selbst als Klasse, als kollektives Bewusstsein, in einer kapitalistischen Gesellschaft erlangt. (Ebd.) Hier wird die bedeutende Rolle der Kommunistischen Partei deutlich, in der Lukács ab 1918 in Ungarn aktiv wurde und wichtige Funktionen übernahm. Auch nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik hat er, wie er in späteren Jahren erklärte, nie den Glauben an revolutionäre Umwälzungen in europäischen Ländern verloren. Lauschke erläutert, dass für Lukács „Organisationsformen, die aus dem Klassenkampf spontan entstehen“, in der Unmittelbarkeit verbleiben. Sie sind nicht in der Lage, verborgene Zusammenhänge zu erkennen, sodass das Proletariat sich seiner Lage nicht bewusst werden kann. Dies ist als Kritik an der Position von Rosa Luxemburg zu verstehen. (476) Die Kommunistische Partei war für Lukács unverzichtbar, ein Austritt, auch wenn die Partei in Ungarn zerstritten war und nicht immer seinen Vorstellungen entsprach, war für ihn keine Option. Für Lauschke ist Geschichte und Klassenbewusstsein „ein durch und durch politisches Buch, das von einem führenden Kommunisten im Rahmen seiner politischen Tätigkeit zur eigenen Selbstverständigung, aber auch für eine Leserschaft geschrieben wurde, die an theoretischen Fragen der revolutionären Bewegung interessiert war“. (501) Die einzelnen Aufsätze sind Lauschke zufolge so aufgebaut, dass „sukzessiv eine marxistische Revolutions- und Parteitheorie entworfen wird“. (Ebd.) Somit ist es nicht möglich, seine theoretische Argumentation von seiner parteipolitischen Tätigkeit zu trennen. Wenn Karl Lauschke seinem Buch ein Zitat von Lukács als Titel gibt, so will er damit den Anspruch von Georg Lukács deutlich machen, die Gegenwart als ein Werden zu erfassen.

Lauschke gelingt es durch seine umfangreiche philologische und historische Prüfung in sehr nachzuvollziehender Weise, das Buch Geschichte und Klassenbewusstsein als ein durch und durch politisches Buch zu behandeln und nicht als ein vorwiegend philosophisches Werk, wie es so oft in der Literatur dargestellt wird, indem man sich fast ausschließlich auf den Aufsatz über die Verdinglichung konzentriert. Auch dem Autor dieser Zeilen ist es bisher so ergangen, sodass jetzt durch das Buch von Karl Lauschke eine überraschend neue Perspektive entstanden ist. Dies macht das Buch absolut verdienstvoll. Es ist zu hoffen, dass das Werk von Karl Lauschke „Die Gegenwart als Werden erfassen“ über Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukács nicht nur in Universitätsseminaren und studentischen Zirkeln gelesen wird, sondern eine breitere Leserschaft erlangt.