We are Human! – I am not Animal

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Anmerkungen zu Grenze und Migration im Kontext des Klimawandels ((Folgender Text entstand im Dezember 2019 und Januar 2020. Er thematisiert daher noch nicht die Eskalationen an der türkisch-griechischen Grenze und im zentralen Mittelmeer sowie die höchstwahrscheinlich schwerwiegenden Auswirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie auf die Situation der Geflüchteten und das Grenzregime der EU.))

Von Thomas Müller. Erschienen in DISS-Journal (39) 2020

Im klimapolitischen Diskurs spielen ‚Kipppunkte‘ eine zentrale Rolle. Der Begriff bezeichnet Situationen, in denen Rückkopplungseffekte oder in den bisherigen Modellen nicht berücksichtigte Faktoren eine Zuspitzung der Klimaerwärmung bewirken könnten. Ebenso meint er Situationen, nach deren Eintreten die Entwicklung als entglitten anzusehen ist und ein katastrophischer Verlauf auch bei Mobilisierung aller technologischen, politischen und ökonomischen Ressourcen nicht mehr aufzuhalten sein wird. Auch die kritische Gesellschaftstheorie kennt solche Kipppunkte: Situationen des ‚Umschlagens‘, an denen sich negative Dynamiken Bahn brechen.

Im Kontext des Klimawandels könnten Migrant_innen und Flüchtende in das Zentrum einer solchen negativen Dynamik rücken, mit gravierenden Folgen sowohl für ihr eigenes Leben als auch für die Geltung humanistischer Prinzipien während der beginnenden Kaskade klimabedingter Transformationen und Katastrophen. Der Klimawandel wird mit Blick auf Flucht und Migration erstens bedeuten, dass eine sehr viel größere Zahl von Menschen gezwungen sein wird, ihre Heimat dauerhaft zu verlassen; zweitens, dass ihre Migration häufig irreversibel ist; drittens, dass sich der Limbus, d.h. der Zustand des verstetigten Dazwischenseins im Kontext von Migration und Exil, gegenüber heute stark ausweiten wird; und viertens, dass in der Kombination dieser drei Entwicklungstendenzen die Bereitschaft zunehmen wird, die betroffenen Menschen als überschüssig zu definieren, denn ‚wir können ja nicht alle aufnehmen‘.

Der vorliegende Text ist der Versuch, vor diesem Hintergrund einige, heutige Entwicklungen zu rekapitulieren. Er bezieht sich auf neuere Ansätze (gesellschafts-)kritischer Migrationsforschung und reagiert auf die manchmal nur vagen Verweise auf Flucht und Migration in der Klimadiskussion, die durchaus fragwürdig sein können, wenn etwa die Zunahme von Flüchtenden (und die Angst vor einer ‚Flüchtlingskrise‘ ungekannten Ausmaßes) als Argument genutzt wird, um klimapolitische Forderungen zu legitimieren oder ihr im politischen Mainstream Nachdruck zu verleihen.

Die europäische Grenze und die prekären Zonen des Klimawandels überschneiden sich

Die europäische Grenze wurde in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einem weit ausgreifenden Gebilde verräumlicht, das natürliche Bewegungshindernisse wie das Mittelmeer und die Sahara einbezieht und Drittstaaten wie die Türkei oder die subsaharischen Länder dazu anhält, Migrant_innen ihrerseits an der Weiterreise nach Europa zu hindern. Die Verschließung des Zugangs für Flüchtende in die EU wird in kritischer Absicht seit den 1990er Jahren mit dem Schlagwort der ‚Festung Europa‘ bezeichnet. Die frühneuzeitliche Festungsarchitektur kennt den Begriff des Glacis, der das von Sicht- und Operationshindernissen freigehaltene Vorfeld der eigentlichen Festung bezeichnet. Auch die ‚Festung Europa‘ besitzt ein solches Glacis. Es stellt einen mehrfach

gestaffelten und regional ausdifferenzierten Grenz-Raum dar, der weit größer ist als die EU selbst und sich mit den Territorien von einem Dutzend anderer Staaten überlagert, ja mehr noch, diese Staaten vollständig in das Glacis einbindet.

Insbesondere im äußeren Gürtel der ‚Türsteherstaaten‘ südlich der Sahara (also im Staatengürtel von Senegal über Mali, Burkina Faso, Niger, Tschad und Sudan bis Äthiopien) ragt Europa damit weit in ehemalige Kolonialgebiete hinein und bildet dort Formen indirekter Herrschaft aus, die allerdings nicht zwingend auch funktionieren. Mit Libyen befindet sich im Zentrum des saharischen Grenz-Raumes ein failed state, sodass dort nicht (oder nur nominell) staatliche Institutionen europäische Grenzschutzaufgaben wahrnehmen, sondern Milizen und kriminelle Organisationen zu politischen Geschäftspartner_innen Europas werden und/oder ihr eigenes Geschäft entwickeln. Ob in den kommenden Jahrzehnten also eher staatlich verfasste und damit zumindest rudimentär kontrollierbare oder aber nicht-staatliche Akteure diese Grenzfunktion erfüllen werden, ob wir es wie heute mit einem hybriden Gebilde zu tun haben werden, ob digitale Techniken eine sich in Teilen autonom kontrollierende Grenze ermöglichen werden oder ob es zu einem Zerfall des Grenzraumes zumindest in seiner Großräumlichkeit kommen wird, bleibt damit offen.

Notwendiger Bestandteil dieser Grenze sind Zwischen- und Auffanglager, zu denen sowohl offizielle Lager (wie die sogenannten Hotspots und Haftlager auf den griechischen Ägäis-Inseln) als auch inoffizielle, von Migrant_innen selbst errichtete Camps an schwer passierbaren Grenzabschnitte gehören. Auch die vielzitierten Lager und Gefängnisse staatlicher und nichtstaatlicher Akteure in Libyen und anderen Drittstaaten sind Teil der Lagergeographie. Schließlich setzt sie sich in den berüchtigten Haft- und Folterstätten fort, in denen Migrant_innen inhaftiert, zur Zwangsarbeit oder sexuell ausgebeutet, als Sklav_innen verkauft, zur Erpressung von Angehörigen gefoltert, zur Abschreckung getötet werden oder an Mangelernährung und Unterversorgung sterben – Orte, an denen die Grenzen zwischen staatlichen und semistaatlichen Einrichtungen, Milizen, Schleusergewerbe, Mafia usw. verschwimmen und hybride Mischformen solcher Strukturen bestehen können. Letzteres gilt auch für die Transformation von Milizen in die sogenannte libysche Küstenwache sowie der sudanesischen Janwajeed-Miliz zur Rapid Support Force. Diese war im Kontext des Darfur-Konflikts für massive Kriegsverbrechen und Völkermord verantwortlich gewesen, übernimmt als modern ausgestattete Truppe heute Aufgaben der Grenzüberwachung und konnte ihre innenpolitische Macht nach dem Sturz des Bashir-Regimes sogar noch ausbauen.

Die externalisierte Grenze gewährleistet dabei ein Aufhalten und Entmutigen von Migrant_innen bereits vor dem Erreichen des Territoriums, auf dem überhaupt ein Zugang zu den Aufnahmeverfahren besteht. Was die Grenze also auch unterbindet, ist der Zugang zu Recht, und was sie auf diese Weise produziert, ist das Leben im Limbus. Humanitäre Maßnahmen zur Lebensrettung und Grundversorgung der Betroffenen heben diesen Mechanismus nicht auf, denn auch ein nach humanitären Standards eingerichtetes Flüchtlingslager reproduziert den Zustand des verstetigten Dazwischenseins, der weder Heimat noch Ankommen ist und sich mangels aufnahmebereiter Staaten für die betroffenen Menschen über ganze Lebensphasen bis hin zu gesamten Lebenszeiten erstrecken kann. Lager wie etwa Dadaab in Kenia konnten über mehrere Jahrzehnte zu Großstädten (mit in diesem Fall bis zu einer Viertelmillion Bewohner_innen) anwachsen, deren Nichtexistenz auf offiziellen Landkarten ihren rechtlichen Schwebezustand sehr gut widerspiegelt. Innereuropäisch geltende Normen und Normalitäten sind in der Grenze und in ihren Lagern insofern partiell oder vollständig suspendiert, sodass sich das Leben on the move in einem Raum des nicht oder allenfalls fragmentarisch geltenden (Menschen-)Rechts abspielt, während umgekehrt der Handlungsspielraum der Exekutiven tendenziell erweitert und enthemmt wird. Nach europäischen Maßstäben illegalen und inhumanen Handelns wie etwa das unter Umständen tödliche Aussetzen in der Wüste durch marokkanische und algerische Polizeibehörden stellt insofern keine Fehlentwicklung innerhalb des europäischen Grenzregimes dar, sondern ist auf indirekte Weise dessen integraler Bestandteil.

Wesentlich in unserem Kontext ist, dass der äußere Kreis des europäischen Grenzraums eine der voraussichtlich am stärksten vom Klimawandel betroffenen Weltregionen ist. Die externalisierte Grenze Europas fällt also mit einer Zone klimabedingter Krisen zusammen. So gilt der Sudan inzwischen als eines der ersten Länder, in dem gewaltsam ausgetragene Konflikte durch den Klimawandel mitausgelöst und verstärkt worden sind, und zwar sowohl im Fall des Darfur-Krieges als auch des Sezessionskriegs mit dem heutigen Südsudan. Gleichzeitig wurde der Sudan im Rahmen des sogenannten Khartoum-Prozesses zu einem Schlüsselpartner Europas bei der Bekämpfung der Migration aus den ostafrikanischen Staaten Eritrea, Äthiopien und Somalia – eine Rolle, die Libyen vor dem Staatszerfall in ähnlicher Weise wahrgenommen hatte.

Entscheidend ist dabei, dass die europäische Grenze weniger eine situative Reaktion auf punktuelle Problemlagen darstellt, sondern eher eine auf Dauer angelegtes und mit großem organisatorischen, personellen, technologischen, symbolpolitischen und finanziellen Aufwand eingerichtete Institution bildet. Daher spricht alles dafür, dass sie weit in das 21. Jahrhundert hinein Bestand haben wird und insbesondere dann – und zwar vermutlich in radikalisierter Form – wirksam sein wird, wenn die Folgen der Klimaerwärmung existenzieller und krisenhafter sichtbar sein werden als heute.

Die Art und Weise, wie die Grenze eingerichtet, verwaltet, durchgesetzt, legitimiert und überhöht, aber auch wie sie erlebt, durchquert, erlitten, bekämpft und unterlaufen wird, muss daher mitgedacht werden, wenn wir über Migration in der Epoche des Klimawandels, d.h. wenn wir über den Klimawandel in seiner Komplexität sprechen. Wir können es auch so sagen: Es geht um die Kritik einer politischen und moralischen Ökonomie, die sich nicht nur auf das Überleben im Prozess fortschreitender Klimaerwärmung, sondern ebenso auf die Ausschließung der davon am stärksten betroffenen Bevölkerungen vorbereitet. Die externalisierte Grenze ist hierfür unverzichtbar.

Green Deal und Identitätspolitik verbinden sich zum Konzept einer grünen Festung Europa

Beängstigend ist in diesem Zusammenhang, dass dieser Grenze im politischen Raum eine Schlüsselfunktion für den Fortbestand sozialer, kultureller und politischer Stabilität innerhalb der EU zugesprochen wird. Die Vorstellung einer nicht auf diese Weise kontrollierten, selektierten und begrenzten Migration gerät zum Szenario einer ungehinderten Invasion, die den sozialen Frieden in Europa ebenso gefährde wie die liberale Demokratie, da die Zunahme der Migration quasi automatisch in einen Machtgewinn der extremen Rechten münde.

Ein Beispiel für diese Essentialisierung der Grenze ist die Konzeption der neuen EU-Kommission unter der Leitung von Ursula von der Leyen. Eines der drei zentralen Projekte für die Jahre 2020 bis 2024 lautete zunächst „Protecting our European Way of Life“ ((Von der Leyen, Ursula: A Union that strives for more. My agenda für Europe. Political guidelines for the next European Commission 2019-2024, o.O. 2019, URL: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/political-guidelines-next-commission_en.pdf [16.11.2019], S. 14ff. – Die Formulierung ist in offiziellen Dokumenten mit „Schützen, was Europa ausmacht“ oder „Schutz der europäischen Lebensweise“ übersetzt. Allerdings ist die ursprüngliche englische Formulierung stärker am Sprachgebrauch der Neuen Rechten orientiert.)), später geändert in „Promoting our European Way of Life“, und ist in Form eines Vize-Kommissionspräsidenten mit identischer Amtsbezeichnung institutionalisiert. Dies gleicht einer Art europäischem Heimatministerium, dem u.a. die strategische Weiterentwicklung von Migrationspolitik, Asylwesen und Außengrenzschutz zugeordnet sind. Migration vorrangig im Kontext von Sicherheit und Grenzschutz zu verhandeln, ist in der EU-Geschichte nicht neu, wurde jedoch bisher noch nie auf so hoher politischer Ebene als Verteidigung einer europäischen Identität aufgefasst, die per definitionem exklusiv und limitiert ist. Dies bedeutet nicht, dass die Identität zwingend als ethnisch-kulturell homogen etwa im Sinne einer ‚christlich-abendländischen Leitkultur‘ begriffen würde. Sie kann durchaus vielfältig und entwicklungsoffen gedacht sein. Ihre Limitierung bezieht sich vielmehr auf das Außenverhältnis: Das arabische Kulturerbe in Spanien wäre Teil der ‚europäischen Identität‘, arabische Migrant_innen hingegen nicht. Das Identitätskonzept weist der Grenze in jedem Fall eine überhistorische Mission zu: Sie wird als Grundvoraussetzung für Europa schlechthin imaginiert.

Identitätspolitische Aufladungen dieser Art aber machen die Migrations- und Grenzpolitik tendenziell unhinterfragbar; sie engen das Nachdenken über Migration massiv ein und ordnen das Beharren auf offene Grenzen und freie Mobilität einem Bereich außerhalb des scheinbar Realistischen, Vernünftigen und Verantwortbaren zu. In der Phase zwischen der Entkolonialisierung und dem Ausbau der EU-Außengrenze aber war eine zwar nicht unkontrollierte, aber vergleichsweise ungehinderte Reise zwischen ehemaligen Kolonien und ehemaligen Kolonialmächten wie Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden aber sehr wohl möglich gewesen, und zwar zu einer Zeit, als die Vorläufer der Europäischen Union bereits bestanden. Die scheinbar utopische, naive oder radikale Idee einer relativ offenen Grenze war also normal gewesen und kann es mithin auch wieder werden.

Als abschirmende und identitätstiftende Institution bildet die Grenze in der Konzeption von der Leyens die Voraussetzung und den Rahmen eines ‚grünen‘ Kapitalismus im Inneren Europas.

Dem European Way of Life steht als zweites großes Projekt (das dritte ist die Digitalisierung) ein Green Deal gegenüber:

„Ich möchte, dass der Grüne Deal Europas Markenzeichen wird. Er ist Ausdruck unseres Willens, der erste klimaneutrale Kontinent der Welt zu werden. Dahinter steht auch ein langfristiges wirtschaftliches Interesse: Wer zuerst und am schnellsten handelt, wird am ehesten von den Möglichkeiten des ökologischen Wandels profitieren.“ ((In: Kommission von der Leyen: Eine Union, die mehr erreichen will, Presseerklärung der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, Fassung v. 18.11.2019, URL: https://ec.europa.eu/germany/news/20190910-team-struktur-von-der-leyen-kommission_de [18.11.2019].))

Genau dieser Nexus macht es so wich-tig, sich aus klimapolitischer Perspekti-ve auch mit dem Limbus als dem unausgesprochenen Anderen eines solchen ‚Green Deal‘ zu befassen. Denn dieser wird hier mit der Verheißung einer Rettung, nämlich ‚klimaneutraler Kontinent‘ zu sein, gekoppelt, die zugleich die Verheißung einer Suprematie (‚erster‘ Kontinent) und eines Profits ist. Die Bekämpfung der ‚illegalen Migration‘ erscheint hierbei als notwendige Bedingung für die Stabilisierung eines gesellschaftlichen Konsensus, da den Einzelnen und den sozialen Milieus durch Klimawandel und Digitalisierung massive Anpassungsleistungen abverlangt würden. Eine solche Verknüpfung zwischen Identitäts- und Klimapolitik, zwischen der Grenze und einer klimaneutralen Modernisierung des Kapitalismus, könnte zum zentralen politischen Projekt einer grün-schwarzen Koalition in Deutschland und anderen liberalen europäischen Staaten werden: eine Grüne Festung Europa. An diesem Projekt zu partizipieren, wäre ein Angebot sowohl an rechte (kulturalistische, identitäre) wie auch an linke (sozialstaatliche, ökologische) Parteien, Milieus und Bewegungen, das manche ihrer jeweiligen Protagonist_innen kaum werden ablehnen können. Die Grenze könnte dann zur Bruchlinie innerhalb der zivilgesellschaftlichen Klimabewegung werden.

Der Limbus weitet sich aus

Auch die Migration selbst verändert sich. Einem im politischen und medialen Diskurs gängigen Denkmuster zufolge, das die Realität freilich schon jetzt nur unvollständig beschreibt, ist Flucht die Reaktion auf eine singuläre Situation, welche eine räumlich-zeitlich eingrenzbare Migrationsbewegung auslöst, die zu einem künftigen Zeitpunkt vergangen sein und dann eine Rückführung zumindest eines Teils der Geflüchteten in eine gleichsam wiederhergestellte Normalität zulassen werde.

Der vielzitierte Satz „Wir schaffen das“ der deutschen Kanzlerin Angela Merkel speiste sich aus der Gewissheit, über ein solches Instrumentarium zu verfügen und mit seiner Hilfe die damals akute Flucht vor dem Syrien-Krieg und anderen Konflikten innenpolitisch ‚bewältigen‘ zu können. Die Flucht auslösende Situation ist in dieser Vorstellung prinzipiell reversibel. Dies ist mit Blick auf den Klimawandel von fundamentaler Bedeutung, denn die durch ihn bewirkte Migration ist eine Migration aufgrund und im Rahmen eines sukzessive fortschreitenden und über lange Zeiträume wirksamen, also kontinuierlichen Prozesses, dessen Irreversibilität in vielen Fällen keine Rückkehr in den status quo ante, in den Zustand vor der Migration, mehr zulassen wird.

Die europäische Migrations- und Asylpolitik basiert auf Vorstellungen und Verfahren, die zwischen legitimen/legalen und illegitimen/illegalen Gründen und Formen der Flucht/Migration unterscheiden und auf dieser Basis regulieren, welche Personen ein Bleiberecht erhalten, welchen ein Bleiberecht verweigert wird und wie mit denjenigen verfahren werden soll, deren Aufenthalt zwar unerwünscht oder unerlaubt ist, ohne dass sie jedoch abgeschoben werden können, die also trotzdem da sind. Dieses lediglich ‚geduldete‘ oder gänzlich ‚illegale‘ Dasein findet nicht selten über Jahre oder ganze Lebensphasen hinweg in einem hochgradig prekären und ungewissen Zustand des Dazwischenseins, also im Limbus, statt. Dieser kennzeichnet daher nicht allein die Lebenssituation im Grenzraum, sondern setzt sich in das Innere Europas fort, durchzieht die europäische Gesellschaft und ist hier omnipräsent, jedoch nicht unbedingt auch sichtbar.

Durch einen fortschreitend katastrophischen Verlauf der Klimaerwärmung wird Migration daher nicht nur quantitativ zunehmen (was nicht zwangsläufig bedeutet, dass ‚sie‘ ‚alle‘ ‚zu uns‘ kommen werden oder wollen), sondern sich viel stärker als heute von eingrenzbaren Ereignissen und lösbaren Problemlagen entkoppeln. Als irreversibler Prozess wird sie zugleich selbst zu einem Erscheinungsbild des Klimawandels. Klimawandel und Migration werden in einem komplexen, ambivalenten und unauflösbaren Zusammenhang miteinander verbunden sein. Wie viele Menschen heute und in Zukunft als Klimaflüchtlinge unterwegs sind oder sein werden, ist dabei schwer prognostizierbar. Schätzungen und Szenarien gehen weit auseinander und schwanken zwischen mehreren zehn und mehreren hundert Millionen Menschen. Ebenso schwer scheint eine Prognose zu sein, ob und zu welchem Anteil sie als Binnenflüchtlinge in ihrem Staat bleiben, in die Nachbarstaaten ausweichen oder eine interkontinentale Reise antreten werden. Hinzu kommt, dass sich Klimaflucht nur vage von anderen Auslösern und Motiven einer Migration abgrenzen lässt, etwa wenn der unmittelbare Auslöser eine durch klimatische Veränderungen verstärkte Gewaltsituation ist, in der jedoch stets auch andere Motive (ideologische, ökonomische, machtpolitische, rassistische usw.) virulent sind.

So einfach es auf der einen Seite ist, die verheerenden Folgen eines Zyklons in Mozambique als Effekt des Klimawandels auszumachen, so schwer ist es auf der anderen Seite, beispielsweise den Anteil klimatischer Effekte am Genozid in Darfur, der Destabilisierung der Sahel-Staaten, dem Syrienkrieg oder dem Aufstieg des Islamischen Staates zu bestimmen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich der Klimawandel in einer Ausweitung genau solcher komplexer und ambivalenter Gemengelagen äußern wird, sodass die Grenzen zwischen den Gründen und Anlässen für Migration unscharf bleiben werden.

‚Klimaflüchtling‘ ist bislang keine im internationalen Recht fixierte Kategorie. Dies bedeutet, dass nicht nur eine große, wenn auch schwer zu beziffernde Zahl von Menschen betroffen sein wird, sondern auch, dass gerade diese Menschen nicht explizit unter dem Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention und des europäischen Flüchtlingsrechts stehen. Momentan sind Bemühungen vor allem auf der Ebene der Vereinten Nationen zu beobachten, die auf die Schaffung eines rechtlichen Rahmens für Umwelt- und Klimaflüchtlinge zielen, doch ist offen, ob dies gelingt und wieweit es tatsächlich trägt. Ohne einen rechtlichen Schutz werden Klimaflüchtlinge über lange Zeiträume, vielleicht ihr ganzes Leben lang, vielleicht über Generationen hinweg, in einem rechtlichen Limbus verbleiben und durch ihn geformt werden, denn das Fehlen eines rechtlichen Status schlägt hier unmittelbar und brutal auf die physische und psychische Ebene jeder/s Einzelnen durch. Doch kann, wie oben am Beispiel Dadaab angedeutet, auch innerhalb eines humanitären und rechtlichen Rahmens eine sehr ähnliche Situation für eine sehr große Anzahl von Menschen entstehen und verfestigt werden.

Diese limbische Existenz einer großen Zahl von Menschen außerhalb des Geltungsraumes ‚normaler‘ (Menschen-) Rechte steht im Mittelpunkt einiger der großen Werke kritischer Gesellschaftstheorie des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, etwa wenn Hannah Arendt mit Blick auf die Zwischenkriegszeit von der Verweigerung des Menschseins oder Zygmunt Bauman mit Blick auf die neoliberale Globalisierung von der Produktion der ‚Überflüssigen‘ sprechen, denen dann kein anderer Ort mehr verbleibt als der Limbus. Während Arendt die rechtliche und politische Fiktion der Nichtexistenz dieser gerade dadurch in ihrer Existenz bedrohten Menschen als eines der Elemente totaler Herrschaft begriff (mit gravierenden Folgerungen für mögliche künftige Verläufe!), ging Bauman den Prozessen nach, wie mit ihnen nach genau den Logiken verfahren wird, die der Lagerung und Entsorgung von Müll entsprechen (Bauman 2005). Auch jüngere Theoretiker_innen wie Vassilis Tsianos und Dimitris Papadoupoulos beschreiben Dehumanisierung, ja selbst Vertierung, als eines der wesentlichen Kennzeichen des Lebens und der Selbstbehauptung im Limbus. ((Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 12. Aufl., München 2008; Bauman, Zygmunt: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005; Papadoupolos, Dimitris/Tsianos, Vassilis: Die Autonomie der Migration. Die Tiere der undokumentierten Mobilität, URL: http://translate.eipcp.net/strands/02/papadoupolostsianos-strands01ene1da.html?)) Nicht zuletzt entspricht dies der vielfach formulierten Parole von Migrant_innen – We are Human! – I am not Animal! – und spiegelt sich in der Namensgebung des Solidaritätsnetzwerks Kein Mensch ist illegal!Die Existenz im Limbus ist jedoch weder passiv noch isoliert, sondern in hohem Maße aktiv und vernetzt, allerdings unter den oben umrissenen Bedingungen und immer in Reaktion auf sie. Sichtbare Zeichen hiervon sind etwa die Transformation improvisierter Flüchtlingscamps zu informellen Städten mit einem zuweilen hoch komplexen sozialen Gefüge und eigenen ökonomischen wie kulturellen Mustern, oder auch Akte der politischen Selbstermächtigung informeller Migrant_innen.

Migration stellt insofern auch einen Produktionsprozess von Techniken, Ökonomien und Wissensressourcen des Lebens und Überlebens in genau den Kontexten dar, die sich infolge des Klimawandels absehbar ausweiten werden. Der französische Anthropologe und Migrationsforscher Michel Agier verwendet in diesem Kontext den Begriff eines „banalen“ im Sinne von rauen „Kosmopolitismus“ und interpretiert diesen als eine weit fortgeschrittene Form der Globalisierung, einer Globalisierung der Außenseiter_innen und Ausgeschlossenen allerdings. ((Vgl. Agier, Michel: Borderlands. Towards an Anthropology of the Cosmopolitan Condition, Cambridge 2016, S. 6ff.)) Es greift daher zu kurz und weist in eine falsche Richtung, über die Menschen im Limbus in Kategorien der Objekthaftigkeit zu sprechen, etwa indem man sie als abzuwehrende Massen oder als zu kanalisierende Ströme abstrahiert, sie zu passiven Opfern übermächtiger (Natur-)Kräfte erklärt oder auf Gegenstände humanitärer Hilfe reduziert. Realistisch wäre hingegen zu begreifen, dass ‚sie‘ und ‚wir‘ einerseits in einem Verhältnis radikaler und existenzieller Ungleichheit zueinander stehen, sich jedoch längst autonome Lebenswelten herausgebildet haben, die ‚uns‘ nur bedingt überhaupt sichtbar, zugänglich und verständlich sind. Diese von Tsianos, Papadoupoulos und anderen Theoretiker_innen beschriebene Autonomie der Migration entzieht sich letztlich der migrationspolitischen Steuerung – sie ist das, was trotzdem stattfindet, und

es ist die Summe der Techniken, Taktiken und Solidaritäten, mit denen es geschieht. Sie ist, wenn man so will, die positive Dimension des Limbus.

Die vielleicht zentrale politische Forderung, die ‚uns‘ aus dem Limbus entgegengebracht wird, ist die Forderung nach Menschsein: I am human – I am not Animal! So selbstverständlich es ‚uns‘ erscheint, nicht entmenschlicht zu existieren, sowenig gilt dies im Limbus. Dies bedeutet aber, dass zwei Dinge die notwendige Voraussetzung für die Herausbildung eines zivilgesellschaftlichen und solidarischen Handlungsfeldes in Bezug auf die Klimamigration sind: erstens die Erkenntnis des verwehrten Menschseins (auch in Europa und in seiner Grenze), zweitens das unhintergehbare Bewusstsein, dass es auch und gerade in einer künftigen Epoche fortgeschrittener Klimaerwärmung um das Menschsein aller geht.

Insofern ist die Forderung der Exilierten nach ihrem eigenen Menschsein präzise und exzeptionell. Es ist die vielleicht wichtigste politische Forderung dieses Jahrhunderts.

 

Thomas Müller, Dr. phil., ist Politikwissenschaftler, Historiker und Archivmitarbeiter in Aachen. Arbeitet zur Geschichte und Ideologie von Grenzen, Grenzregimen und Migration, bes. zum Grenzraum Calais.