Der Migrations- und Fluchtdiskurs der FAZ im Juni und Juli 2019
Von Fabian Marx*. Erschienen im DISS-Journal (39) 2020
Dass das Sagbarkeitsfeld in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) immer wieder auch Überschneidungen zu rechtspopulistischen Positionen bereitstellt, ist wohl keine steile These. Denn nicht zuletzt im Migrations- und Fluchtdiskurs zeigte sich diese Vermutung in der Vergangenheit oftmals bestätigt. In ihrem Beitrag zur Analyse des Migrations- und Fluchtdiskurses im Sommer und Herbst 2015 des DISS ((Die ganze Studie „Von der Willkommenskultur zur Notstandsstimmung. Der Fluchtdiskurs in deutschen Medien 2015 und 2016“ (herausgegeben von Margarete Jäger und Regina Wamper) ist in der Online-Bibliothek des DISS nachzulesen, unter: https://www.diss-duisburg.de/wp-content/uploads/2017/02/DISS-2017-Von-der-Will-kommenskultur-zur-Notstandsstimmung.pdf (zuletzt abgerufen am 14.05.2020).)) weist Christina Tacken auf, dass innerhalb der FAZ zahlreiche Anknüpfungspunkte für rechtspopulistische Positionen bestehen: etwa durch das Motiv der „Flüchtlingskrise“, den Aufbau einer „Wir-Die-Dichotomie“ oder durch die Befürwortung einer immer restriktiveren Asylpolitik (vgl. Tacken 2017, 82). Das ist als Grund genug, sich auch in einem aktuelleren Untersuchungszeitraum auf die Suche nach diesen markanten Motiven zu machen und, falls sie nicht auftauchen, etwaige Diskontinuitäten und Auffälligkeiten aufzudecken und zu benennen.
Deshalb arbeitet ein Team aus Praktikant*innen und Mitarbeiter*innen des DISS derzeit an einer kleineren Anschlussstudie. Diese dient zugleich als Vorarbeit für die Konzeption von Workshops zum Fluchtdiskurs in deutschen Medien, was die Rosa-Luxemburg-Stiftung – Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e.V. dankenswerterweise unterstützt. Als Untersuchungszeitraum bot sich der Juni und Juli 2019 an, stießen doch die Ereignisse rund um die Seenotrettung im Allgemeinen und den Fall Carola Rackete im Speziellen auf eine erhebliche mediale Resonanz. Dabei wird der Migrations- und Fluchtdiskurs nicht nur in der FAZ, sondern auch in der taz (Anna-Maria Mayer) und der SZ (Christian Sydow) strukturanalytisch verfolgt. Ergänzend werden durch Feinanalysen von Judith Friede, Milan Slat und Benno Nothardt verschiedene Motive, Aspekte und Teilausschnitte des Diskurses genauer in den Blick genommen.
Ich werde mich in diesem Artikel auf die Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse der Strukturanalyse der Aussagen in den Kommentaren der FAZ vom 29.06.2019 bis zum 31.07.2019 beschränken. Bemerkenswert ist an dieser Stelle schon die Eingrenzung des Untersuchungszeitraumes, die vorgenommen werden musste. Denn vor dem 29.06.2019 fand das Thema „Seenotrettung“ in den Kommentaren der FAZ keine Erwähnung. Genau zu diesem Zeitpunkt fährt Carola Rackete trotz Verbots mit ihrem Seenotrettungsschiff „Sea-Watch 3“ in den Hafen von Lampedusa ein und wird wegen des Vorwurfs der Beihilfe zur illegalen Einreise unter Hausarrest gestellt. Das Thema wird also erst dann für die FAZ kommentarbedürftig, als italienisches Recht verletzt wird. Vorher schien es vielleicht noch nicht ausreichend streitbar. Die FAZ hatte das Thema außerhalb der Kommentare jedenfalls schon vorher aufgenommen, unter anderem in der zehnteiligen Reportage „Logbuch der Alan Kurdi“ (24.6. – 9.7.2019).
Die prägnanteste Aussage in den untersuchten Kommentaren ist sicherlich die Aussage Migration als Last/Leid der Aufnahmebevölkerung. Migration wird vor allem im Hinblick auf die damit verbundenen „Probleme“ für die Aufnahmebevölkerung betrachtet. In diesem Verständnis ist Migration in ihrem Wesenskern zunächst ein ungeregeltes Phänomen, das zwangsläufig zu administrativen Problemen führt oder sogar die Gefahr birgt, die Aufnahmestaaten zu überwältigen. Die Aussage wird dabei auch kollektivsymbolisch aufgeladen – etwa durch das weitverbreitete Bild einer „unkontrollierten Flüchtlingswelle“ (z.B. in: Göbel, 29.06.2019). Das alles mag zunächst wenig überraschen. Doch auf den zweiten Blick zeigen sich dann auch einige Besonderheiten bei dieser Aussage. Als Beispiel kann hier eine Textpassage aus einem Kommentar von Philip Eppelsheim dienen. Er schreibt zur Seenotrettung:
„Es gibt in dieser Frage keine Lösung ohne Opfer. Entweder nimmt man in Kauf, dass Menschen ertrinken oder dass sie in Lager gesperrt werden, und hofft auf den abschreckenden Effekt. Oder Europa öffnet sich komplett – mit all den Folgen, die das hätte; die Flüchtlingskrise hat diese Folgen nur angedeutet. Das ist die Wahl, die wir haben. Keiner der beiden Wege fällt leicht. Aber mit einem müssen wir leben.“ (Eppelsheim, 05.07.2019)
Das Leid der Geflüchteten wird hier mit der angeblichen Last der Aufnahmestaaten wie auf einer Waage ins Verhältnis gesetzt. Dabei muss es nicht – wie in diesem Zitat – bei einer Gleichsetzung bleiben. Rainer Hermann etwa geht noch einen Schritt weiter, wenn er im Kontext des Bürgerkrieges in Libyen davon spricht, das s es letztlich Europa sei, „das die Folgen des Kriegs zu tragen hat“ (Hermann, 04.07.2019).
Was hier augenscheinlich betrieben wird, ist eine starke Denormalisierung durch Migration. Die Normalität der Gesellschaft wird in diesem Verständnis durch Migration gefährdet. Umso interessanter erscheint der Kontrast solcher Aussagen zu jenen Aussagen, die eher unter dem Gesichtspunkt einer fortschreitenden Renormalisierung durch Kontrolle von Migration auszudeuten sind. Migration wird hier zu einem politischen Problem unter anderen. Sie wird dabei kollektivsymbolisch zu einer „Last“, mit der man administrativ umgehen kann. Eine solche Renormalisierung lässt sich exemplarisch an der Verwendung der Aussage „gemeinsame europäische Lösung“ (in der Fluchtfrage) deutlich machen. So wird auf diese Aussage etwa derart zurückgegriffen, das eine „solidarische Lastenverteilung“ oder allgemeiner „europäische Solidarität“ in der europäischen Migrationspolitik gefordert wird. Solche Äußerungen implizieren, dass in der Migrationspolitik ein europäischer Interessenausgleich stattfinden könnte, dass Migration also prinzipiell administrativ handhabbar sei. Interessanterweise evoziert die Forderung nach „europäischer Solidarität“ gleichzeitig aber wieder eine denormalisierende Innen-Außen-Logik. Denn sie kann ja implizit sogleich die Frage aufwerfen, wogegen sich die Solidarität richten soll. Migrant*innen und Geflüchtete erscheinen dann als das störenden, äußere „Andere“, gegen das eine imaginierte europäische Einheit solidarisch gerichtet sein soll.
Folgerichtig kommt im Untersuchungszeitraum dann auch der Aussage Migration spaltet / polarisiert eine besondere Relevanz zu. Mit Migration – so das damit aufgegriffene Wissen – gehen zwangsläufig Konflikte einher, so als läge das in der Natur der Sache. Nur selten werden die Konsequenzen der angeblichen Polarisierung durch Migration konkret benannt, wie beispielsweise der Abbau des traditionellen Parteiengefüges oder gar Hasskriminalität gegen Migrant*innen und Politiker*innen, die sie verteidigen. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass folgende Fragen bei der Verwendung dieser Aussage oft unbeantwortet bleiben: Was ist überhaupt das Objekt der Spaltung? Und warum soll gerade Migration so ein Alleinstellungsmerkmal als Spaltungsfaktor haben? Die Polarisierungsaussage imaginiert daher – wenn sie die Objekte der Polarisierung im Unklaren lässt – latent eine angeblich ursprüngliche Einheit, von der aus dann die Migration als Störfaktor und als anormal ausgewiesen werden kann.
Auffällig ist auch die Verwendung der Aussage Seenotrettung als moralisches / menschenrechtliches / christliches Gebot innerhalb des Untersuchungszeitraumes. So wird die Seenotrettung einerseits regelmäßig als menschenrechtliches oder moralisches Gebot ausgewiesen. Dem wird oft jedoch andererseits eine (andere) Wirklichkeit des Rechts gegenübergestellt, zum Beispiel ordnungsrechtliche Vorschriften, die es eben auch zu beachten gelte. Dabei bleibt unbenannt, dass diese andere Wirklichkeit des Rechts zurückzutreten hat, wenn sie menschenrechtswidrige Konsequenzen zur Folge hat. Es wird somit eine Gleichrangigkeit dieser Rechtswirklichkeiten suggeriert. Auch in diesem Punkt zeigt sich damit eine gewisse Uneindeutigkeit des Diskurses in der FAZ oder eine Art „Sowohl-als-Auch“-Logik.
Diese uneindeutige „Sowohl-als-Auch“-Logik ist dann auch wohl eines der bestimmenden Merkmale im Diskurs der FAZ. Sie könnte für einen Trend der fortschreitenden Normalisierung von Migration und Flucht stehen. Doch ist bei einer solchen Schlussfolgerung diskursanalytisch Vorsicht geboten: Wie sich eben auch gezeigt hat, wird in der FAZ mit dem Thema Migration und Flucht weiterhin eine starke Denormalisierung betrieben. Die neue Normalität ist fragil. Normalisierung und Renormalisierung müssen dabei auch keinen humanen Fortschritt bedeuten, sondern können ebenso ein diskursives „New Normal“ restriktiver Migrationspolitik anzeigen.
Vergleicht man schließlich das Analysierte mit dem Migrations- und Fluchtdiskurs in der FAZ in den Monaten August bis November 2015, als die Einwanderung vergleichsweise vieler Flüchtlinge über die Balkanroute eine erhebliche mediale Resonanz erfuhr und sich das Sagbarkeitsfeld der FAZ derart verengte, dass „Vorstellungen einer Einschränkung oder gar Abschaffung des Asylrechts […] zur Geltung gebracht” (Tacken 2017, 82) werden konnten, zeigt das Sagbarkeitsfeld nun eine größere Breite. Diese Breite ist, wie oben bereits herausgestellt, vor allem dann erkennbar, wenn eine administrative Handhabbarkeit des „Migrationsproblems” behauptet und nicht eine „Notstandsstimmung” imaginiert wird. Und dennoch überwiegen die Ähnlichkeiten. So wird auch hier, einmal offensichtlich, ein andermal eher subtil, eine „Wir-Die-Dichotomie“ aufgebaut, die zwangsläufig mit einer „Thematisierung der Fluchtbewegung zumeist aus Perspektive der Mehrheitsgesellschaft” (ebd.) einhergeht. Das nun breitere Sagbarkeitsfeld konzentriert sich im Ergebnis damit nach wie vor bei der Befürwortung einer restriktiven Migrationspolitik.
*Fabian Marx studiert „Politik und Recht“ an der WWU Münster, war Praktikant im DISS und hat in seiner Bachelorarbeit die Machtbegriffe von Hannah Arendt und Michel Foucault verglichen.