Michael Heinrichs erster Band seiner Karl-Marx-Biografie
Eine Rezension von Wolfgang Kastrup. Erschienen in DISS-Journal 36 (2018)
Der erste Band dieser über drei Bände angelegten Biographie und Werkentwicklung über Karl Marx von Michael Heinrich ist im Frühjahr dieses Jahres erschienen. Heinrich, ein profunder Marx-Kenner, ist vor allem durch seine mittlerweile in 14. Auflage erschienene „Kritik der politischen Ökonomie“, durch seine beiden Bände „Wie das Marxsche ‚Kapital‘ lesen?“ und durch sein Werk „Die Wissenschaft vom Wert“ (7.Aufl.) bekannt geworden. Der vorliegende erste Band der Biografie behandelt den Zeitraum von 1818 bis 1841, also von der Geburt bis zu Marx‘ Promotion an der Universität in Jena – ein Zeitabschnitt der Kindheit und der Schulzeit in Trier und des Studiums in Bonn und Berlin. Diese ganz frühe Phase in seinem Leben ist bisher nur wenig beachtet worden, da die Zeit der Früh- und Spätschriften von Marx immer im Mittelpunkt stand und steht.
Michael Heinrich beginnt mit seinem Buch, dem später zwei weitere Bände folgen werden, einen besonderen Weg: Er legt nicht nur eine Biographie von Marx vor, von denen es ja zu seinem 200. Geburtstag genügend gibt, sondern verknüpft Biographie und Werkentwicklung. Auch wenn durch den gewählten Zeitabschnitt bis 1841 in dem vorliegenden Buch die Marxschen Früh- und Spätschriften noch keine Rolle spielen und bis dahin nur die Abiturarbeiten, Gedichte und die nicht vollständig überlieferte Dissertation vorliegen, so ist es wichtig, die jeweiligen Lebensbedingungen umfassend darzustellen, um die sozialen, emotionalen und kognitiven Verarbeitungsprozesse zu erahnen. (Vgl. 373)
So steht zunächst die inhaltliche Auseinandersetzung mit der damaligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation in Preußen im Mittelpunkt, mit dem Jura- und Philosophie-Studium Marx‘ in Bonn und Berlin, mit dem dortigen universitären Umfeld und dessen Einwirkungen auf den jungen Studenten – es geht um den familiären Einfluss und um den seines Freundeskreises. Auch Marx erste Versuche des Dichtens werden erwähnt, ebenso seine Freundschaft und Verlobung mit Jenny von Westphalen und die Verbindung zu deren Elternhaus.
Diskriminierung der Juden in Preußen
So erfahren wir, dass die rechtlichen Verhältnisse für das Rheinland als neue preußische Provinz auch die jüdische Familie Marx in Trier betrafen: Juden durften nicht im Staatsdienst arbeiten und auch die Arbeit als Rechtsanwalt galt als Teil des Staatsdienstes. Heinrich Marx, der Vater von Karl Marx, war ein angesehener Rechtsanwalt und so in seiner beruflichen Arbeit bedroht. Er zog daraus die Konsequenz und konvertierte mit seiner Familie zum protestantischen Glauben. Karl Marx war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt. Ein Schritt, der für Heinrich Marx nicht so gravierend gewesen sein kann, da er keine intensive Bindung an den jüdischen Glauben hatte, obwohl in der Familie von Heinrich Marx als auch seiner Frau Henriette einige Vorfahren Rabbiner waren. (Vgl. 75f.)
Es gebe, so Heinrich, keine Hinweise, dass in der Familie Marx jüdische Feiertage besonders gefeiert wurden oder die Erziehung der Kinder jüdisch geprägt war. (Vgl. 128) Viele Juden waren, um ihren Beruf ausüben zu können, zur christlichen Taufe genötigt. Weshalb die Familie Marx im katholischen Trier ausgerechnet zum Protestantismus übertrat, erklärt sich für Michael Heinrich aus der rationalistischen und aufklärerischen Haltung von Heinrich Marx, die zur entsprechenden Ausrichtung des Protestantismus eher passte. (Vgl. 76)
Die Kindheit und Schulzeit von Karl Marx in Trier verlief „recht unbeschwert“ und er wuchs „in relativ wohlhabenden, bildungsbürgerlichen Verhältnissen auf.“ (125) Die schriftlichen Abiturprüfungen 1835 am Gymnasium in Trier lassen keine besonderen Rückschlüsse zu, außer dass im Abituraufsatz des jungen Marx „deutliche Hinweise […] für aufklärerisch-humanistische Einflüsse“ zu erkennen seien. Verantwortlich dafür seien die Einstellungen des Vaters, des väterlichen Freundes Ludwig von Westfalen und die mehrerer Lehrer am Gymnasium, „so dass sie sich wechselseitig verstärkt haben dürften.“ (129)
Hegels Romantik- Kritik
Im Wintersemester 1835/36 begann der 17-Jährige mit einem Jurastudium in Bonn, wahrscheinlich auf Wunsch seines Vaters, der auf einer soliden Ausbildung bestand. Marx‘ Interessen bezogen sich allerdings mehr auf die Schriftstellerei. Er verfasste Gedichte, einen Roman und ein Drama, was auch zu erheblichen Auseinandersetzungen mit dem Vater führte, dem der Studienverlauf seines Sohnes missfiel. (Vgl.138) In den Gedichten, von denen Michael Heinrich einige aus der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) zitiert, geht es häufig um die Liebe zu seiner Verlobten Jenny von Westfalen und zugleich um die Angst, sie zu verlieren. (Vgl. 203)
Ein Jahr später wechselte der junge Marx die Universität und schrieb sich 1837 in Berlin ein. Seine dichterischen Versuche gab er 1837 auf, die er selbst als „rein idealistisch“ kritisierte, was nach Heinrich auf eine „beklagte Wirklichkeitsferne“ zurückzuführen sei. (Vgl. 211) Zugleich teilt er in einem Brief an den Vater mit, „dass er sich der Hegelschen Philosophie angeschlossen habe.“ (209) Heinrich widerspricht hier der gängigen Meinung, dass hierfür der Einfluss von Eduard Gans, Hegelianer und Professor für Rechtswissenschaft in Berlin, maßgeblich gewesen sei, da Marx bei ihm u.a. studierte. Einen Einfluss streitet Heinrich nicht ab, aber dies erst, nachdem sich Marx der Hegelschen Philosophie zugewandt hätte.
Hegels Werk über die „Ästhetik“ und die dort formulierte Kritik gegenüber der romantischen Kunst hätten einen wesentlichen Einfluss auf das Denken von Marx gehabt. Wenn Marx den eigenen Dichtungen „Idealismus“ vorwerfe, also „die Konfrontation der Wirklichkeit mit einem abstrakten Sollen“, so wiederholt er nach Heinrich „einen zentralen Punkt der Kritik, die Hegel gegenüber der romantischen Kunst formuliert hatte.“ (214) Marx habe sich an der Hegelschen Philosophie abgearbeitet und sei durch „Hegels Romantik-Kritik erschüttert worden.“ (220)
„Verwilderung im gelehrten Schlafrock“
In dieser Zeit habe es immer wieder Auseinandersetzungen mit seinem Vater gegeben, der seinen Sohn an seine Verpflichtungen gegenüber den Eltern, gegenüber seiner Verlobten Jenny von Westfalen und deren Eltern erinnerte. Diese Kritik habe sich auf sein Studium, seinen Lebensstil und die hohen Geldausgaben bezogen.
Heinrich zitiert hier aus einem Brief des Vaters an seinen Sohn die folgende Passage, die voll bitterer Ironie ist: „Als wären wir Goldmännchen, verfügt der Herr Sohn in einem Jahre für beynahe 700 Taler gegen alle Abrede, gegen alle Gebräuche, während die Reichsten keine 500 ausgeben. Und warum? Ich lasse ihm Gerechtigkeit widerfahren, daß er kein Verschwender ist. Aber wie kann ein Mann, der alle 8 oder 14 Tage neue Systeme erfinden, und die alten mühsam erwirkten Arbeiten zerreißen muß, wie kann der, frage ich, sich mit Kleinigkeiten abgeben? Wie kann der sich der kleinlichen Ordnung fügen.“ Er spricht auch in seinem Brief vorwurfsvoll von der „Verwilderung im gelehrten Schlafrock.“ (229f.)
Auch seine Verlobte Jenny erhob in ihrem Brief an Karl Marx ähnliche Vorwürfe. Durch diese Briefe fühlte sich Marx „tief gekränkt und erschüttert“. Er versuchte durch eine Vielzahl von langen Briefen an seine Eltern und an seine Verlobte die von ihm verursachten Verletzungen „zu heilen“, was ihm auch einigermaßen zu gelingen schien. (Vgl. 232) Der Tod des Vaters 1838 sei ein wichtiger Einschnitt im Leben des jungen Marx gewesen. Dessen Autorität habe er immer respektiert und der Vater sei für ihn eine „starke Stütze“ gewesen, trotz dessen Ermahnungen. (Vgl. 233f.)
Kritik am Rechts-Links- Hegelianismus
Heinrich analysiert Hegels Religionsphilosophie und die damit verbundenen heftigen Kontroversen sehr genau und geht dabei auf David Friedrich Strauß, Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach ein, alle Schüler von Hegel und radikale Religionskritiker. (Vgl. 279) Heinrich bezweifelt aber die von Strauß vorgenommene Einteilung der Hegelschen Schule in rechte und linke bzw. die üblich gewordene Unterscheidung in „Althegelianer“ (konservativ) und „Junghegelianer“ (links und progressiv). Üblich geworden sei es ebenfalls, Marx und Engels eine „junghegelianische“ Phase zuzusprechen. Eine inhaltliche Unterscheidung sei aber „nur auf einer sehr allgemeinen Ebene“ möglich und eine personelle Abgrenzung bleibe ohne Konsens.
Deshalb bezweifelt Heinrich überhaupt die Sinnhaftigkeit einer solchen Einteilung. Damit wendet er sich auch gegen die Auffassung von Friedrich Engels, der die Rechts/Links-Unterteilung der Hegelschen Schule an den unterschiedlichen Positionen zum System (Gebiete Religion und Politik) und zur dialektischen Methode ausmachte. Erstere konnten ziemlich konservativ sein, letztere ziemlich progressiv. Viele marxistische Beiträge hätten sich auf diese Einteilung von Engels bezogen. Heinrich bezweifelt aber demgegenüber, dass man eine solche klare Trennung zwischen Methode und System bei Hegel vornehmen könne. (Vgl. 305)
Der engste Freund von Marx sei in dieser Zeit Bruno Bauer (1809-1882), Theologe und Philosoph, gewesen. Beide hätte ein scharfer Verstand verbunden und sie seien in der Lage gewesen, innerhalb kurzer Zeit ein gewaltiges Lesepensum zu absolvieren. Intellektuelle und politische Entwicklungen seien genau verfolgt worden, ebenso die Konsequenzen für das eigene Denken. Besonders den letzten Aspekt habe der junge Marx an Bauer geschätzt. (Vgl. 328)
Aber nicht Bauer habe Marx, sondern umgekehrt, Marx habe Bauer in der Zeit 1838/1839 zum Atheismus geführt oder zumindest ihn auf den Weg dahin gebracht. (Vgl. 329f.) Bauer habe Marx darin bestärkt schnell zu promovieren, um anschließend in Bonn zu habilitieren und gemeinsam zu lehren. Ziel sei gewesen, der „theologischen und politischen Reaktion die Stirn“ zu bieten. Auch eine gemeinsame Zeitschrift sei geplant gewesen. (Vgl. 327) Nichts ist hier von der späteren Kritik von Marx und Engels gegenüber Bauer zu spüren, die beide dann in der „Heiligen Familie“ und in der „Deutschen Ideologie“ deutlich machten.
Dissertationsschrift
Marx Dissertationsschrift trägt den Titel: „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie“. (Epikur ca. 341- ca. 271 v. Chr.; Demokrit 460-370 v. Chr.) Es gebe allerdings keine Hinweise, warum Marx dieses Thema wählte. Für Heinrich ist das Thema dennoch nicht überraschend, da für Marx Hegels Denkweise über die Geschichte der Philosophie, wie sie aus den 1833-1836 erschienenen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ hervor gehen, sehr entscheidend gewesen seien.
Dafür spricht, dass Marx in der von Heinrich zitierten Vorrede zur Dissertation von dem „bewunderungswürdig-großen und kühnen Plan“ Hegels spricht, von dem her „überhaupt erst die Geschichte der Philosophie datiert werden kann.“ (332) Nachlesen kann man dies in den Marx-Engels-Werken (MEW), Bd. 40, 261.
Wichtig für Heinrich ist hier, dass Hegel „die Geschichte der Philosophie nicht einfach als Abfolge verschiedener, mehr oder weniger willkürlicher Lehren aufgefasst“ habe, sondern versucht habe, „einen inneren Zusammenhang aufzudecken […].“ (Ebd.) Für die Auseinandersetzung mit Epikur spreche dessen dezidiert religionskritische Einstellung: „Epikur bestritt zwar nicht die Existenz der Götter, allerdings nahm er an, dass sie in ihrer eigenen Welt lebten und an der Welt der Menschen gänzlich uninteressiert seien. Menschliche Götterverehrung, Opferkulte etc. betrachtete er daher als einen üblen Aberglauben. Diese religionskritische Haltung zusammen mit der Betonung eines lustvollen (aber keineswegs, wie oft unterstellt, ausschweifenden) Lebens, macht Epikur den Religiösen und Konservativen schon im Altertum verhasst.“ (334) Marx habe die Naturphilosophie von Epikur als in den Grundzügen demokratisch betrachtet. (Ebd.)
Heinrich sieht in Marx‘ Dissertation zwei verschiedene Argumentationslinien: Einerseits eine philosophiegeschichtliche, indem er die Auffassungen von Demokrit und Epikur gegeneinanderstellt, andererseits interpretiere er Epikur mit den von Hegel stammenden Kategorien Wesen, Erscheinung und Selbstbewusstsein. Der für Marx wichtigste Unterschied der beiden Philosophen sei deren Stellung zum Determinismus.
Heinrich schreibt: „Während Demokrit die Welt von der Notwendigkeit beherrscht sieht und den Zufall als eine menschliche Fiktion abtut, bestreitet Epikur die Notwendigkeit des Geschehens und betont, dass einiges vom Zufall, anderes von unserer Willkür abhänge.“ (344) Heinrich zitiert hier Marx, wo dieser einen Ausspruch Epikurs anführt: „Es ist ein Unglück, in der Notwendigkeit zu leben, aber in der Notwendigkeit zu leben, ist keine Notwendigkeit. Offen stehen überall zur Freiheit die Wege …“ (344). Es sei das Bestreben von Marx in seiner Arbeit gewesen, Epikur, entgegen der herrschenden Lehre und auch entgegen Hegels Auffassung, „als Aufklärer zu etablieren und damit auch dessen Kritik der Religion zu rehabilitieren.“ (349)
Marx reichte seine Dissertation nicht an der Universität in Berlin ein, sondern 1841 an der Universität Jena, einer Universität, die er nie besucht hatte: Marx promovierte in Abwesenheit. Weshalb in Jena und nicht in Berlin, darüber gibt es keine Äußerungen. (Vgl. 359) Heinrich nimmt rein praktische Gründe an, da in Jena die Promotionsgebühren deutlich niedriger gewesen seien und Marx häufig in Geldnöten gewesen sei. Hinzu käme wahrscheinlich noch ein zeitlicher Grund: Marx hatte für seine Dissertation mehr Zeit als erwartet benötigt und an der Universität Berlin hätte er seine Arbeit noch ins Lateinische übersetzen müssen, da dies Voraussetzung für eine Doktorarbeit gewesen sei. Dies hätte nochmals Zeit gekostet.
Außerdem hätte man an der Universität Jena, wie auch an anderen Universtäten, ohne mündliche Prüfung „in absentia“ promovieren können. In Berlin wäre das nicht möglich gewesen. Seine Familie und auch seine Verlobte seien zudem sehr ungeduldig geworden und Marx hätte sie nicht länger warten lassen wollen. (Vgl. 360) Im April 1841 sei sein Doktordiplom ausgestellt worden. Der Dekan der philosophischen Fakultät, Carl Friedrich Bachmann, hätte seinen Fakultätskollegen gegenüber Marx als „sehr würdigen Candidaten“ beschrieben, der „Geist“, „Scharfsinn“ und „Belesenheit“ zeige und den er für „vorzüglich würdig“ halte. (Vgl. 361)
Michael Heinrich macht deutlich, dass die jahrelange Arbeit an diesem Buchprojekt sein Bild von der Person Karl Marx und das seines Werkes verändert habe, und dieser Forschungsprozess sei noch lange nicht abgeschlossen. (Vgl. 10) Anlässlich der Erinnerung an Marx‘ 200. Geburtstag, in den Festreden und in der medialen Präsens mit ihren Fehlurteilen und Missverständnissen sei immer wieder die These aufgetaucht: Aber eigentlich ist doch seine Theorie tot! Heinrich antwortet darauf: „Doch sind gerade diese vielfach wiederholten Bekundungen die sichersten Indizien ihres Gegenteils: Wäre Marx wissenschaftlich und politisch wirklich so tot, bräuchte man nicht immer wieder von Neuem sein Ableben zu beschwören.“ (16)
Hinsichtlich seiner Methodik zur Marx-Biographie setzt sich Heinrich deutlich von den „belletristischen Formen biographischen Schreibens“ ab, da es ihm um „wissenschaftliche Biographien“ gehe. (364)
Die Verbindung von Biografie und Werkentwicklung ist das Besondere an dem Buchprojekt von Michael Heinrich, das es in der Tat erlaubt, die wissenschaftliche und politisch herausragende Bedeutung Marx‘ im Zusammenhang zu verstehen. Dieses methodische Ziel hat der Autor in jeder Hinsicht erreicht, so dass man den 2. Band, der für 2020 geplant ist und in dem die Werkentwicklung Marx‘, u.a. seine Arbeit als Redakteur der „Rheinischen Zeitung“ und die Frühschriften im Mittelpunkt stehen werden, mit Spannung erwarten kann.
Michael Heinrich
Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft
Biografie und Werkentwicklung
Band I: 1818-1841
Stuttgart: Schmetterling Verlag 2018
422 Seiten, 29,80 Euro.