Unsichere Lebenslagen, Unsicherheitsbewältigung

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…und Einstellung zu den Zuwanderungen nach Deutschland
von Peter Höhmann, erschienen in DISS-Journal 35 (2018)

Einstellungen der Wohnbevölkerung zu den Zuwanderungen in die Bundesrepublik werden in der öffentlichen Diskussion sehr unterschiedlich bewertet und zuweilen dramatisiert.

Im Blick steht dabei in der Regel weniger die Auseinandersetzung mit den strukturellen Wandlungsvorgängen, die die sehr verschiedenen Entwicklungen ausgelöst haben, sondern eine kontroverse Debatte über einzelne aktuelle Erscheinungsformen. Dies gilt in besonderem Maße für die Flüchtlingsbewegungen aus den Kriegs- und ökonomisch erzeugten Krisengebieten.

Die Rahmenbedingungen dieser Entwicklungen konnten kaum nachhaltig die Einstellungen in öffentlichen Debatten prägen. Vielmehr lösten die auch politisch geschürten Ängste eher ein unbestimmtes Gefühl der kollektiven Überforderung  aus und konnten so als wesentlicher Verstärker wirken.

In diesem Beitrag will ich besonders darauf eingehen, in welchen Formen Unsicherheit – verstanden als subjektive Vorstellung, die sich auf den vertrauten, aber gefährdeten Umgang mit anderen bezieht – und ein darüber ausgelöster Schließungsvorgang gegenüber Zuwanderern miteinander verbunden ist. Die empirische Grundlage der folgenden Ausführungen bezieht sich auf eine Sekundäranalyse der Erhebungen des European Social Surveys (Version ESS8e01). Hierzu wurden Daten aus dem Jahr 2016 ausgewertet.

Verweisen will ich zunächst auf die insgesamt recht gut dokumentierte durchgehende Zunahme unsicherer Lebenslagen. Im Datensatz des ESS stieg das Unsicherheitsgefühl unter den Befragten, die ihr Haushaltsbudget als „kom fortabel“ beurteilten, zwischen 2006 und 2016 von 37,3% auf 47,1%. Bei Befragte, die angaben, „zurecht zu kommen“, stieg dieses Gefühl der Unsicherheit von 47,9% auf 62,1%. In der Gruppe, die ihre wirtschaftliche Lage als „schwierig“ bezeichneten, stieg der Wert von 58,5% auf 82,8%. Ganz deutlich wird so eine Konzentration von Unsicherheit in einer Gruppe, die materiell besonderen Belastungen ausgesetzt ist. Die so wahrgenommene unsichere Lebenssituation berührt den selbstverständlichen Alltag einer Person in verschiedener Weise und wirkt uneinheitlich auf die Gestaltungsanforderungen der Person ein. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang Formen sozialer Schließung, die sich besonders, wie bei den Zuwanderungen, gegen Außenstehende richten. Die Geltungsnorm, einen Fremden aufzunehmen, steht allerdings nicht durchgehend im Vordergrund.

Gleichwohl ist davon auszugehen, dass eine personell unsichere Lage und Distanz gegenüber Zuwanderungen miteinander verbunden sind.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen, die Schließungsformen besonders bei Personen in prekären Einkommensverhältnissen ausmachen will, prüfe ich im Folgenden zusätzlich die Einstellungen in den Gruppen, die ihre Haushaltslage als „komfortabel“, als ein „Zurechtkommen“ oder als „schwierig“ beurteilen. In den drei Gruppen vergleiche ich jeweils die Antworten der Befragten, die ihre Lage in „starkem“ sowie in „geringem“ Umfang als unsicher ansehen. Der Datensatz der ESS des Jahres 2016 enthält unterschiedliche Fragen über die Akzeptanz von Zuwanderungen in die Bundesrepublik. Ich beziehe mich jedoch nur auf die Einstellung gegenüber einer Personengruppe, die größere sozio-kulturelle Unterschiede zu der hier bereits lebenden Bevölkerung („immigrants from poorer countries outside Europe“) ((Das Ausmaß der Abschottung gegenüber dieser Gruppe korrespondiert mit den Einstellungen gegenüber Asylbewerberinnen und –bewer bern aus vergleichbaren Erhebungen. Hinzuweisen ist in beiden Fällen darauf, dass die distanzierte Haltung, diese Gruppen aufzunehmen, in den letzten 10 Jahren zuvor deutlich rückläufig war. )) aufweist. Die Angaben dazu wurden unter den Kategorien „viele“, „einige“ sowie „wenige“ und „keine“ vercodet.

Für die Frage nach dem Umfang, zu dem diese Gruppe in die BRD kommen und dort leben kann, zeigt die Auswertung von Tab.1 ganz durchgehend stärkere Schließungsformen unter den Personen an, die über ein stärkeres Gefühl der Unsicherheit berichten. Die Bereitschaft, Zuwanderungen aufzunehmen, ist unter Befragten, die für sich eine prekäre Haushaltslage angeben, geringer als in den übrigen Gruppen. In einer komfortablen wirtschaftlichen Lage wollen auch bei einem starken Gefühl der Unsicherheit 35,1% nur wenige oder keine Zuwanderungen akzeptieren, bei Personen in einer schwierigeren Lage steigt dieser Wert auf 56,6% an. Umgekehrt ist jedoch die Bereitschaft, eine größere Zahl an Zuwanderungen aufzunehmen, in einer eher als sicher angesehenen Situation vergleichsweise hoch. Die Unterschiede zwischen den einzelnen ökonomischen Lagen fallen so kaum ins Gewicht. Mit Blick auf die auftretenden Unterschiede wird öffentlich vorwiegend auf die besondere Konkurrenzsituation verwiesen, denen vor allem untere Einkommensgruppen ausgesetzt sind. Diese Interpretation ist jedoch ergänzungsbedürftig. Sie vernachlässigt bestehende soziale oder kulturelle Ausgleichsmechanismen, wie Strategien der Vereinbarung oder des rituellen Präsentierens, die eng an die Flexibilität und funktionale Autonomie der Person gebunden sind. Diese treten regelmäßig zugleich als individuelle Reaktion im Umgang mit Unsicherheit auf. ((Vgl. zur theoretischen Herleitung und zum Bezug zu unsicheren Lagen besonders Gouldner 1967. Eine typische Reaktion ist in diesem Zusammenhang die Bekundung, den Vertriebenen/Flüchtlingen bekämen alle Wohltaten, nicht aber die eigenen Leute. )) Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass besonders unsichere Personen, die sich eine nur geringe Flexibilität zuschreiben, besonders kritisch gegen eine Zuwanderung eingestellt sind. ((Die Erhebung hat hierzu Aussagen über ein eindeutiges Regelverständnis sowie das Erfordernis eines situationsunabhängig richtigen Verhaltens erhoben. Die Angaben bilden hier das Maß für „Flexibilität“.))

Der in der Darstellung sichtbare Zusammenhang ist mit einer weiteren Konsequenz verbunden. Nach den Befunden schreiben sich Personen mit geringer Rollenflexibilität eher eine rechte, mit hoher eher eine linke politische Orientierung zu. ((Grundlage ist hierfür die Einstufung auf einer Zehn-Punkte-Skala. Als eher links bezeichneten sich 20,6% der Befragten mit geringer, aber 43,3% mit hoher Rollenflexibilität. )) Von diesem mit der ökonomischen Lebenssituation allenfalls locker verbundenem Gesinnungszug ((Die Korrelation zwischen der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage und der politischen Einstufung auf einer Rechts-Links-Skala liegt bei Φ=0,03. Die Korrelation mit der jeweils angegebenen Einkommenshöhe bei Φ=0,05.)) geht ein eigener Effekt auf die Abschottung und die Akzeptanz von Zuwanderungen aus. (Tab. 3)

Nicht unerwartet sind Personen, die sich als politisch rechts einstufen, kaum oder gar nicht bereit, eine Zuwanderung von Personen aus ärmeren Ländern außerhalb Europas zuzulassen. 47,9% der Befragtengruppe geben diese Antwort an, verglichen mit 19,5% der Befragten, die sich als eher links einstufen.

Mir ging es in diesem Beitrag besonders darum, auf das Zusammenspiel ökonomischer und sozio-kultureller Auslösefaktoren hinzuweisen. Beide Faktoren prägen zusammen die Einstellung gegenüber den Zuwanderungen in die Bundesrepublik und bilden die Basis für eine Dramatisierung der politischen Lage. Gerade die Unterschiedlichkeit der Bedingungen, die Handlungsmöglichkeiten verschließen oder eröffnen, formt eine Bühne, die Zuwanderungen für verschiedene Bevölkerungsgruppen als Quelle zunehmender Verunsicherung und zugleich als exemplarischen Fall einer politisch instrumentalisierten Lagebeschreibung – Zygmunt Baumann spricht von „Migrationspanik“ (Baumann 2017) – ausmachen kann. Ein solcher Missbrauch zeigt sich sehr deutlich in einer parteilichen Veröffentlichung der Zeitung Die Welt, in der es heißt: „Es beunruhigt Bürger völlig zu Recht, wenn sie den Eindruck haben, dass wir die Kontrolle über unsere Grenzen verlieren, Recht nicht umgesetzt wird, wenn durch Terrordrohungen, rechtsextreme wie linksextreme Randale, ethnische Gruppen oder religiöser Fanatismus die öffentliche Ordnung gefährdet wird.“ Das Bekenntnis zur Nation gilt hier als Voraussetzung, eine krisenhafte Situation aufzulösen. Denn: „Ohne einen attraktiven, gewinnenden Patriotismus wird es nicht gehen.“ (Aigner, Ilse/Linnemann, Carsten/Mohring, Mike: Was hält Deutschland in Zukunft zusammen, in: Die Welt v. 06.09.2015)

Literatur

Baumann, Zygmunt 2017: Die Angst vor den Anderen, Berlin.

Gouldner, Alvin 1967: Reziprozität und Autonomie in der funktionalen Theorie [zuerst 1959], in: Hartmann, Heinz (Hg.), Moderne Amerikanische Soziologie, Stuttgart, S. 293-309.