Eine Rezension von Maren Wenzel. Erschienen in DISS-Journal 31 (2016)
Wie beeinflussen und verändern Menschen, die nach Europa geflohen sind, die Räume, in denen sie ankommen? Die Studie Mobile Commons, Migrant Digitalies and the Right to the City wirft einen Blick auf soziale Bewegungen, die im Dreieck der Ankunftsstädte Athen, Nikosia und Istanbul entstanden sind. Die Studie verbindet anschaulich das geteilte Gemeinwissen zwischen den Migrant*innen mit den Möglichkeiten der digitalen Medien und schließlich mit Lefebvres Konzept von Recht auf Stadt. Feldstudien, komparative Teile und theoretische Überlegungen wechseln sich ab und legen den Finger auf Potenziale, die laut der Studie die Forderung nach einem Recht auf Stadt, auch in Zeiten der Austeritätspolitik, erneuern und bestärken könnten.
Die Studie beginnt mit zwei radikalen und richtigen Absagen an die Konzepte der Staatsbürger*innenschaft und der Integration. Staatsbürger*innenschaft ohne Ausgrenzung ist nach den Autoren nicht möglich, denn wenn man alle einschließe und allen Rechte zuweise, werde sie irrelevant. Staatsbürger*innenschaft für alle sei also ein unmöglicher Zustand. In anderen Worten: Nur in einer Gesellschaft ohne Grenzen wäre es möglich, dass alle die gleichen Rechte haben. Außerdem müsse die Integrationsfrage radikal rekonzeptualisiert werden. Denn Widerstand und Alternativen zu dominanten Logiken erforderten oft nunmal radikale Ablehnung. Dennoch lassen die Autoren die Debatten um Staatsbürger*innenschaft und Integration hinter sich und nehmen die Sozialitäten, Subjektivitäten und Politiken in den Blick, die durch migrantische soziale Bewegungen produziert werden.
Im Fokus der Studie stehen deshalb auch die Mobile Commons (dt. Mobile Gemeingüter), womit die Autoren solidarisch geteiltes Wissen, Kooperation, gegenseitige Unterstützung und Fürsorge zwischen Migrant*innen meinen. Diese können sowohl digital als auch in direkter mündlicher Weitergabe kommuniziert werden und umfassen etwa Tipps für Fluchtrouten oder das Erklären von Strukturen in den arrival cities (dt. Ankunftsstädten). Anhand von Beobachtungen vor Ort beschreiben die Autoren diese sozialen Gemeingüter anschaulich: Migrant*innen an Bushaltestellen in Nikosia täuschen die Polizei im Falle einer Razzia, indem diejenigen Migrant*innen mit gültigen Papieren zuerst wegrennen und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, damit die Menschen ohne gültige Papiere sich unauffällig entfernen können. An anderer Stelle wird beschrieben, wie Straßenhändler*innen und Musiker*innen in Athen kooperativ innerhalb von Sekunden eine eingespielte Inszenierung darbieten: Sobald die Polizei die Straße kontrolliert, versammeln sich Händler*innen und Kund*innen um die Musikmachenden und geben so vor, lediglich an einer spontanen Party zu Straßenmusik teilzunehmen. Sobald die Ordnungskräfte abgezogen sind, geht der Handel weiter.
Ein weiterer Schwerpunkt sind Migrant Digitalities, (dt. Migrantische Digitalitäten), also Wissensaustausch und Vernetzung über digitale Medien. Die Autoren sehen Digitalität als neue Form des Wissensaustausches und damit als treibende Kraft zur Organisation an. Dennoch würden die neuen Plattformen bis jetzt noch nicht gleichermaßen effektiv genutzt: Die direkte zwischenmenschliche Interaktion habe im Austausch zwischen den Migrant*innen immer noch eine größere Wirkung.
Wirklich spannend zu lesen ist vor allem die Verbindung zwischen der von Forscher*innen beobachteten und beschriebenen Lebensrealität von Migrant*innen in den drei untersuchten Städten mit Lefebvres Konzept vom Recht auf Stadt. Trimikliniotis, Parsanoglou und Tsianos stellen dar, wie sich Migrant*innen bereits im alltäglichen Leben öffentlichen Raum über Treffpunkte in Parks oder sichere Rückzugsräume in Stadtteilen und Kneipen zeitweise aneignen und dadurch auch gleichzeitig Akteur*innen gegen Phänomene wie Gentrifizierung werden. Mit einem Blick auf die Bewegung „Occupy Buffer Zone“, die als Teil der weltweiten Occupy-Bewegung die UN-Pufferzone zwischen den beiden Teilen Zyperns Hauptstadt Nikosia besetzte, wird auch Aktivismus gegen Grenzregime behandelt.
Insgesamt schafft es die Studie eindrucksvoll, lokale ethnografische Beobachtungen durch den Vergleich mit anderen Regionen in einen größeren Kontext zu stellen und somit eine Zustandsbeschreibung von migrantischen sozialen Bewegungen abzuliefern. Ausgehend davon werden Potenziale für eine neue Recht-auf-Stadt-Bewegung beschrieben. Vielleicht etwas vorschnell schätzen die Autoren solche Bewegungen als grundsätzlich nur kurzlebig ein. Am Ende des Buches wagen sie dennoch einen Blick in die Glaskugel: Sie fragen sich, wo diese Bewegungen hinführen werden. Interessanter wäre aber die Frage gewesen, wie man die vorhandenen Bewegungen in Zukunft konkret unterstützen könnte, um gemeinsam an einer sozialeren und selbstorganisierteren Gesellschaft zu arbeiten.
Nicos Trimikliniotis, Dimitris Parsanoglou und Vassilis S. Tsianos
Mobile Commons, Migrant Digitalities and the Right to the City
2015: Palgrave Macmillan, New York
134 Seiten, 58,95 Euro