– zu ‚jüdischer Rache‘ und ‚christlicher Liebe‘
Von Jobst Paul, erschienen in DISS-Journal 30 (2015)
In seiner Rede zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen-Belsen (vom 26.04.2015) verwendete Bundespräsident Joachim Gauck die judenfeindliche These, das Judentum als Religion von Rache und Vergeltung sei vor 2.000 Jahren vom Christentum und seiner ‚besseren Parole‘ abgelöst worden. In einem Schreiben appellierte Jobst Paul an den Bundespräsidenten, es nicht dabei zu belassen, solche Stereotypen nicht mehr zu verwenden, sondern von seinem „Amt aus kraftvoll einen Prozess anzustoßen, der die ethische Schätzung des Judentums, sein ethisches Gewicht in die Mitte unseres kulturellen Dialogs stellt“. In der Antwort des Bundespräsidialamts heißt es, dass beide Hinweise dort „respektiert“ würden.
Duisburg, den 11. Mai 2015
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
bitte, erlauben Sie mir, dass ich mich wegen einer Einzelheit in Ihrer Rede anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen vom 26. April 2015 an Sie wende.
In beeindruckender Weise haben Sie in Ihrer Rede den britischen Soldaten Dank für ihr Handeln ausgesprochen, insbesondere auch für ihr Bemühen, der Unmenschlichkeit, deren Zeugen diese Soldaten wurden, nicht ihrerseits mit Unmenschlichkeit zu begegnen. Sie zitieren dazu allerdings einen britischen Soldaten, der dies mit der Aussage begründet: „Es ist beinahe zweitausend Jahre her, seit eine bessere Parole als Auge um Auge ausgegeben wurde.“ ((Das Zitat findet sich in der Einleitung (John Pinfold) zu: Bodleian Library (Hg.) 2014: Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944: Zweisprachige Ausgabe (Englisch/Deutsch). Übersetzt von Klaus Modick. Kiepenheuer & Witsch.))
Ich bedauere die Wahl dieses Zitats zu diesem Anlass. Insbesondere hat es mich betroffen gemacht, dass Sie – wie aus dem Kontext Ihrer Rede hervor geht – diese Begründung nicht kritisch beleuchtet und ihr nicht widersprochen haben. Sie steht für die Aussage, dass das Judentum eine Rache-Religion sei und erst das Christentum vor 2.000 Jahren der Welt Nächstenliebe und Barmherzigkeit gebracht habe. Folglich könne das Judentum keine humane Ethik haben.
Damit steht nun, zumal angesichts des Anlasses in Bergen-Belsen, über ein gewiss gut gemeintes Zeitzeugnis eine zutiefst judenfeindliche, stereotype Aussage im Raum.
Ganz im Gegensatz zu der buchstäblich vernichtenden Herabsetzung, die in dieser christlichen Polemik enthalten ist, stand die Formel im Judentum selbst für die Durchsetzung der Verhältnismäßigkeit zwischen Tat und Strafe – die talmudische und rabbinische Literatur dazu ist an Sorgfalt nicht zu übertreffen.
Die ständige Wiederholung von falschen, herabsetzenden Thesen zum Judentum, die Aberkennung seiner zentralen Werte der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit, die das Christentum stets ausschließlich für sich in Anspruch nehmen wollte, hat sich durch viele Jahrhunderte gezogen. Seit Moses Mendelssohn wiesen deutsch-jüdische Autoren darauf hin, dass diese zutiefst feindselige Okkupation für den säkularen, ja kulturellen Judenhass in Deutschland verantwortlich sei.
Sie wiesen immer wieder darauf hin, in welchem Ausmaß die christlich-fundamentalistischen und völkisch-nationalistischen Ideologien, die ihre Identität hauptsächlich aus der Diskreditierung von Juden und Judentum bezogen, selbstdestruktiv und blockierend auf die Grundlagen und den Inhalt der deutschen Kultur einwirkten.
Sie appellierten während des gesamten 19. Jahrhunderts (und noch bis ins Jahr 1938) vergeblich an die Mehrheitsgesellschaft, die Diffamierung des Judentums, die sich u.a. des ,Zahn um Zahn‘-Motivs bediente, endlich zu unterlassen und sich stattdessen dem Judentum und seiner ethischen Entschiedenheit als originärer Lehre von der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit zuzuwenden. Heute wissen wir, wie recht sie hatten, und dass das, was sie ahnten, dass nämlich aus der nicht enden wollenden Diskreditierung Gewalt und Verfolgung resultieren würden, eine Wirklichkeit von unvorstellbaren Dimensionen wurde.
Es ist sehr die Frage, ob es gelungen ist, nach Jahrzehnten der Aufarbeitung und der Entwicklung einer Gedenkkultur zu Einstellungsänderungen zu kommen. Neuere Umfragen zeigen eher, dass stereotype Urteile zu Juden und Judentum unverändert und in weiten Bevölkerungskreisen zum ,normalen‘ Diskurs des Alltags gehören und jeweils zu Werturteilen und zur Konstituierung von Feindbildern herangezogen werden.
Zumindest einer der Gründe dafür liegt gewiss darin, dass der theologische, bzw. der politische Diskurs in Deutschland auf diese Stereotypen bis heute nicht verzichtet und dadurch weiterhin einen Code vorgibt, der für das gesamte judenfeindliche Wertesystem der vergangenen Jahrhunderte steht: Die Rede von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ mit ihrer paradigmatisch christlich-theologischen, ja militanten kulturellen Stoßrichtung gehört dabei zu den einflussreichsten Wendungen, die sehr häufig in politischen Reden, wie nun der Ihren, aber auch in den Medien, in Kommentaren oder etwa Rundfunk-Predigten verwendet wird.
Das Zitat des Soldaten enthält jedoch indirekt noch weitere selbstverherrlichende Aussagen zum Christentum, die Sie nicht kommentierten, so die Behauptung, die letzten beiden Jahrtausende sei die „bessere Parole“ durch das Christentum auch realisiert worden. Dies war eben nicht der Fall, wie nicht nur der Umgang mit Juden und Judentum, sondern auch die Geschichte der modernen Sklaverei unterstreicht. Zum anderen ist im Zitat die These enthalten, der Nationalsozialismus sei gegen die „bessere Parole“ des Christentums gestanden, sei also von christlichen Bindungen unabhängig gewesen. Dies ist nicht der Fall gewesen, wie wir (nicht nur) anhand der Kooperation der christlichen Kirchen mit dem NS-Regime während der NS-Zeit wissen.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident. Selbstverständlich bedauere ich, dass ich mich verpflichtet fühle, diese Zeilen in dieser Form an Sie zu richten. Es beunruhigt mich sehr, dass es notwendig ist, auf diese offenbar immer noch nicht wahrgenommene Dimension der öffentlichen Rede in Deutschland hinzuweisen, und dies anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen.
Vor diesem Hintergrund wäre es, so glaube ich, der Tiefe des Problems nicht angemessen, wenn von Ihrer Seite lediglich etwas richtig gestellt würde. Es wäre vielmehr außerordentlich verdienstvoll, wenn es gelänge, von Ihrem Amt aus kraftvoll einen Prozess anzustoßen, der die ethische Schätzung des Judentums, sein ethisches Gewicht in die Mitte unseres kulturellen Dialogs stellt.
Erst wenn dies geschieht und unsere christliche Kultur dieses jüdische Erbe – als jüdisches Erbe – als zentralen ethischen Teil der eigenen Identität ausdrücklich benennt und anerkennt, beginnt man, dem Antisemitismus den Boden zu entziehen. Dies ist heute umso wichtiger, als sich über die Verleugnung des Judentums auch im Islam ein gefährlicher Islamismus entwickelt hat.
Ich erlaube mir, Ihnen mit gleicher Post den Band Nächstenliebe und Barmherzigkeit – Schriften zur jüdischen Sozialethik zu übersenden und Sie zu bitten, Ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf den Vorworttext zu richten.
Für eine Rückäußerung von Ihnen wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
Jobst Paul
Berlin, 4. Juni 2015
Sehr geehrter Herr Dr. Paul,
Bundespräsident Joachim Gauck dankt Ihnen für Ihren Brief vom 11. Mai 2015 und das mitübersandte Buch „Nächstenliebe und Barmherzigkeit“. Er hat mich gebeten, Ihnen zu antworten.
Der Bundespräsident hat sich über Ihr intensives Interesse an seiner am 26. April 2015 in Bergen-Belsen gehaltenen Rede gefreut. Das von Ihnen wiedergegebene Zitat eines britischen Soldaten diente als Beleg für die These:
„… die britischen Soldaten waren Botschafter einer demokratischen Kultur, die nicht auf Rache am Feind bedacht war, sondern dem Recht und der Menschenwürde auch in Deutschland wieder zu neuer Geltung verhelfen sollte. Sie kamen übrigens auch mit dem ausdrücklichen Auftrag ihrer Regierung, gegenüber der besiegten Nation Fairness walten zu lassen, damit auch die Deutschen selbst zu solcher zurückfinden würden. Auf beeindruckende Weise verinnerlichten dies die britischen Soldaten.“
Vor diesem Hintergrund wird Ihr Vorwurf mangelnder Kritik, mangelnden Widerspruchs und mangelnder Kommentierung der von Ihnen so wahrgenommenen religionsspezifischen Stoßrichtung des britischen Soldatenzitats hier respektiert. Schon aufgrund seiner eigenen Lebensgeschichte und der Neutralität seines Amts liegen dem Bundespräsidenten jedoch die Verbreitung judenfeindlicher Stereotype wie auch selbstverherrlichende Aussagen zum Christentum fern. Der springende Punkt seiner These wie auch der Heranziehung des Zitats war vielmehr die Würdigung des praktischen Ergebnisses, dass die britischen Befreier seinerzeit bewusst auf Racheachte verzichteten.
Auch Ihr Eintreten für den kraftvollen Anstoß eines Prozesses, der die ethische Schätzung des Judentums und sein ethisches Gewicht in die Mitte unseres kulturellen Dialogs stellt, wird hier respektiert. Allerdings liegt dem Bundespräsidenten seit jeher ein offenes, von Zusammenhalt geprägtes gesellschaftliches Klima am Herzen. Das schließt die Unterstützung des interreligiösen Dialogs mit dem Judentum und ein solidarisches Eintreten gegen Antisemitismus ein.
Deshalb hat der Bundespräsident u. a. am 27. Januar (Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus) im Deutschen Bundestag und am 26. April 2015 in Bergen-Belsen gesprochen, um für die Bewahrung der Würde und des Lebens der Menschen einzutreten (in Bergen-Belsen entstand ferner als bewusstes öffentliches Zeichen ein gemeinsames Pressefoto mit dem Präsidenten des World Jewish Congress, Herrn Lauder). Bereits am 14. September 2014 hatte er zudem an der Kundgebung des Zentralrats der Juden in Deutschland gegen Antisemitismus teilgenommen. Am 13. Januar 2015 hat er zu den Teilnehmern der Kundgebung „Zusammen stehen – Gesicht zeigen“ gesprochen. Daran schloss sich am 21. Januar 2015 auf Einladung des Bundespräsidenten die auf Praktiker zugeschnittene Gesprächsrunde „ZusammenHALTen – Gegen Gewalt, für Dialog“ an. Mitte Mai hat der Bundespräsident im Übrigen in einem gemeinsamen Interview der „Bild“ und der israelischen Zeitung „Yedioth Ahronoth“ vor wachsendem Antisemitismus in Europa gewarnt und an die Bürger appelliert, diesem deutlich entgegenzutreten.
Damit ist der Bundespräsident mit den Mitteln seines Amtes wiederholt klar und deutlich gegen Antisemitismus bei uns und unseren Nachbarn eingetreten. Seien Sie versichert, dass er darin nicht nachlassen wird und auch weitere Zeichen zur Würdigung des interreligiösen Dialogs unter Einschluss des Judentums setzen wird. In die entsprechenden Vorbereitungen können auch kluge Beiträge wie die von Ihnen verfasste Einleitung des vorliegenden Buchs zur Einbeziehung der jüdischen Perspektive in die sozialethische Debatte einfließen.
Haben Sie daher nochmals Dank für Ihre Zeilen und für das von Ihnen mit herausgegebene Buch.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
Dr. Christoph Schölten
Leiter Referat 10