Die „analytische Untauglichkeit“ des Extremismusbegriffs

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Eine Rezension von Michael Lausberg, erschienen in DISS-Journal 30 (2015)

Das normative Extremismuskonzept wird wegen seiner Eindimensionalität der komplexen gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit kaum gerecht. Eine neuere Untersuchung über den Wandel und die Funktion des Begriffes von 1968 bis 2001 zeigt dessen funktionale Unzulänglichkeit.

Dieses Buch, das im Rahmen des Forschungsseminars „Repräsentation sozialer Ungleichheit und sozialer Konflikte“ an der TU Dresden entstanden ist, thematisiert die Extremismussemantik in der BRD und will sich „historisch-empirisch mit der konkreten Wechselseitigkeit politischer Umstände, der Funktion und dem Wandel“ des Extremismusbegriffs auseinandersetzen. Es werden seine etymologischen Wurzeln untersucht, die Evolution des Diskurses anhand signifikanter diskursiver Ereignisse zwischen 1968 und 2001 nachgezeichnet und schließlich die „analytische Untauglichkeit des Begriffs“ (14) offengelegt.

Methodisch wird auf die Ansätze der kritischen Diskursanalyse Siegfried Jägers und der Normalismustheorie Jürgen Links sowie auf die historisch-semantische Herangehensweise von Reinhart Koselleck zurückgegriffen. Die Autor_innen gehen auf die verschiedenen Repräsentationsebenen staatlicher Institutionen, der Öffentlichkeit und der Wissenschaft ein, da „die Konjunktur des Extremismusbegriffs (…) von juristischen, sicherheits- und bildungspolitischen Beschlüssen, die ihrerseits durch wissenschaftliche Institutionen und Stiftungen legitimiert und medial reproduziert werden“ (73), geprägt sei. Die Metamorphosen des Extremismusbegriffes ließen sich nur unter Berücksichtigung bestimmter Ebenenverschränkungen verstehen.

Die Bedeutung des Extremismusbegriffes ist seit den 1960er Jahren mehrfach nach politischer Großwetterlage und konkreten Ereignissen verschoben worden (59). In Abgrenzung zum zu positiv gesehen Radikalismusbegriff wird zwischen 1965 und 1973 der Extremismusbegriff als neuer politischer Ausgrenzungsbegriff eingeführt. Von 1973 bis 1980 bildet sich dann mit der Definition des Extremismus und der terminologischen Umstellung im Verfassungsschutzbericht von Radikalismus auf Extremismus ein neues Konzept heraus. Dazu gehören die Binnendifferenzierung in Rechts- und Linksextremismus und die  Betonung der „wehrhaften Demokratie“ (226-227). In den 1980 und 1990er Jahren ergeben sich durch die Gewalt von rechts und den zunehmenden Terrorismus neue Begriffsprobleme. Um die Brücke zum Terror-Diskurs zu ermöglichen, wird neben der Verfassungsfeindlichkeit das Kriterium der Gewalt zum Legitimationskern des Extremismusbegriffs hinzugefügt. Es bildet sich eine Art „Patchwork-Extremismus“ heraus, der, um sich veränderten Bedingungen anzupassen, flexibel-normalistische Dimensionen aufweist (229) Ab 2000 verstärkt sich diese Tendenz.

Neben Links- und Rechtsextremismus wird der „Ausländerextremismus“ geprägt, der sich besonders in der Fassung als „islamischer Extremismus“ in der Öffentlichkeit verankert. Dies bedeutet, dass „der Begriff [Extremismus] eine endlose Zahl beliebiger Grenzmarkierungen und -verschiebungen gestattet und prinzipiell jeden Ein- und Ausschluss legitimieren kann“ (62). Die weitgehende inhaltliche Unbestimmtheit erlaube so prinzipiell unendliche flexibel normalistische Grenzverschiebungen, dies sei „das grundlegendes Betriebsmodell und Erfolgsgeheimnis der Extremismussemantik“ (36). Diese flexible Ausrichtung zeige sich deutlich in der Extremismusforschung, in der es „weichen, harten und sogar smarten Extremismus“ gebe (229).

Der Terminus Extremismus erfüllt zentrale Funktionen als sicherheitspolitisches Konzept für staatliche Herrschaftspraxis, das von der „Magie der Mitte“(Lenk 1994, 11f.) geprägt ist (vgl. auch Mohr/Rübner 2010). Der Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft, der spätestens durch die FES- und Heitmeier-Studien empirisch belegt werden kann, bliebe „stets die Achillesferse des Extremismusbegriffes“: „Einen mittigen Rassismus kann der extremismustheoretische Ansatz nicht nur nicht erklären, sondern er bedroht dessen Grundlage der Annahme einer klaren Grenze zwischen dem Innenraum der politischen Normalität und dem bedrohlichen Außen der Extremismen permanent“ (234).

Das Staatsverständnis der BRD, demzufolge ein ausgeglichener Konsens der Mitte herrschen soll, brauche laut den Autor_innen „immer den Extremismus, um stets prekäre Normalitätsgrenzen zu fixieren und gesellschaftliche Gruppen zu stigmatisieren und eventuell auszuschließen“. Daraus folgt, dass die „Konstruktion der politischen Mitte auf den Extremismus als ihre Möglichkeitsbedingung konstitutiv angewiesen“ sei (243).

Dieses Buch erweitert die ohnehin schon breite Kritik am Extremismuskonzept um die „Metamorphosen“ des Begriffes und zeigt überzeugend seine flexibel normalistischen Grenzverschiebungen auf. Sehr empfehlenswerte, aber auch anspruchsvolle Lektüre.

Jan Ackermann/Katherina Behne/Felix Buchta/Marc Drobot/Philipp Knopp
Metamorphosen des Extremismusbegriffes
Diskursanalytische Untersuchungen zur Dynamik einer funktionalen Unzulänglichkeit
Wiesbaden: Springer VS 2015
256 S., 29,95 Euro

Zusätzliche Literatur

Lenk, Kurt (1994): Rechts wo die Mitte ist. Rechtsextremismus, Nationalsozialismus, Konservatismus. Baden-Baden.

Mohr, Markus/Rübner, Hartmut (Hrsg.) (2010): Gegnerbestimmung. Sozialwissenschaft im Dienst der „inneren Sicherheit“. Münster: Unrast.