Feldforschung in den mobile Commons ((Nikos Trimikliniots, Dimitris Parsanoglou, Vassilis S. Tsianos 2015: Mobile Commons, Digital Materialities and the Right to the City, London: Palgrave-Pivot Series Mobility and Politics (MPP).))
Von Vassilis S. Tsianos, erschienen in DISS-Journal 30 (2015)
Transnationale Räume sind derzeit der Schauplatz von Kämpfen um Mobilität, d.h. um gelebte ‚Heterotopien‘ (Foucault), die sich der Regulierung widersetzen. Indem an einzelnen Orten mehrere untereinander bisher inkompatible Räume und Plätze miteinander in Beziehung gesetzt werden, wächst diesen ‚Gegenräumen‘ Macht zu. Ihnen entspricht die Transmedialität, d.h. das Ineinandergreifen unterschiedlicher Medien wie Facebook, Handy, Satellitenfernsehen, Skype usw., mit deren Hilfe eine Politik der Zeugenschaft in den Transiträumen ermöglicht wird. Transmedialität eröffnet unter den asymmetrischen Bedingungen der Flucht aber nicht nur die Möglichkeit zur Mobilität – sie ist vielmehr lebensrettend. Im Folgenden soll anhand von zwei Beispielen aus der Feldforschung gezeigt werden, welche Affekte bei der Herstellung von Konnektivität wirksam sind und wie sich die migrantische Transmedialität dem Versuch von Zwangs-Territorialisierungen widersetzt.
Eine Gruppe von jungen Tunesiern, die Anfang März 2011 in Lampedusa ankam und dort in einem Lager inhaftiert wurde, um anschließend über Turin nach Tunesien abgeschoben zu werden, ist in den bedingungslosen Hungerstreik getreten, als einige erfuhren, dass die Haft im Abschiebegefängnis in Turin bis zu 6 Monate lang dauern sollte. Sie forderten ihre bedingungslose Freilassung. An die Öffentlichkeit gelangte dies erst, als einer unter ihnen alle Namen der Insassen einsammelte und sie vom Handy aus einem Freund in Zarzis (Tunesien) schickte, der wiederum eine Facebook-Seite mit dem Namen Guantanamo italia ((Unter: www.facebook.com/guantanamo.italia.)) eröffnete und dort ein Video in arabisch, französisch und italienisch uploadete, das die Namen aller in Turin in der Via Santa Maria Mazzarello Inhaftierten zu einem Song abspielt. Auf diese Weise gelangte die Nachricht zu Al Jazeera und France 24. Über die transnationalen Sozialen Medien erreichten die Berichte zum Hungerstreik und zu den Bedingungen der Abschiebehaft somit die Öffentlichkeit globaler Mainstream-Medien.
Auf Guantanamo italia dagegen werden weiterhin Videos und News gepostet: Zum Beispiel geht es um die Proteste von Familienangehörigen ertrunkener Migrant_innen aus Zarzis. Auf dem Weg nach Italien kollidierte das Fischerboot mit 120 Migrant_innen mit der Korvette »Liberté 302« der tunesischen Marine. Hierbei ertranken 35 Menschen. Die Familien fordern Gerechtigkeit für die Opfer und für die Inhaftierten der Via Santa Maria Mazzarello.
“… all you need is a mobile phone”
»If I use Facebook to stay in contact with my family? – No, all you need is a mobile phone. At home, up there, they don’t have anything except mobiles. Sometimes if you just beep them so that they can see from your area code, where you are and that you’ve done a step further. In Facebook I lastly recovered some friends that I have lost for years – now they live in Paris. Last year, after the Pagani camp I wanted to continue to Germany together with a friend. We travelled through Macedonia and Serbia to Hungary, where we split. We prepared everything, we had every part of the route as a copy from Google Earth with us, printed in Internet cafes. And we used GPS on our mobiles. My friend took a train to Germany, but he fell asleep and had to drop out in Vienna where they caught him. I was arrested in Hungary and brought to a camp for six weeks. They threatened me to remain detained for years, if I won’t leave the country voluntarily. So I decided to return to Greece. In Serbia the police stole all of my money and my mobile phone and together with many others, I was brought to a cellar. Such a thing I didn’t ever experience in Greece. When I finally arrived in Macedonia the police asked me, if I was on my way to Serbia or to Greece. They showed me the path and even gave me some coins to make a phone call. I already spoke on the phone with a friend, who through Evros came to Athens, where he now lives. He tells me that actually it is very cheap in Evros, only 400 US Dollars. And this is certainly linked to the fingerprint questions. If you try to make it through the islands, it is much more difficult without being fingerprinted. That’s why it is more expensive. In Evros you can pass without much money and without fingerprints« (Interview mit Sapik, Lesvos, 07.09. 2012).
Man kann Dutzende solcher empirischer Darstellungen sammeln, um ein differenziertes Bild der multimedialen „digitalen Umgebung“ von grenzüberquerenden Akteur_innen zu beschreiben.
Allerdings läuft man dabei Gefahr, mit diesem Bild des »connected migrant« ((Dana Diminescu, 2008: The Connected Migrant: An Epistemological Manifesto, in: Social Science Information, Dezember, 47, pp. 565-579.)) nur die reaktive Seite des Agierens transnationaler Migrant_innen festzuhalten. Was man durch diese Forschung als Interesse an Migrant_innen produziert, ist nicht unbedingt im Interesse der transnationalen Migrant_innen. Man wird etwas über das Entkommen aus den Kellern erfahren, aber nicht über die spezifische Verortung dieser Keller und ihrer Beziehungen zu Kontroll- und Überwachungstechnologien. Nicht ein spezifisches Medium ist also Ausgangspunkt der hier angewandten Forschungsperspektive.
Auch in den Debatten internationaler Migrationsforschung avancierte »the connected migrant« mittlerweile zu einer prominenten und vielfach diskutierten Figur. Allerdings richtet sich unser Untersuchungsfokus nicht auf eine so genannte »digital-diaspora« als Ort des Konsums transnationaler Lebenswelten und Identitäten und auch nicht nur auf den Aspekt der Mediennutzung bzw. die »medialen Umgebungen« ((Hepp, Andreas 2009: Transkulturalität als Perspektive: Überlegungen zu einer vergleichenden empirischen Erforschung von Medienkulturen, in: Forum: Qualitative Sozialforschung, Volume 10, No. 1, Art. 26, Januar. Download unter: www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/download/1221/2660)). Denn die Annahme einer relativ machtneutralen digitalen Migrationsumgebung geht einher mit einer weit verbreiteten Medieneuphorie, die die machtvollen Verwerfungen an der Schnittstelle von Informations- und Kommunikationstechnologien und der Gewalt ihrer Territorialisierungen übersieht. Vielmehr gilt es zu fragen, wie neue Formen vermachteter sozialer Beziehungen zwischen technischen Artefakten und Verkörperungen als untrennbare Verbindungen in der Mobilität oder auch im Zuge einer partiellen Verrechtlichung des „Transits“ arbeiten.
Mit unserer Forschung versuchen wir einen anderen Weg einzuschlagen, indem wir mit der von uns vorgeschlagenen Methode einer „net(h)nografischen Grenzregimeanalyse“ Prozesse der Herstellung von Konnektivität und Kollektivität im Transit des bordercrossings untersuchen. Im Rahmen des EU-Forschungsprojekts MIG@NET – Migration, Gender und digitale Netzwerke – untersuchen wir bordercrossings, d.h. Taktiken und Strategien der grenzüberschreitenden Mobilität transnationaler, undokumentierter Migrant_innen. Grenzen erweisen sich in diesem Zusammenhang nicht mehr als fixe geografische Demarkationslinien, sondern als Aushandlungsfelder und umkämpfte Territorien von „border zones“.
Migranten sind im bordercrossing keine sozialen Gruppen im soziologischen Sinne. Sie sind soziale Nicht-Gruppen, d.h. aktualisierungsfähige Netzwerke sozialer Gruppen. Niemand reist allein, jedenfalls in der Regel nicht für die Gesamtdauer der Reise, und keiner benutzt Medien individuell. Deshalb verwenden wir den Begriff der mobile commons. In der kriminalisierten grenzüberschreitenden transnationalen Migration ist jeder umgeben von vielen Menschen und vielen medialen Umgebungen, die jeder einsetzen kann, individuell oder per Delegation. Ich benutze dein Handy und gebe dir dafür etwas anderes, du leihst mir dein Handy bis nach Bremen und ich gebe es dann im Internetcafé ab. Oder, ganz einfach, du sendest für mich eine SMS. Sehr wichtig sind Skype, Twitter, GPS, aber auch ganz profane Briefe. Der Begriff der mobile commons umfasst alle Formate von Medien, nicht nur digitale. Mit mobile commons meinen wir die Fähigkeit vieler Akteure, innerhalb des Kontinuums von online- und offline-Kommunikationsstrukturen zu agieren und gleichzeitig im Stande zu sein, für die Nachhaltigkeit dieser Struktur in der Nutzung zu sorgen. Nachhaltigkeit in diesem Kontext heißt Sorge dafür zu tragen, dass die Leute, die nach einem kommen, die gleiche Migrationsroute und die gleiche mediale Infrastruktur unbeschädigt vorfinden und benutzen können. Es umfasst also, technische Störungsfelder zu identifizieren und Korrekturen vorzunehmen. Das ist die moralische Ökonomie des bordercrossings, bei der es allerdings weniger um Moral als um Reziprozität und eben Nachhaltigkeit geht. Wenn eine Migrationsroute nicht mehr offen ist, funktioniert sie als Absicherung nach hinten nicht mehr, aber auch nicht in die Zukunft. Digitalität ist ein Raum, in dem mediale Kontrolltechnologien einerseits und andererseits alternative Nutzungsmöglichkeiten der Medien seitens der Migrant_innen koexistieren. Das ist das Entscheidende, ihre wechselseitige Kopräsenz und Beobachtung. Jeder Form von Kontrolltechnologie entspricht eine Form des Widerstands gegen sie. Und mobile commons der Migration sind die Antwort auf eine bestimmte Form digitaler Erfassung oder digitaler Gefängnisse.
Dr. Vassilis S. Tsianos lehrt und forscht an der Fachhochschule Kiel.