Eine diskurspraktische Initiative

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Für eine faire Berichterstattung über demokratische Entscheidungen in Griechenland
Von Jürgen Link. Erschienen in DISS-Journal 29 (2015)

Als die Wahlen vom 25. Januar 2015 in Griechenland angekündigt wurden und die Mehrheit der deutschen Main­stream­medien sofort auf Kalten-Kriegs-Modus gegen den befürchteten Sieg von Syriza schaltete, veröffentlichte die Zeitschrift kultuRRevolution den hier dokumentierten Appell. Dieser bereits vor der Wahl von über hundert Erstunterzeichnenden aus allen deutschgriechischen und philhellenischen Milieus getragene Appell erhielt nach der Wahl in Deutschland und Griechenland und erhielt bis Mitte Mai circa 1600 Unterschriften.

Alle zehn Punkte des Appells waren absichtlich prognostisch so formuliert, dass sie im weiteren Verlauf erst ihre ganze Relevanz erweisen würden. Das bestätigte sich in einem teilweise erschreckenden, so nicht für möglich gehalteten Ausmaß. Mit welcher erpresserischen Energie etwa Minister Schäuble seine Euro-Kollegen gleichschaltete, um die neue griechische Regierung zu isolieren und eine Zäsur gegenüber der Troikapolitik mit allen Mitteln zu verhindern, übertraf selbst unser gerütteltes Maß an Skepsis. So wurde der Appell zum Musterfall einer „nachhaltigen“ Intervention. Den stärksten Widerspruch (auch von sozialliberalen und grünen KollegInnen) ernteten wir gegen unseren Begriff „Mainstreammedien“ (das sei „wie Pegida“) und zu unserer Diagnose der „einäugigen Berichterstattung“: das sei übertrieben, diese Leitmedien würden durchaus ausgewogen berichten. Darüber konnte man nur den Kopf schütteln: In Interviews und Kommentaren (leider nur in Internetmedien oder freien Radios) sowie offenen Briefen an Schäuble und Merkel akzentuierten Initiatoren und Unterzeichnerinnen jeweils aktuelle Punkte des Appells. Dabei mussten wir konstatieren, dass genau unsere Punkte von Schäuble und seiner Richtung (auch in den Medien) zu den „verbotenen Wörtern“ avancierten: allen voran „Schuldenerlass“, aber auch unsere Feststellung, dass die griechische Krise keineswegs 100 Prozent „hausgemacht“ ist, sodann Begriffe wie „Brüningpolitik“ (perfekte Analogie Brüning-Schäuble: was bei Brüning der „Erfolg“ war, lernt jede deutsche Schülerin). Genau diese Punkte aber kommen, wie wir erfuhren, in den Mainstreammedien „nicht durch“.

Dieser Appell ist ein Beispiel für eine politische Intervention, die sich sozusagen notwendig aus unseren Griechenland-Schwerpunkten in kRR 61/62, 2012 und kRR 66/67, 2014 ergab: ((Eine ähnliche Initiative unternahm die kRR 2010 zusammen mit dem DISS-Journal und der Zeitschrift AMOS mit dem Appell: Heraus aus der Sackgasse in Afghanistan! (Vgl. kRR 58/2010, 11ff.) )) WNLIA – Weder abgeschottet „rein-wissenschaftlich“ – noch abgeschottet „rein politisch“ – lieber jenseits solcher binären Reduktionismen. Und zu welchen ganz wissenschaftlichen Einsichten über Mediendiskurse, Kollektivsymbolik und Feindbilder hat dieses Engagement nicht in wenigen Wochen geführt! Ebenso wie zu wissenschaftlichen Einsichten über die Funktionsweise von Hegemonie, über ihre Siebungs-, Filter- und Ausschlussmechanismen. So sind die Erfahrungen mit dieser Intervention ein ganz und gar „positivistisches“ Laborexperiment über die ganz und gar „empirische“ Struktur von Mainstreammedien: wie „Themen“ und Diskurspositionen normalistisch „gemainstreamt“werden und wie mediales „Kapital“ (Pierre Bourdieu) automatisch zur Monopolisierung führt. Aber das Experiment zeigt auch, dass es Nicht-Mainstreammedien gibt: vor allem im Internet. Sowohl Telepolis wie Nachdenkseiten (sowie kleinere Internetmedien) berichteten über den Appell und trugen dadurch zur Proliferation bei. Aller Voraussicht nach wird die Relevanz des Appells auch bei Erscheinen dieses Hefts noch anhalten, wenn nicht gewachsen sein: Möglichkeit zum Unterzeichnen, Liste der Signaturen und aktuelle Informationen zum Appell im Internet unter (http://appell-hellas.de).

Zur Frage, ob es so etwas wie „Einäugigkeit“ in deutschen „Mainstreammedien“ gibt, fand am 26. Juni 2015 an der TU Dortmund eine eintägige Tagung unter dem Titel: „Wie einäugig ist die deutsche Berichterstattung über Griechenland?“ statt. ((Berichte zur Tagung sowie eine Stellungnahme der Initiator_innen zum Referendum unter http://appell-hellas.de))

APPELL: Für eine faire Berichterstattung über demokratische Entscheidungen in Griechenland

1.

Zurecht sagt Syriza: Das Europäische Haus kann nicht als Privateigentum der „Märkte“ und ihrer Kernmächte (vor allem Deutschlands) betrachtet werden. In ihm wohnen Länder wie Griechenland nicht bloß auf Widerruf zur Miete, um bei Mietrückstand von der Polizei auf die Straße gesetzt werden zu können. Das Europäische Haus wird Kondominium sein oder gar nicht.

2.

Kaum ist in Griechenland nach der Verfassung eine allgemeine freie, gleiche und geheime Wahl angekündigt, heult der Mainstream der deutschen mediopolitischen Klasse (von ehrenhaften Ausnahmen abgesehen) wie eine einzige Boje so auf, als ob dort eine Diktatur errichtet werden sollte. Wie in einem unter Sprachregelung stehenden Land hagelt es monoton und täglich, es drohe der (demokratische!) Wahlsieg einer »europafeindlichen«, »europakritischen«, »populistischen«, »reformfeindlichen«, »linksradikalen«, »wirtschaftsfeindlichen« usw. Partei, die ›das griechische Volk um die Früchte seiner schweren Opfer bringen‹, die ‚internationalen Geldgeber vor den Kopf stoßen‘ und ‚Europa zurück in die Krise stürzen‘ wolle.

3.

Dieses Delirium von Sprachregelung und Einäugigkeit droht das Verhältnis zwischen unseren Völkern zu vergiften. Es ist einäugig, so zu tun, als ob die griechische Misere 100 Prozent ‚hausgemacht‘ wäre und als ob »unsere Märkte«, allen voran die großen westlichen Banken, daran keinen Anteil gehabt hätten – als ob ‚sie uns anstecken‘ wollten – und als ob »unsere Märkte« und »unsere« Brüningpolitik nicht ganz Südeuropa mit ihrer großen Krise, die eben keinesfalls überwunden ist, angesteckt hätten. Die Krise ist unsere gemeinsame Krise.

4.

Aber gibt es denn etwa keine hausgemachten griechischen Krisenverstärker? Doch, es gibt sie durchaus, nur ist es nicht das ganze Volk gleichermaßen, es sind die griechischen steuerbetrügerischen Oligarchen, die aber wie die russischen und ukrainischen gern gesehene Partner unserer »Märkte« waren und sind, und die (neben unseren eigenen Banken) vor allem von ›unseren Rettungsgeldern‹ profitiert haben. Und die von Siemens, Rheinmetall usw. im großen Stil bestochen werden konnten. Und ausgerechnet jetzt, wo erstmals die Chance besteht, dass es diesen griechischen Oligarchen endlich an den Kragen gehen kann, toben »unsere Märkte« durch ihre Medien nicht etwa gegen die angeblich »proeuropäischen« politischen Vertreter dieser Oligarchen, sondern gegen genau die Politiker, die ihnen an den Kragen gehen wollen. Dabei geht die wesentliche Information völlig unter: Syriza ist antioligarchisch, und seine Gegner von der bisherigen Regierung sind prooligarchisch. Mit dem weltbekannten griechischen Mythos gesagt: Unsere Medien toben in ihrer Mehrheit nicht gegen den Augias und seinen bis nach Deutschland stinkenden Stall, sondern gegen den Herakles, der ihn ausmisten will.

5.

Sage uns also, mediopolitische Klasse: Wie hältst du es eigentlich mit der Demokratie? Du warst gegen diese Wahlen, weil sie »die Märkte« stören würden. Einer der typischen Prooligarchen, der Chef der sozialdemokratischen PaSoK Venizelos, brachte seine Demokratieauffassung anlässlich einer (nur für sehr kurze Zeit) erfolgreich platzierten Anleihe unübertrefflich naiv auf den Begriff, indem er triumphal verkündete: »Die Märkte haben Griechenland gewählt!« Also die Wähler dieser Art Demokratie sind die »Märkte«: Es muss also Agorakratie (Herrschaft der Märkte) heißen, nicht Demokratie.

6.

Die menschlichen Wählerinnen und Wähler dagegen wurden durch 4 Jahre aus Berlin und Brüssel diktierte Brüningpolitik regelrecht verelendet. Deutsche Kinder lernen in der Schule, dass Hitler 1933 an die Macht kam, weil das deutsche Volk durch die Brüningpolitik verelendet war: 6 Millionen Arbeitslose, vor allem Jugendliche, gelten bis heute als katastrophale Schwelle. In Griechenland ist diese Schwelle heute längst (prozentual) überschritten. Hinzu kommt eine Zerschlagung der Massenkaufkraft durch Senkung der noch existierenden Löhne, Steuererhöhungen und Kürzung der sozialen Netze teilweise bis auf Null (bei Medikamenten). Schon Émile Durkheim hielt eine kurzfristig über den langjährigen Durchschnitt steigende Suizidrate für das sicherste Symptom einer schwer kranken Gesellschaft. Das Griechenland des EU-Spardiktats ist ein solcher Fall.

7.

Brüssel und Berlin (und als ihre Sprachrohre die meisten Medien) erklären diese nicht zu leugnende Katastrophe als vorübergehend, als kurzfristig notwendige Schocktherapie, um das Land wieder »wettbewerbsfähig« und wieder »normal« zu machen. Das ist die eigentliche Irreführung: Wenn es wieder »Wachstum« gibt, dann ausgehend von einem abgrundtiefen »Boden« – und nur noch für ein oberes Drittel, während die zwei unteren Drittel dauerhaft mit einer »neuen Normalität« vorlieb nehmen sollen, die man in Griechenland selbst als »Drittweltisierung« bezeichnet. Anders gesagt: Griechenlands »neue Normalität« nach Brüssels und Berlins Wünschen ist die einer niedrigen, heruntergestuften Normalitätsklasse ohne wesentliche Teile unserer deutschen sozialen Netze – und das auf Dauer.

8.

Gegen diese Herabstufung auf Dauer lehnt sich die Mehrheit der Griechinnen und Griechen auf. Als Instrument dieser Auflehnung betrachten nicht wenige Syriza. Um nichts anderes geht es bei der einäugigen Polemik gegen Syriza: Syriza will sich für eine europäische, nicht drittweltige Normalität einsetzen. Die wesentliche Forderung dabei ist die nach einem großen Schuldenerlass. Nur ein solcher großer Schuldenerlass kann dem Land Möglichkeiten von Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückgeben – während Zinsen und Tilgungen des riesigen Staatsschuldenbergs in alle Ewigkeit den größten Teil der Steuereinnahmen auffressen werden. Nur ein solcher Schuldenerlass bedeutet endlich eine Rettung der kleinen Leute statt nur der Banken und Oligarchen. Schuldenerlass plus Haftbarmachung der Oligarchie und der Banken – das sind die beiden Hauptpfeiler für jede Verbesserung der Lage in Griechenland. Diese beiden Forderungen unterstützen wir auch von Deutschland aus. Diese beiden Forderungen objektiv, fair und nicht einäugig zu erklären, halten wir für die Pflicht demokratischer Medien und demokratischer Politik. Über diese Forderungen muss die EU ggf. ohne ultimative Vorbedingungen auf Regierungsebene verhandeln, nicht durch eine demokratisch illegitime Technokratie wie die »Troika«.

9.

Deutschland und Griechenland sind historisch auf besondere Weise verbunden. Nicht bloß weil die gesamte klassische deutsche Literatur, Kunst und Philosophie auf altgriechischem Erbe beruht. Gerade auch Neugriechenland hat deutsche »Philhellenen« seit Hölderlin und dem Schubertdichter Wilhelm Müller (dem »Griechen-Müller«) bis heute inspiriert. Griechische Einwanderer seit den 1950er Jahren bis zur neuen Welle aufgrund der Krise haben den deutschen Wohlstand mitgeschaffen. Auch ein großer Teil der begeisterten deutschen Griechenlandtouristen kann als Philhellenen gelten. Uns kann es nicht egal sein, wenn die »proeuropäischen« (in Wahrheit prooligarchischen und bankenfrommen) Kräfte unter dem Diktat aus Brüssel und Berlin die Strände privatisieren und in all-incluse-Meilen verwandeln sowie ganze Inseln verscherbeln, um kurzfristig »Schulden abzubauen«, die langfristig umso mehr steigen. Syriza will diesem Wahnsinn ein Ende machen und erweist sich allein dadurch als wahrhaft proeuropäisch. Auch können gerade wir deutschen Philhellenen niemals vergessen, was deutsche Besatzungstruppen diesem Volk angetan haben (ohne dass bis heute auch nur die Zwangsanleihe zurückgezahlt wurde). Unsere führenden Politiker und Medienmacher haben es vielleicht vergessen, wir nicht: Der fürchterlich opferreiche Kampf des griechischen Widerstands gegen die Nazibesatzung hat einen absolut substantiellen Beitrag zur Befreiung Europas, und also auch Deutschlands, von Hitler und seinem Dritten Reich geleistet.

10.

Deutschlands Kriegsschulden wurden im Londoner Schuldenabkommen von 1953 zum großen Teil erlassen. Die internationale Anerkennung des 2+4-Abkommens statt eines eigentlich vorgesehenen Friedensvertrags hat Deutschland nicht bloß ein zweites Versailles, sondern überhaupt angemessene Entschädigungszahlungen für die Zerstörung des Kontinents erspart. Ein großer Schuldenerlass für Griechenland ist dagegen – um es in der Sprache der »Märkte« zu sagen – »peanuts«.