Die Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx

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– auch genealogisch gesehen.

Von Wolfgang Kastrup. Erschienen in DISS-Journal 29 (2015)

Totgesagte leben länger: Kritische Gesellschaftstheorie ist wieder lebendig. Marxistisches Denken hat seit der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 und dem völligen Versagen der herrschenden neoliberalen Wirtschaftswissenschaft an Bedeutung gewonnen, innerhalb wie außerhalb der Universitäten. Marx entwickelte eine Kritik an den zentralen Kategorien der bürgerlichen Ökonomie, die für eine heutige kritische Gesellschaftstheorie von Bedeutung ist. Im zweiten Teil des Artikels geht es dann nicht um die Frage der epistemologischen Wahrheit der Kritik von Marx, sondern um eine Genealogie der Kritik, also um die Frage nach der Herkunft, der Entstehung der Kritik der politischen Ökonomie.

Was meint Marx mit „Kritik der politischen Ökonomie“? Weshalb hat er die politische Ökonomie von Ricardo und Smith, von Say und Proudhon einer Kritik unterworfen? Er beschreibt das folgendermaßen: „Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben.“ (Brief an Lassalle v. 22.02.1858; MEW 29, 550) Dies bedeutet zweierlei: Einerseits eine Kritik an der Disziplin oder der Theorie der politischen Ökonomie (heute würde man Wirtschaftswissenschaft sagen) und deren Kategorien und andererseits durch die Analyse und die Kritik des bürgerlichen Wirtschaftssystems die Darstellung seiner eigenen wissenschaftlichen Theorie über die Struktur kapitalistischer Produktion. Für Helmut Reichelt wird damit deutlich, dass Marx „die Wirklichkeit dieses ökonomischen Systems“ kritisiert, ein System voller Widersprüche und Krisen, ein „verselbständiges Getriebe“, das auch als „verkehrte Welt“ charakterisiert werden könne. (2001, 11)

Für Tino Heim (2013, 141) ist der Kritikbegriff bei Marx so zu erklären: „Kritik ist hier keine der analytischen Darstellung vorausgesetzte oder nachgeordnete Beurteilung, vielmehr ein ihr immanentes Moment.“ Die Zumutungen kapitalistischer Gesellschaft sind immanente Strukturmomente, unterliegen der kapitalistischen Funktionslogik. Natürlich können auch Fehlentscheidungen von Unternehmern oder/und der herrschenden Politik verantwortlich sein, im Kern geht es aber um die Konsequenzen einer Produktionsweise, deren Sinn und Zweck die Verwertung von Wert ist. „Die kapitalistische Produktion entwickelt […] nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (Marx, MEW 23, 529f.) Maßstab der Kritik für Marx ist also nicht ein moralischer Standpunkt oder die Forderung nach einem gerechten Lohn (siehe die heutige Politik der Gewerkschaften), sondern es geht um die kapitalistische Funktionslogik, um die Grundstruktur einer Produktionsweise, die die Lebensinteressen der Menschen untergräbt.

Die Kritik ökonomischer Kategorien wie Arbeit, Kapital und Wert entwickelt sich bei Marx zu einer Kritik der bürgerlichen Wissenschaft insgesamt. Nicht umsonst lauten die Titel seiner Veröffentlichungen Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf 1857-1858), Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859) und der Untertitel von Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie (1867). Anerkennend wie kritisierend bezüglich David Ricardo schreibt Marx: „Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt?“ (MEW 23, 94f.) Gemeint ist damit, dass die bürgerliche Wissenschaft den gesellschaftlichen Charakter der Warenproduktion nicht erkennt, diese vielmehr als natürlich aller Produktion eigentümlich betrachtet.

Eine vergleichbare Natürlichkeit im Sinne einer Quasi-Naturnotwendigkeit beschreibt Marx mit der „trinitarischen Formel“ am Ende des 3. Bandes im Kapital. Kapital, Boden und Arbeit (in der Wirtschaftswissenschaft auch als „Produktionsfaktoren“ bezeichnet) würden in der bürgerlichen Ökonomie als ‚naturnotwendig’ angesehen, die Quellen des Reichtums seien voneinander unabhängige Größen. Für die Besitzer von Kapital, Grundeigentum und Arbeit sehe das so aus, als erhielten sie für den Einsatz ihres jeweiligen Produktionsfaktors, den diese der Ware an Wert zugesteuert hätten, ein entsprechendes Einkommen. Zwischen Arbeit und Lohnarbeit werde dabei kein Unterschied gesehen (vgl. MEW 25, 833). So entsteht also der Schein, als sei der Zins von Kreditgebern und der Gewinn von Unternehmern, die Rente des Grundeigentümers und der Lohn des Arbeiters nichts anderes als der in Geld ausgedrückte Anteil am gesamten Produkt, der ihnen gerechterweise zukomme. Heutige Lehrbücher der Wirtschaftswissenschaft verkünden genau diese Ideologie von den „Produktionsfaktoren“.

Und die Genealogie?

Wie ist die Kritik der politischen Ökonomie genealogisch zu erklären? – Eine genealogische Betrachtung befasst sich nicht mit der Marxschen Kritik ökonomischer Kategorien der politischen Ökonomie und auch nicht mit seiner Theorie der kapitalistischen Produktionsweise, sondern sie versucht „Herkunft“ und „Entstehungsherd“ seiner Kritik politischer Ökonomie zu untersuchen. Matthias Bohlender (2013, 111) erklärt das folgendermaßen: „Es geht mir […] um eine Genealogie der Kritik und damit um die Frage: Woher, aus welchen Ängsten und Beunruhigungen, Bedrohungen und Problematisierungen kommt der Wille, sich einer Macht wie der der politischen Ökonomie entgegenzustellen, ihr den Fehdehandschuh hin- oder das fürchterlichste aller Missiles (Geschosse, W.K.) an den Kopf zu werfen.“ Es geht dem Autor also darum, mit der Genealogie die Begleitumstände zu erforschen oder freizulegen, aus denen die Kritik von Marx entstehen konnte. Oder anders gefragt: Wie kommt der Sachverhalt bei Marx zustande?

Bohlender schreibt hierzu, dass Marx 1845 die Schriften von John Francis Bray studierte, dessen Arbeiten zu den letzten großen Veröffentlichungen der sog. ricardianischen Sozialisten zählten (u.a. Labours Wrongs and Labours Remedies). Marx sei u.a. deshalb von Brays Schriften fasziniert gewesen, weil Brays Kritik der Politik deutlich mache, dass bloße politische Reformen und gewerkschaftliche Verbesserungen die Grundlage und Struktur des „social system“ nicht berührten, da dieses „social system“ die Totalität umfasse, auf der die Art und Weise der Produktion und des Tausches beruhe. Dies müsse kritisiert werden, um die Umwälzung der Gesellschaft zu betreiben. Für Bohlender ist dies deshalb evident, weil Marx mit den Schriften von Bray den „falschen Bruder“, den Proudhonismus bzw. den französischen Sozialisten und Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon kritisiert und entlarvt habe (vgl. Bohlender 2013, 112f.). Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Proudhon und Bray befänden wir uns „mitten im Entstehungsherd der Kritik der politischen Ökonomie“ (ebd., 115).

Aber Marx kritisiere nicht nur Proudhon, sondern auch Bray. Beide sähen nicht, „dass schon im individuellen Tausch von Arbeitsmengen, in der Wertbestimmung selbst also, der Klassengegensatz bzw. die gesamte Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise eingeschrieben ist. Man kann somit nicht das eine (individueller Tausch von Produkten privater Arbeit) ohne das andere (Klassengegensatz, Geld und kapitalistische Produktionsweise) haben.“ (Ebd., 119) Dieser Argumentation folgend wird deutlich, dass der Ausgangspunkt der Kritik der politischen Ökonomie in der gesellschaftlichen Form der Wertbestimmung liegt, wie sich der gesamte gesellschaftliche Antagonismus der kapitalistischen Produktionsweise sich in den Austauschbewegungen von Arbeitsmengen und Produkten widerspiegelt.

Wenn Bohlender von „politischer Angst“ und „Furcht vor den falschen Wahrheiten“ (ebd., 120) spricht, so ist vielleicht dies der Grund, und unabhängig von persönlichen Eitelkeiten, weshalb in der Geschichte des Marxismus die Auseinandersetzung um die Marxsche Analyse, um die „richtige“ oder „falsche“ Auslegung, so erbittert geführt wurde und z.T. auch noch wird.

Literatur

Bohlender, Matthias 2013: Marx, ein Exzerpt und der „falsche Bruder“, in: Jaeggi, Rahel/ Loick, Daniel (Hg.): Karl Marx – Perspektiven einer Gesellschaftskritik. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 34, 109-121.

Heinrich, Michael 2009: Kritik bei Marx, in: Dumbadze, Devi u.a. (Hg.): Erkenntnis und Kritik, Bielefeld, 41-48.

Heim, Tino 2013: Metamorphosen des Kapitals, Bielefeld.

Reichelt, Helmut 2001: Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx, Neuauflage, Freiburg/ Breisgau.

 

Wolfgang Kastrup, Studiendirektor a.D., ist Mitarbeiter des DISS.