Von Juliane Karakayalı. Erschienen in DISS-Journal 28 (2014)
Die wissenschaftliche Beforschung des NSU-Komplexes bleibt auch drei Jahre nach seiner Enttarnung nahezu aus. Notwendig ist eine Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen, die den NSU ermöglichten. Der folgende Beitrag folgt dieser Perspektive, indem er die Taten des NSU mit den Debatten und Politiken um Migration in den 2000er Jahren kontextualisiert.
Von 1955 bis 1973 war das deutsche Migrationsregime geprägt durch die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte über das sogenannte Gastarbeiter-Rotationssystem. Diese Strategie einer flexiblen Mobilisierung von Arbeitskräften ging allerdings nicht auf: Nach der Verhängung des Anwerbestopps von 1973 stieg über Jahre hinweg die Zahl der nach Deutschland Einwandernden, weil viele Arbeitsmigranten sich fürs Bleiben entschieden und ihre Familien nachholten. Das änderte nichts am politischen Selbstverständnis Deutschlands, kein Einwanderungsland zu sein. Jahrzehntelang stellte die Staatsangehörigkeit in Deutschland das Kriterium dar, über das der Zugang zu Rechten und Ressourcen reguliert wurde. Für Eingewanderte gab es eigene Arbeitsmärkte, Gesetze, Sanktionsmöglichkeiten und in letzter Instanz immer die Möglichkeit der Ausweisung.
Zu Beginn der 90er Jahre veränderte sich der Modus der Einwanderung: Aufgrund der in vielen Teilen der Welt aufbrechenden Konflikte und in Ermangelung anderer Einwanderungsoptionen stieg die Zahl der AsylbewerberInnen. Dies wurde medial skandalisiert und politisch problematisiert und gipfelte in der nachhaltigen Beschneidung des Rechts auf Asyl. Es erfolgte eine gegenseitige Bezugnahme zwischen den parlamentarischen Debatten um das Asylrecht und dem rassistischen Terror auf der Straße (vgl. Schmidt 2002). Viele gewaltvolle Übergriffe, Brandanschläge und Morde an MigrantInnen wurden verübt, die eindeutig als rassistische Angriffe lesbar waren, z.T. in Verbindung zu VS-Spitzeln erfolgten (vgl. Kleffner 2014) und häufig unter dem Beifall zuschauender Bürger–Innen stattfanden.
Häufig wird auf die 90er Jahre rekurriert, wenn es um den NSU Komplex geht: wegen des Ausmaßes der rassistischen Gewalt, und weil zu Beginn der 90er Jahre die neonazistischen Strukturen entstanden, in die der NSU eingebettet war. Aber auch eine andere Beziehung lässt sich herstellen: So spiegeln beide Formen des Terrors in spezifischer Weise den historischen, gesellschaftlichen Umgang mit Migration wieder. Die offen rassistischen und unter großer Zustimmung der Bevölkerung erfolgten Angriffe zu Beginn der 90er Jahre korrespondieren mit einer parlamentarischen Politik, die gesellschaftliche Pluralität negiert und Migration grundsätzlich zu verhindern versucht. Die Morde des NSU, die nicht als Taten Rechtsextremer bekannt wurden finden dagegen in einer gesellschaftlichen Situation statt, in der Migration und Diversität politisch in eingeschränkter Weise durchaus Anerkennung gefunden haben und neue Grenzen innerhalb einer pluralen Bevölkerung gezogen werden.
2000er revisited: NSU und Migrationspolitik
Diesen Punkt möchte ich im Weiteren unter Verweis auf die migrationspolitischen Entwicklungen in Deutschland in den 2000er Jahren vertiefen. Die bisher bekannten Morde und Anschläge des NSU in den Jahren 2000 bis 2006 fallen in eine Zeit einer heftigen Auseinandersetzung im Feld der Migrationspolitik. In ihrem Kern geht es um die umstrittene Neudefinition von Deutschland als Einwanderungsland. Rechtliche und repräsentative Erfolge auf dem Weg in die Selbstverständlichkeit einer vielfältigen Gesellschaft wurden dabei immer wieder durch Politiken und Debatten gekontert, die auf die Bekämpfung, Delegitimierung oder Entrechtung von Migration und MigrantInnen abzielen.
Ausgangspunkt der Auseinandersetzung bildet die Bundestagswahl 1998. Eines der ersten Projekte der rot-grünen Regierung ist die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts mit dem Ziel der Abschaffung des ius sanguinis zugunsten eines Rechts auf Einbürgerung und Doppelstaatsbürgerschaft. Die Unions-Parteien reagieren mit einer Unterschriftensammlung gegen die Reform. Im Jahr 2000 tritt die Reform ohne die Möglichkeit einer Doppelstaatsbürgerschaft in Kraft. Nach Jahrzehnten bekennt sich Deutschland faktisch dazu, Einwanderungsland zu sein. Auf der Ebene der kulturellen Repräsentation findet eine neue Sichtbarkeit der Migration statt: Im Jahr 2000 veröffentlicht Wladimir Kaminer die vielbeachtete „Russendisko“, Fatih Akın bringt seinen Film „Im Juli“ und Feridun Zaimoğlu „kanak attack“ in die Kinos. Die konservative Antwort ist die Leitkulturdebatte. Im gleichen Jahr wird in Nürnberg der Blumenhändler Enver Şimşek niedergeschossen. Er ist das mutmaßlich erste Opfer des NSU.
Überhaupt werden die öffentlichen Debatten um den Stellenwert der Migration für die Gesellschaft in Deutschland – die selbst schon einen immanenten Rassismus offenbaren – begleitet von einer zunehmenden Anzahl rassistischer Übergriffe und Gewalttaten. Nach einem Bombenanschlag auf MigrantInnen in Düsseldorf-Wehrhahn wird rassistische Gewalt und neonazistische Organisierung nach Jahren des Leugnens oder Kleinredens erstmals von Regierungsseite problematisiert. Diese als „kurzer Sommer der Staatsantifa“ bekannt gewordene Initiative gipfelt in dem ersten NPD-Verbotsverfahren, welches im Jahr 2001 beschlossen wird, aber einige Jahre später scheitert. Im Jahr 2001 legt auch die überparteiliche Süssmuth-Kommission einen Vorschlag für ein geplantes Einwanderungsgesetz vor, der in vielerlei Hinsicht die Migration nach und den Aufenthalt in Deutschland für viele MigrantInnen erleichtern soll. Zeitgleich ermordet der NSU Süleyman Taşköprü, Abdurrahim Özüdoğru und Habil Kılıç und verübt einen Anschlag auf einen Lebensmittelladen in Köln, bei dem die junge Mashia M. schwer verletzt wird. Im Jahr 2002 scheitert das Einwanderungsgesetz im Bundesrat, im Jahr 2003 wird das NPD-Verbotsverfahren vom Bundesverfassungsgericht aufgrund abgebrochen, weil durch die vielen V-Leute innerhalb der NPD eine zu starke Verquickung zwischen staatlichen Institutionen und der zu verbietenden Partei bestehen.
Auffallend ist, dass der NSU während dem laufenden Verbotsverfahren keine weiteren Morde verübt, was deutlich macht, wie stark der NSU in die Konjunkturen des organisierten Neonazismus in Deutschland integriert war. Erst im Jahr 2004 setzt der NSU seine Mordserie fort: Mehmet Turgut wird ermordet und auf die Keupstraße in Köln wird ein Nagelbombenattentat verübt (vgl. Dostluk Sineması 2014). 2005 tritt das erste deutsche Einwanderungsgesetz in Kraft. Dies ist einerseits als migrationspolitischer Erfolg zu verbuchen, da damit die Anerkennung der Tatsache der Migration einhergeht. Allerdings spiegelt der Name des Gesetzes die abwehrende Haltung der Politik gegen diese Tatsache wider, es heißt: „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung“. Theodoros Boulgarides und Ismail Yaşar werden durch den NSU ermordet. Etwa ab dem Jahr 2005, 50 Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen, wird auch von offizieller Seite Deutschland als Einwanderungsland anerkannt. Die 1993 vorgenommenen Einschnitte im Asylrecht werden nicht nennenswert verändert. Von nun an artikuliert sich die Auseinandersetzung über einen zunehmend repressiven Integrationsimperativ, der etwa 2007 im ersten Nationalen Integrationsplan formuliert wird. 2006 ist auch das Jahr der letzten beiden rassistischen Morde des NSU: Im Abstand von zwei Tagen werden Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat ermordet.
Ausbürgerung durch Mord
Betrachten wir die 2000er Jahre, so wird deutlich, dass trotz aller Kontroversen und counterpolitics eine gesellschaftliche Entwicklung hin zu einer pluralen Einwanderungsgesellschaft stattgefunden hat. Dies bedeutet nicht das Ende des Rassismus, aber die Art, wie Ausschlüsse hergestellt werden und die Gruppen, die ausgeschlossen werden, verändern sich. Alana Lentin (2011) beschreibt diese Entwicklungen mit dem Begriff „Postrassismus“: Damit, dass für einen großen Teil der Eingewanderten und Einwandernden Rechte erkämpft wurden, gilt Rassismus als bereits überwunden. Weiterhin bestehende soziale Ausschlüsse bestimmter Gruppen von MigrantInnen, die in mangelnden Schulabschlüssen oder erhöhter Arbeitslosigkeit sichtbar werden, werden als kulturelle Schwäche ausgelegt. Diese Gruppen von MigrantInnen repräsentieren eine „bad diversity“, die einer „good diversity“ – ökonomisch erfolgreichen MigrantInnen, die als Beleg für die Überwindung des Rassismus herangezogen werden – gegenübergestellt werden.
Diese Veränderungen in den Diskursen und Politiken um Migration und Rassismus sind ein Schlüssel, um die Morde des NSU zu verstehen. In einer gesellschaftlichen Situation, in der die Tatsache der Einwanderung auch von politischer Seite anerkannt wird, erscheinen die Morde wie eine Art selbstjustitieller Migrationspolitik: Mord als Politik der Ausbürgerung. Darin unterscheidet sich das Vorgehen des NSU nicht von anderen offen rassistischen Überfällen und Morden, die seit den 90er Jahren von antirassistischen Initiativen in erschreckend hoher Zahl in Deutschland dokumentiert werden. Damit aber, dass, die neonazistische TäterInnenschaft im Fall der neun Morde an Migranten nicht eindeutig war, wurde in besonderer Weise das gesellschaftliche rassistische Wissen um kulturell differente MigrantInnen mobilisiert. Die Opfer waren Kleingewerbetreibende, die u.a. als Internetcaféinhaber, Gemüsehändler und Kioskbetreiber für das migrantische Unternehmertum stehen, dass nach der Schließung der fordistischen Fabriken entstand. Viele von ihnen lebten und arbeiteten in prekären Verhältnissen. Zudem waren sie Menschen, die im aktuellen Migrationsdiskurs wegen ihrer türkischen Herkunft als „Muslime“ gelten. Türkische MigrantInnen und ihre deutschen Nachkommen werden gerade auch in Folge des 11. Septembers 2001 stärker zur Zielscheibe eines spezifisch antimuslimischen Rassismus. Im Sinne eines orientalistischen Wissensrepertoires wird ihnen eine fundamentalistische, antiegalitäre und antimoderne Kultur zugeschrieben. Die Verbindung von Muslimen mit Mord bediente das ganze Repertoire an Konstruktionen dessen, was seit den 1990er Jahren als „Parallelgesellschaft“ bezeichnet wurde: Gewalttätigkeit, (organisierte) Kriminalität, Gefahr und kulturelle Differenz (vgl. Puar 2007). Diese postrassistischen Politiken führten dazu, dass es der Öffentlichkeit in Deutschland so plausibel erschien, dass Migranten sich gegenseitig umbringen, die Gesamtgesellschaft sich durch den Serienmord an Migranten so wenig angegriffen fühlte, dass kein nennenswerter Druck auf die Ermittlungsbehörden entstand, und die durch den NSU Geschädigten kaum Gehör fanden, als sie Rassismus als Tatmotiv thematisierten.
Es sind diese gesellschaftlichen Verhältnisse, die es zu untersuchen gilt, um verstehen zu können, warum die Taten des NSU möglich waren. Die Forschung muss dafür Sorge tragen, dass eben diese gesellschaftlichen Bedingungen nicht historisiert, sondern in ihrer Aktualität untersucht werden.
Literatur
Dostluk Sineması (2014): Von Mauerfall bis Nagelbombe. Der NSU Anschlag auf die Kölner Keupstraße im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre. Berlin.
Kleffner, Heike (2014): »Generation Terror«: Der NSU und die rassistische Gewalt
der 1990er Jahre in NRW. In: Dostluk Sineması, S. 25-35.
Lentin, Alana/Titley, Gavan (2011): The crisis of multiculturalism. Racism in a neoliberal world. London.
Puar, Jasbir (2007): Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times. Urham/London.
Schmidt, Jürgen (2002): Politische Brandtstiftung. Warum 1992 in Rostock das Asylbewerberheim in Flammen aufging. Berlin.
Juliane Karakayali ist Professorin für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Berlin. Der Text entstand maßgeblich in Zusammenarbeit mit Bernd Kasparek.