…in die Chefetagen und die deutsche Nation überhaupt. Einige Bemerkungen zu den Fallstricken des gesunden Menschenverstandes. Von Siegfried Jäger, erschienen in DISS-Journal 22 (2011).
Sich verständigen zu können, das ist eine feine Sache. EinwanderInnen die Hochsprache abzuverlangen und diesem Verlangen mit bestimmten Sanktionen Nachdruck zu verleihen, das ist aber eine ganz andere.
Dann nämlich findet eine Verkettung von Gründen statt, die auf den ersten Blick nicht erkennen lässt, was mit der Forderung nach der Beherrschung der deutschen Sprache über den Zweck der Verständigung hinaus beabsichtigt ist. Außer einigen Sprachwissenschaftlerinnen dürfte dies kaum jemandem bewusst sein. Dahinter steckt die immer noch vorherrschende Auffassung in Bildungsinstitutionen, Politik und Medien, dass die Beherrschung der deutschen Hochsprache die Voraussetzung dazu darstelle, Deutsche oder Deutscher zu werden, deutsch zu fühlen und zu denken – mithin erst zu einer deutschen Identität führen könne. Dieses sprachwissenschaftliche und sprachphilosophische „Wissen“ verbirgt sich jedoch hinter der auf den ersten Blick plausiblen Forderung, die deutsche Sprache als Mittel zu Verständigung und Kommunikation beherrschen zu können. Da ist ja auch etwas dran, etwas. In beiden Fällen, also der sprachidealistischen und der kommunikationsplausiblen Überlegung verbirgt sich nämlich ein Alltags-Mythos, wie Roland Barthes wahrscheinlich sagen würde. Aber Barthes ist tot; er ist vor 31 Jahren unter eine Straßenbahn geraten und auf der Stelle gestorben und er kann diese Mythen des Alltags nicht mehr enttarnen. Und so können die Mythen (fast) ungestört weiterleben. ((Barthes „Mythen des Alltags“ sprechen vom Mythos der Transparenz und Universalität der Sprache, so in der erweiterten Neuausgabe dieses wichtigen Buches auf Seite 64 (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010).)) Sie haben die gesamte Sprachwissenschaft, nicht nur in Deutschland, überlebt und können ihr Unwesen auch in der sogenannten Integrationsdebatte ungestört weiter treiben.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts gab es keine deutsche Hochsprache, trotz Luther und seiner Bibelübersetzung, deren Sprache ein Gemisch aus den verschiedensten deutschen Dialekten darstellte. Der Grund war, dass der Reformator die Bibel für alle Deutschen lesbar machen wollte, und so griff er zur Sprache ostmitteldeutscher Siedler, die aus den verschiedensten Siedlungsgebieten herstammten. Wer heute die authentische Lutherbibel lesen möchte oder Texte aus dem Barock wie etwa den weithin bekannten Erziehungsroman Grimmelshausens vom „Simplizius Simplizissimus“, wird schnell ins Stolpern geraten und große Mühe haben zu verstehen, was eigentlich gemeint ist. Selbst Goethe schrieb mal so und mal so und seine Mutter, die Probleme mit der Kommasetzung hatte, setzte 24 Kommastriche ans Ende eines Briefes an denselben und meinte, setz doch du die Kommas ein, was Du ja als der größte deutsche Dichter aller Zeiten wohl beherrschen wirst. Goethe soll sich krumm und schief gelacht haben und verwies auf die große mittelalterliche Dichtung wie zum Beispiel das Nibelungenlied, in dem nicht nur die Kommas standen, wo sie mochten, sondern auch die Wörter in unterschiedlichsten Verkleidungen einherkamen. ((Das ist natürlich ein wenig Jäger-Latein. Aber immerhin hätte es so gewesen sein können.)) Das ging so bis etwa 1901, als Konrad Duden den Duden erfand. Doch auch dieser entbehrte weitestgehend jeder inneren Logik, worunter – trotz zigfacher Korrekturen – alle Schulkinder und Azubis heute noch zu leiden haben. Darüber ist immer wieder herzlich gelacht worden. Eigentlich gemein, oder? Nun gibt es den Duden auch heute noch. Wie er auch in seiner zigsten Auflage zu Stande kommt, naja, alle wissen es. Die Leute am Bibliographischen Institut in Mannheim gucken regelmäßig in die Zeitungen (bevorzugt in die FAZ) und beobachten, wie denn was aktuell geschrieben wird. Hat sich hier eine neue Schreibweise zu mehr als 50 % durchgesetzt, also etwa zu 51 %, wird die ältere aufgegeben. Alle wissen es, aber offenbar will keiner es wissen. Lauter regelmäßige Rechtschreibreformen, die auch nicht viel an diesem Unfug ändern! Fazit: So richtig deutsch konnten unsere Vorfahren niemals gewesen sein und sind auch unsere Zeitgenossen nicht. Und wenn man heute durch die (Sprach-) Landen fährt, kann einem ganz schlecht werden. Beim Überschreiten der einen oder anderen deutschen Grenze oder eines Flusses versteht man nur noch Bahnhof, Bayrisch oder garnix. Die reden doch alle anders, nur nicht deutsch. Logischerweise sind nach dieser nationalistischen Doktrin alle Deutschen in Wirklichkeit Ausländer, nur z.B. die Bayern nicht.
Ein wenig komplizierter ist es mit der Kommunikation und der Verständlichmachung. Ein bisschen Deutsch ist dafür natürlich nützlich. Aber nicht die Beherrschung der Groß- und Kleinschreibung oder des richtigen Kasus-Gebrauchs (der/die, des, dem/der, den/die etc.). Das kann man täglich beobachten. Bei Nachrichten, Dichterlesungen, beim Zeitungslesen und auf der Arbeit. Selbst die goldenen Federn produzieren Fehler über Fehler, schriftlich und besonders mündlich. Legte man den Maßstab der korrekten deutschen Hochsprache an sie an, gäbe es nur noch schlechte Noten. Nützlich ist diese nur zur Produktion von Sprachbarrieren für deutsche und eingewanderte Kinder. Da erweist sich das schöne Edeldeutsch nämlich als ausgezeichnetes Selektionsinstrument, als Integrationshemmnis für deutsche Kinder und Kinder mit Einwanderungs-Hintergrund, kurzum, als Herrschaftsmittel, das diejenigen, die unten sind, auch unten hält. Der Maßstab des korrekten Deutsch? Auch er gehört in die nationalistische Mottenkiste, wie Thilo und seine Thilosophen selbstverständlich auch.