Ein Appell. Erschienen in DISS-Journal 19 (2010)
Warum ist es nicht nur das Beste, sondern das schlechthin Notwendige, dass die Bundeswehr umgehend und vollständig aus Afghanistan abzieht?
Weil die anfangs und seither gegenüber der Öffentlichkeit für diesen Krieg angeführten Diskursblasen sämtlich längst geplatzt sind und weil die hinter der Diskursblase von der „gewachsenen deutschen Verantwortung“ verheimlichten tatsächlichen Argumente fatal sind: Die Diskursblasen von Demokratie, Frauenemanzipation, Wohlstand durch Bundeswehreinsätze nehmen ihre Erfinder selbst seit langem nicht mehr ernst. „Unsere Sicherheit am Hindukusch? Die Terrorquelle schließen? “ Offensichtlich wurde sie durch diese Kriegführung erst richtig geöffnet.
Also die „gewachsene deutsche Verantwortung“: „Wir dürfen uns nicht drücken“ usw. Dahinter steckt ein ganz und gar irrationaler und angesichts der deutschen Geschichte fataler Anspruch auf einen Platz unter den führenden Weltmächten. Deutschland ist nach seiner Bevölkerungszahl augenblicklich das 16. Land im Weltranking, mit 1,2 % der Weltbevölkerung. In wenigen Jahren wird es etwa genau 1% der Weltbevölkerung umfassen – soll die Bundeswehr auf dieser Basis Weltgendarm für die 99% spielen? Die Mitgliedschaft in der G 7/G 8, der Anspruch auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UNO usw. erklären sich rein aus der jetzt noch gegebenen relativen wirtschaftlichen Stärke. Daraus folgt keineswegs ein Anspruch auf eine entsprechende politische und militärische Weltmachtposition. Ein solcher Automatismus wäre höchst undemokratisch. Sollte Deutschland in die Rolle eines der führenden Mitglieder in einer Art informeller militärischer „Welt-Junta“ aber bloß absichtslos hineingerutscht sein, so gilt es jetzt, zu einer solchen Rolle vernünftig nein zu sagen. Der Afghanistankrieg ist dabei der Lackmustest.
Dieser Krieg wird von seinen Strategen als „Krieg gegen den Terror“ („War on Terror“) bezeichnet. Dahinter verbirgt sich ein Anti-Guerilla- Krieg von Typ Vietnam, der außerhalb des Völkerrechts geführt wird, weil die Feinde weder als Kombattanten noch als Verbrecher definiert sind: Wären sie Kombattanten, müssten sie als Gefangene in offen zugänglichen Lagern interniert werden – wären sie (mutmaßliche) Verbrecher, dürften sie auf keinen Fall ohne Anklage, Prozess und Urteil einfach auf Verdacht und präventiv „gezielt getötet“ und „eliminiert“ werden.
Genau das aber ist der strategische Kern dieses Krieges, der daher auch auf Seiten der NATO exterministischen Charakter hat.
Das von der Bundeswehr zu verantwortende „Massaker“ (Jürgen Todenhöfer) von Yakob Baj am 4.9.2009 signalisierte geradezu symbolisch, dass die Bundeswehr, falls sie nicht abzieht, genau dieser exterministischen Strategie verpflichtet ist und weiter sein wird.
Es ist also ein Krieg, dessen entscheidende taktische Mittel „Drohnen“ im wörtlichen und übertragenen Sinne sind: automatische oder von Menschen geflogene Luftangriffe als „gezielte Tötungen“, bei denen zugegebenermaßen „unschuldige“ Opfer in erschreckendem Umfang bereits in einem vorherigen CDE = Collateral Damage Estimate akzeptiert werden, sowie „gezielte Tötungen am Boden“, ebenfalls mit durchschnittlich hohen zivilen Opfern („Taliban-Jagden“ genannt) durch Elite-Einheiten wie das KSK. Wie sollen junge Männer ohne Sprach- und Kulturkenntnisse einen (von vornherein immer „des Todes schuldigen!?“) „Taliban“ von einem „Unschuldigen“ unterscheiden?
Sie müssen sich auf die Informationen und Befehle ihrer Vorgesetzten verlassen, die ebenfalls sprach- und kulturunkundig sind und sich einfach auf die Denunziation von „Informanten“ verlassen. Der Kern dieser Strategie besteht also darin, Terror mit Gegen-Terror zu bekämpfen und sich auf diese Weise an den terroristischen Gegner anzugleichen. Kein Wunder, dass dieser wahrhaft schmutzige Krieg es in nun fast zehn Jahren nicht erreicht hat, die „terroristischen Taliban“ zu „eliminieren“ – dass er sie vielmehr offensichtlich vermehrt hat.
Das letzte Argument gegen den Abzug ist also die Drohung mit den Folgen: „Gnade uns Gott, wenn die Taliban zurückkommen!“ Als ob sie nicht längst zurückwären und als ob nicht die überwältigende Mehrheit auch der Talibangegner in Afghanistan die eine oder die andere Spielart von Islam/„Islamismus“ verträten. Da „Taliban“ ein Plastikwort ist, wird jede Art von Renitenz zu „Taliban“ – und auch dadurch werden es immer mehr. Die jetzige Situation ist eben die Konsequenz der „Terrorkrieg-Strategie“ und gänzlich von deren Befürwortern zu vertreten. Von den Kritikern dieser Strategie nun das Wunder einer sofortigen alternativen Ideallösung einzufordern, ist ein Gipfel unfairen Diskussionsstils.
Dennoch ist sicher: Weil Eskalation in die Sackgasse geführt hat, gibt es zur Deeskalation keine Alternative. Wer in der Sackgasse steckt, muss umkehren und nicht stur weitermarschieren. Militärischer Rückzug und Deeskalation werden nicht umgehend Wunder wirken, wohl aber bisher noch gar nicht versuchte Optionen öffnen. Das hat auch eine finanzielle Komponente, die nicht verheimlicht werden darf: Der Krieg kostet täglich Unsummen, von denen schon die Hälfte enorme friedliche Alternativpotentiale eröffnen könnte. Die starke Opposition im Iran zeigt im übrigen das Potential eines innerislamischen Pluralismus – würde die Welt-Junta auch dort militärisch intervenieren, so würden die Interventen sofort zum allgemeinen Hauptgegner und die Opposition geschwächt werden. Die Wegnahme des äußeren Drucks wird also mittelfristig Schritte zu einem innerafghanischen Ausgleich und einer innerafghanischen Befriedung auf jeden Fall erleichtern. So viel ist sicher: Die Eskalation des Krieges wird die schon gegebene Katastrophe noch katastrophaler und noch auswegloser machen.
Damit steht Deutschland nun für alle sichtbar am Scheideweg: Entweder sich an die Mitgliedschaft in der informellen militärischen „Welt-Junta“ zu klammern und die exterministische Strategie eines „Terror-Kriegs“ bewusst zu akzeptieren – oder ein vernünftiges Nein zu sagen und die Bundeswehr nachhause zu holen, wodurch nicht zuletzt auch die deutschen Soldaten aus Lebensgefahr und der Gefahr von „Befehlsnotständen“ befreit würden. Die Forderung nach „umgehendem“ Abzug ist im Sinne eines verpflichtenden politischen Signals zu verstehen: Am Anfang könnte etwa eine einseitige Erklärung stehen, jede Art offensive militärische Aktion und insbesondere das Anfordern von „Luftunterstützung“ und die „gezielten Tötungen“ mit sofortiger Wirkung definitiv einzustellen, woraus sich ein Waffenstillstand entwickeln könnte. Die technischen Probleme eines schnellen Abzugs können Armeen erfahrungegemäß lösen, sobald ein Abzug politisch entschieden ist.
Ein solcher Schritt Deutschlands könnte auch mehreren schon bestehenden Initiativen für eine Friedenskonferenz unter führender Beteiligung von Vertretern aller Gruppen der afghanischen Zivilgesellschaft eine entscheidende Unterstützung verleihen.
Selbstverständlich sollten leichtfertige Vergleiche mit früheren deutschen Kriegen vermieden werden, wohl aber sollten die Erfahrungen als Warnschilder dienen. Die deutsche Wehrmacht hatte im Zweiten Weltkrieg, obwohl sie und ihre Nachfolger bekanntlich bis heute für „sauber“ plädieren, den berüchtigten geheimen „Kommissarsbefehl“ zu verantworten. Der bestand in nichts anderem als in „gezielten Tötungen“ von tatsächlichen oder vermeintlichen aktiven Kommunisten hinter der Ostfront auf bloße Denunziation hin. Heute häufen sich in Afghanistan Meldungen über „Vorfälle“ mit internationalen Eliteeinheiten, die sehr ernste „Rutschgefahren“ signalisieren. Auch wenn die Bundeswehr selten direkt beteiligt sein sollte, sitzt sie im gleichen Boot. Abweichend von den Befürwortern des Afghanistankrieges vertreten wir die Ansicht, dass wir als Deutsche aufgrund unserer militärischen Geschichte sehr wohl fatale Eskalationsprozesse besonders aufmerksam beobachten und besonders konsequent meiden sollten.
Wir können ja nicht ein weiteres Mal auf eine neuerliche „Gnade der späten Geburt“ warten, weil wir ja sämtlich schon längst geboren sind.
Die Liste der bisherigen Unterzeichnerinnen und Unterzeichner ist nachzulesen unter http://www.afghanistanappell.de/.