Die „Straßenjagd auf asoziale Marktradikale“ findet nicht statt. Von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 14 (2005)
„Nach Einschätzung des Göttinger Politikwissenschaftlers Franz Walter gehörte es zu Münteferings Konzept, den Kapitalismus frontal zu kritisieren, aber daraus keine konkrete Politik abzuleiten.“ (FAZ 1.5.2005, S. 1) Ich bekenne – mir selbst als todernster Experte für Tiere bekannt, die in der Ethik herumlaufen -, dass ich während der TV-Nachrichten zu Münteferings „Heuschrecken“-Attacke vom April 2005 herzlich gelacht habe. Ich muss mich danach allerdings sehr erschrocken haben, witterte einen black-out, der Konsequenzen haben müsse, dann die Chance zur Verfeinerung der institutseigenen Analyse-Instrumente – und ging dann doch beruhigt zu Bett.
Ein ähnliches Wechselbad hat wohl auch der Unternehmensberater Roland Berger durchgemacht, der unter dem unmittelbaren Eindruck der Attacke an eine Terroristenbewegung dachte: „Wenn Unternehmenspersönlichkeiten öffentlich verurteilt werden, muß man sich nicht wundern, wenn irgendwelche Verrückten schließlich RAF spielen.” (FAZ 1.5.05, S. 1) Dem Fraktionsvizevorsitzenden der CDU im Bundestag, Ronald Pofalla, entfuhr unwillkürlich eine Gegensalve: „Müntefering ist ein Neandertaler- Sozialist“ (FAZ 1.5.05, S. 1). Robert Leicht (ZEIT, 16/05: Müntefering beschimpft die Heuschrecken, Schröder will sie füttern) schlug sich an den Kopf beim Gedanken, wie man solche Schlagworte, d.h. die Heuschrecken „hinterher wieder einfangen und verschlucken kann“. Und Holger Steltzner (FAZ, 3.5.05) malte sich Genossen aus, die nun „zur Straßenjagd auf asoziale Marktradikale“ blasen könnten.
Damit war der Schock aber schon weitgehend überstanden, und er hat danach auch keine Rolle mehr gespielt. Die kulturell-politisch-mediale Intelligenz, die ökonomisch-politisch-mediale Intelligenz, die mediale Intelligenz selbst und der Wirtschaftsstandort Deutschland wetteiferten stattdessen unversehens um die originellste Nuance des „Heuschrecken“- Motivs im Sinn einer freundlichen Übernahme: Im Blätterwald donnerte das Echo eines homerischen Gelächters: Im Namen der ‚Heuschrecken‘ – Die ‚Heuschrecken‘ wehren sich – Vom Nutzen der Heuschrecken – Primacom kämpft gegen die Heuschrecken – Primacom: Sieg gegen Heuschrecken in Sicht – bmp setzt auf ‚Heuschrecken‘ – metro hofft auf Heuschrecken …
Ein Internet-Anbieter (Auto.de) sponserte ein schnell programmiertes Internet- Heuschrecken-Abschuss- Game mit Franz Müntefering als Chef der Aktion auf der Startseite – und belebte damit die zwischenzeitlich eingeschlafene Kultur des virtuellen Abschusses von Hühnern (http:// www.games.de/flash_games/heuschrecken/ frameset.htm). Ulrich W. Sahm googelte sich für seinen Artikel vom 3. 5. 05 auf n-tv eine internationale Kultur des Heuschrecken- Verzehrs zusammen und fügte den rechtlichen Hinweis hinzu, dass die Homepage des empfohlenen „Suppentüten-Herstellers … keine Garantie für die Verträglichkeit der dargebotenen Rezepte“ übernehme, weil „sich noch kein Investor gefunden hat, Heuschrecken als Schnellkost in Tütenform für Deutschland zu produzieren“. An die Spitze seiner Empfehlungen stellte er allerdings den Fund aus einem „jemenitischjüdischen Kochbuch“ und gab dessen Warnung „Nicht alle sind koscher“ in der Titelzeile sofort an die Bevölkerung weiter.
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) veröffentlichte eine Pressemitteilung (Wie gefährdet sind die Heuschrecken in Deutschland?), in der vor dem Aussterben von 12 von 84 deutschen Heuschrecken-Arten gewarnt wurde. Weiter heißt es: „Aus Sicht des internationalen Artenschutzes haben drei der heimischen Heuschreckenarten bedeutende Teile ihres Weltbestandes oder sogar ihren Verbreitungsschwerpunkt in Deutschland, weitere acht Arten leben bei uns in isolierten Populationen. Für ihren Erhalt trägt Deutschland darum eine besondere Verantwortung. Solche Erkenntnisse helfen, beim Heuschreckenschutz bundesweit Prioritäten zu setzen.“ Mit der Pressemitteilung erinnerte sich das Ministerium an die verschollenen Ergebnisse einer Publikation aus dem Jahr 2002 ((Maas, S., Detzel, P. und Staudt, A. (2002): Gefährdungsanalyse der Heuschrecken Deutschlands – Verbreitungsatlas, Gefährdungseinstufung und Schutzkonzepte.)): Ein Mitarbeiter hatte wohl für den Zweck des Tages „in den Ergebnissen“ des Hauses gekramt – und Humor bewiesen.
Und der wirkte international ansteckend: Die New York Times berichtete am 5.5.05 von einer „locust-list“ des deutschen SPD-Planungsstabes. In einem sauerländischen Englisch, das sich vor Leidenschaftslosigkeit kaum auf den Beinen halten konnte, ließ man Müntefering aus BILD von Investoren sprechen, die „stay anonymous, have no face, fall upon companies like locusts, devour them and move on.“ [„Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter.“]
Was war geschehen? Hatte Müntefering das Schwarze Loch der Stereotypenforschung getroffen?
Das ‚Heuschrecken‘-Motiv erfüllte im Grunde alle Bedingungen, die an ein ausgewachsenes ‚Tier‘-Konstrukt zu stellen sind. In der Kampagne wurde die Nur-Trieb-Metaphorik freilich nur Bundestagswahl bruchstückhaft realisiert: Müntefering und die medialen Ausmalungen beschränkten sich auf die Motivik des ständigen Nur-Fressens („ein von angelsächsischen Finanzheuschrecken zerfressenes Unternehmen“ – FAZ, 3.5.05), während die Motivik der ständigen Nur-Fortpflanzung und gar die der ständigen – Nur-Verdauung ganz gemieden wurde. Im Kontext des Ausgrenzungsdiskurses signalisiert diese Beschränkung die ‚Nähe‘, das gemeinsame Lebensumfeld zwischen den Sprechern und denen, die sie treffen wollen: Eine zu unappetitliche Beschreibung dieses Umfelds könnte auf die Sprecher abfärben.
Die mediale Ausbeutung spitzte diese Komponente ausdrücklich zu, indem sie das Fress-Motiv sogar umkehrte und an Heuschrecken als Human- Delikatesse erinnere: ‚Wir‘ und ‚Sie‘ frönen offenbar derselben Leidenschaft: Gerhard Schröder kann das so gut verstehen, dass er gar zur Fütterung schreitet (Schröder will sie füttern): Der ursprünglich aggressive Mensch-Tier-Topos hat sich hier verflüchtigt: aus übermächtigen Raubinsekten sind reale Tiere geworden. Doch gemach: Zoo-, Haus-, oder Wald- und Wiesentiere?
Im Zusammenhang der Nähe-Debatte, die über das Vehikel der Kampagne geführt wurde, muss diese Frage die Beteiligten durchaus umgetrieben haben: Münteferings biblischer Gattung der Schistocera gregaria stellte das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Batterie heimischer Heuschrecken gegenüber, die es kräftig zu füttern gelte, und verbalisierte damit vielleicht genau den Hintergedanken, den die Öffentlichkeit an Münteferings Heuschrecken-Metapher so unterhaltsam fand.
Der Analytiker kann aufatmen: Das Gelächter über gemeinsame Laster, über gemeinsame Regression sozusagen – biblische Strafe hin oder her, man lebt nur einmal –, ordnet die Kampagne von allein der Gattung der freundschaftlichen Beleidigungen zu. Und die wollen gekonnt sein.