Die Normalisierung der Armut

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Von Ursula Kreft und Hans Uske. Erschienen in DISS-Journal 12 (2004)

Armut ist bei uns besiegt. Der Sozialstaat hat sie abgeschafft, verbannt in die dritte Welt und in die Geschichten der Großeltern. Dies war bisher einer der Grundpfeiler des deutschen Sozialdiskurses, selbst dann noch, als der Sozialstaat ins Gerede kam. Es ging ja immer noch um seine „Gesundung“, um seinen „Umbau“. Auch die ständigen Warnungen von Oppositionspolitikern vor dem „Sozialabbau“ und vor „Armut“ waren Teil dieses gesellschaftlichen Konsenses.

Auf den Wahlplakaten der SPD in den 90er Jahren drohten daher noch Zahnlückenträger vor den unsozialen Folgen der Unionspolitik. Heute findet Rot-Grün nichts dabei, Mut zur Zahnlücke zu zeigen und die Zahnarztkosten für Familien zu vervielfachen. Andererseits: Aus dem „Mut zur Krücke“ wurde – vorerst – nichts. Den Vorschlag des Vorsitzenden der Jungen Union, Hüftoperationen für Alte den Lohnnebenkosten zu opfern, finden fast alle immer noch entsetzlich.

In den Debatten über die Reform des Sozialstaates gibt es weiterhin Streit, Polemik, unterschiedliche Meinungen sowie ein Publikum, das verärgert ist, aber das Feld dieses Meinungsstreites hat sich verschoben und ist aktuell an einem Punkt angekommen, an dem alle Parteien sich vorgenommen haben „den betagten Wohlfahrtsdampfer ‚Deutschland’ zur Generalüberholung ins Trockendock zu legen.“ (Stern, 43/2003) Dort angekommen, wird aus dem „Skandal Armut“ die Frage: „Armut? – Es kommt darauf an, was man daraus macht!“

Vom Rentner zum Sozialfall

Ein Beispiel: Die Situation älterer Arbeitnehmer hat sich im letzten Jahr deutlich verändert. Durch die Reform der Arbeitsmarktpolitik geraten Gruppen von Arbeitnehmern, die ihre bisherige Lebensplanung auf weitgehende gesellschaftliche Sicherheitsversprechen aufbauen konnten, gleich mehrfach in Konfrontation mit Verarmungsrisiken.

Im ungünstigsten Fall (wir legen dazu ein Potpourri der bekannten Modelle zugrunde) könnte einem heute 53jährigen folgendes passieren:

  • Der Arbeitnehmer ist langjähriges Betriebsmitglied und war unkündbar. Sein Lebensabend schien einigermaßen gesichert. Durch Veränderungen beim Kündigungsschutz kann er nun entlassen werden.
  • In der Arbeitslosigkeit angekommen, konnte er bisher zwei Jahre Arbeitslosengeld beziehen. Jetzt nur noch ein Jahr.
  • Dann ging es in die Arbeitslosenhilfe, jetzt direkt in die Sozialhilfe.
  • Ersparnisse fürs Alter konnten lange geschützt werden. Jetzt werden sie sofort und verschärft auf die Arbeitslosenhilfe angerechnet.
  • Früher gab es zur Not Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Qualifizierungsmaßnahmen, die den Rutsch in die Sozialhilfe aufhielten oder revidierten. Auch das fällt weg.
  • Früher war die Frühverrentung möglich. Jetzt droht dem Arbeitslosen möglicherweise ein Rentenalter von 67 Jahren oder mehr. Bis dahin muss er sich unter Umständen mit Sozialhilfe begnügen und auf die Rente warten.
  • Dort angekommen, konnte er sich früher auf eine Rente freuen, die seinen Lebensunterhalt weitgehend gedeckt hat. Jetzt, wo er nichts mehr eingezahlt hat und die privaten Notgroschen vom Staat kassiert sind, kann der dann verarmte Ältere nur mit einer Sozialhilfe-Rente rechnen, deren Höhe auch immer weiter abgesenkt wird.

Auch früher gehörten 53-jährige aus der Arbeitswelt ausgemusterte Menschen zu den „Überflüssigen“, sie wurden aber mit Hilfe sozialpolitischer Praktiken in den „verdienten Ruhestand“ überführt, durch Sozialplanregelungen, Frühverrentungsmodelle, auf diese Situation zugeschnittene Regeln beim Arbeitslosengeld usw. Die alte Sozialpolitik hat sie als Rentner behandelt. Die neue „Agenda-Sozialpolitik“ sieht in ihnen nur noch kostentreibende Sozialfälle, die selber schauen müssen, wie sie zurechtkommen. Armut ist zwar nicht das Ziel dieser Sozialpolitik, wohl aber einer ihrer Effekte. Damit dies möglich ist, müssen Verarmungsrisiken normalisiert werden. Armut, bisher nur als Lebensform der Menschen in den Sozialhilfeghettos, der Gestrandeten und Gestrauchelten an den Rändern der Gesellschaft akzeptiert sowie als Lebensform allein erziehender Mütter (die zu 28,1% Sozialhilfe beziehen) und deren Kinder, muss in allen Bereichen der Gesellschaft normal werden. Oder anders gesagt: Es geht um eine neue Form der gesellschaftlichen Wiedereingliederung der aus der Wirtschaft Ausgeschlossenen.

Die wirtschaftlichen Gründe moderner Verarmungsprozesse

In seinem Aufsatz „Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs“ warnt Robert Castel davor, den Begriff der „Exklusion“ ins Zentrum der Analyse gesellschaftlicher Ausschlussprozesse zu stellen. „Von Ausschluss zu sprechen heißt, eine völlig negative Benennung anwenden, die einen Mangel bezeichnet, ohne zu sagen, worin er besteht und woher er kommt.“ (Castel 2000, S.12) Tatsächlich haben moderne Ausschlussprozesse ihren Grund in tiefgreifenden Veränderungen von Wirtschaft und Arbeit:

  • Die Ablösung tayloristischer Produktionskonzepte, die seit den 70er Jahren diskutiert und praktiziert wird, verlangt einen anderen Typ von Arbeit: Der industrielle Massenarbeiter, der nach Anweisungen Detailarbeiten verrichtet, wird ersetzt durch den „selbständigen“ Arbeitnehmer, der Zielvereinbarungen umsetzt. Einfache, angelernte (und daher austauschbare) Arbeit wird immer weniger nachgefragt. Sie wird tendenziell überflüssig.
  • Damit einher geht die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. Es löst sich auf zugunsten neuer, häufig ungeschützter Arbeitsformen (befristete Beschäftigung, Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung, (Schein)-Selbständigkeit). Diese Beschäftigungsverhältnisse produzieren neue Verarmungsrisiken.
  • Schlanke Produktionskonzepte, die sich aufs Kerngeschäft konzentrieren und den Rest als Dienstleistungen einkaufen, verändern die Unternehmenslandschaft. Immer mehr Tätigkeiten werden an Sub-Unternehmen vergeben, die selber wiederum Sub-Unternehmen beschäftigen. Am Ende dieser Kette wächst die Zahl der Ein-Personen-Unternehmen, inklusive des Erfolgsmodells „Ich-AGs“. Die Kehrseite dieses „Trends zur Selbständigkeit“ ist häufig der Zwang zur Selbstausbeutung, hohe Verschuldungs- und Konkursrisiken.
  • Massenarbeitslosigkeit wird mehr denn je zur produktiven Bedingung moderner Produktion. In den Zeiten des industriellen Massenarbeiters musste Vollbeschäftigung nicht unbedingt zu Personalengpässen führen. Der Wirtschaft stand im Prinzip ein globaler Arbeitsmarkt zur Verfügung, den sie durch Migration ausschöpfte. In der nach-tayloristischen globalisierten Wirtschaft verengt sich das Arbeitskräfteangebot durch die steigenden Anforderungen an Qualifikationen und Kompetenzen des Personals. Aus dem einen großen Arbeitsmarkt für Massenarbeit wurden viele segmentierte Teilmärkte. Häufig herrscht daher Facharbeitermangel trotz Massenarbeitslosigkeit. Diese gesellschaftlichen „Mega-Trends“ erklären, warum welche Exklusionsprozesse, wo und in welchem Umfang stattfinden, sie erklären aber noch nicht die Form, in der sie verwaltet werden. Die Wiedereingliederung der Ausgeschlossenen erfolgt über den Sozialdiskurs und die daran angeschlossenen sozialstaatlichen Praktiken. Erst in der Zusammenschau der „Mega-Trends“ mit dem Diskurs wird erklärbar, warum ein 53-jähriger „überflüssiger“ Arbeitnehmer früher als Rentner und heute als Sozialfall behandelt wird.

Der Wandel des Sozialdiskurses

Der Sozialdiskurs der Bundesrepublik hat sich in den 80er und 90er Jahren deutlich verändert.

  1. Bis Mitte der 80er Jahre verstand sich die Bundesrepublik als Vollbeschäftigungsgesellschaft. Auch wenn sie diese immer weniger repräsentierte, so blieb doch die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung das erklärte wichtigste politische Ziel aller Parteien und Verbände. Dauerhafte Massenarbeitslosigkeit galt als unerträglicher Skandal, unmittelbare Bedrohung und gesellschaftliches Kernproblem. Die 80er Jahre waren aber auch ein Jahrzehnt der Normalisierung. Massenarbeitslosigkeit wurde Teil der westdeutschen, später gesamtdeutschen Normalität. Skandalisierungen gab und gibt es zwar immer noch, sie betreffen aber nur noch die Höhe der Arbeitslosenzahlen. Der Skandal tritt dann ein, wenn diese Zahlen „zu hoch“ sind, wobei das Maß der Normalität mit jedem Anstieg auf einen neuen „Sockel“ gewachsen ist. „Vollbeschäftigung“ klingt heute wie ein Anachronismus einer anderen Ära.
  2. Der „Sozialstaat“ ist von der „Errungenschaft“ zur „Fessel“ geworden. Das Programm der „Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft“ der 80er Jahre war noch begleitet von einer Rhetorik, die alle sozialen Lasten in ein Konzept des sozialen Fortschritts einband. In den 90er Jahren wurde dieser Fortschritt selbst zum Problem, der Begriff „Sozialstaat“ beschrieb nicht länger nur ökonomische Gegebenheiten, sondern diente zugleich als Chiffre für all jene Lebenspraxen und Haltungen, die den Gesellschafts-Körper ‘verfetten’ und ‘verweichlichen’ könnten – die dauerhafte Zerstörung dieser Praxen wurde als Gemeinschaftsaufgabe inszeniert. Das Bild der Deutschen als fette und faule Schlaraffen, die sich im kollektiven Freizeitpark zu Tode amüsierten, wurde damals populär. Mitte der 90er Jahre häuften sich die Befunde. Das Problem der Deutschen sei ihre „fest verankerte Sozialstaatsmentalität“ (FAZ, 20.5.1996), ihnen fehle die „mentale Standortfähigkeit“ (Roman Herzog 1996). Gebraucht werde eine Wende von der „Wohlfahrts- zur Risikomentalität“ (Die Welt, 16.1.1996). Es gehe darum, „die Zähigkeit, mit der die Deutschen an gewohnten – aber nicht mehr finanzierbaren – Besitzständen kleben, (…) aufzuweichen“ (Die Welt, 22.4.1996) und dadurch „der im Korsett des Sozialstaates sich dem Kreislaufkollaps nähernden Gesellschaft Luft zu verschaffen“ (FAZ, 29.6.1996). Diese Problemsicht hat sich weitgehend durchgesetzt, auch wenn die heutige Agenda-Rhetorik weicher daherkommt.
  3. „Sozialabbau“ wird immer seltener skandalisiert. Allenfalls gilt die Sorge, dass es dabei „gerecht“ zugehen soll. Dass es „Einschnitte“ geben muss, ist weitgehend konsensfähig, weil im Diskurs keine Alternativen zugelassen sind. Umverteilungskonzepte waren zwar früher schon verdächtig, galten aber immerhin als diskussionswürdig. Heute erscheinen sie als weltfremd. Daran ansetzenden Gegen-Diskursen wird bestenfalls Sozialromantik bescheinigt. Sie haben keine Chance, als seriös wahrgenommen zu werden.
  4. Missbrauchsdebatten und daran angekoppelte Bekämpfungspraktiken sind seit jeher Teil des Sozialdiskurses. Es gibt zwei Typen des Missbrauchsvorwurfs: Im ersten Typus richtet sich der Missbrauchsvorwurf gegen spezifizierte Gruppen, die kollektivsymbolisch als „schwarze Schafe“ aus der großen Herde der Anständigen isoliert werden. Der Kampf gegen die „Unechten“ ist stets von der Versicherung begleitet, dass es auch „Echte“ gibt. In dieser Form des Missbrauchsvorwurfs werden Verstöße gegen bestimmte Normen festgestellt, die der Missbraucher missachtet. Die „Ehrlichen“ dagegen erhalten ihre Sozialleistungen zu Recht; sie werden sogar in Broschüren und Beratungen aufgefordert, ihr Recht in Anspruch zu nehmen. Im zweiten Typus gerät der normale Gebrauch sozialstaatlicher Leistungen unter Missbrauchsverdacht. Dass Rentner immer älter werden, nicht mehr arbeiten und in Urlaub fahren macht sie verdächtig, auf Kosten der Jungen zu leben. Die Rentner sind hier Missbraucher im Nachhinein, gemessen an jenen Opfern, die Erwerbstätige, kinderreiche Familien und andere Gruppen zur Sicherung ihrer Rente zu erbringen haben. Das Gleiche gilt für Kinderlose, die die Alterspyramide durcheinander bringen, mitunter aber auch für Kinderreiche, die unvernünftigerweise kleine Sozialhilfeempfänger in die Welt setzen. Alleinerziehende können unter Missbrauchsverdacht geraten, weil sie sich möglicherweise leichtfertig haben scheiden lassen, ebenso Kranke, wenn sie zu häufig zur Kur fahren. Beide Missbrauchstypen sind Teil des Sozialdiskurses. Es fällt aber auf, dass der zweite Typus seit den 90er Jahren immer dominanter wird.

Die Chancen einer unpopulären Reform

Trotzdem haben alle diese Veränderungen es bisher nicht wirklich vermocht, die Betroffenen davon zu überzeugen, dass der geplante Opfergang an ihnen eine Wohltat vollbringt. Die christlich-liberale Regierung wurde abgelöst, weil die Wähler in Rot-Grün eine Alternative zu den neoliberalen Härten vermuteten. Schröder wurde wiedergewählt, weil er eine Politik versprach, die keinem richtig wehtat. Warum veranstaltet die SPD also heute ein Reformwerk, das ihre Umfragewerte in den Keller drückt, ihre Parteimitglieder aus der Partei treibt und wütende Proteste hervorruft? In dem Leitantrag des SPD-Parteivorstandes zum Sonderparteitag in Berlin, der den Titel trägt „Mut zur Veränderung“, wird die Frage plausibel beantwortet:

„Die Alternative ist eindeutig: Entweder wir modernisieren unsere soziale Marktwirtschaft oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen.“

Man könnte einwenden, dies sei die Strategie, Selbstmord zu begehen, um den Tod zu vermeiden, aber das trifft die Sache nicht. Tatsächlich formuliert die Partei an dieser Stelle nur die Resultate des Sozialdiskurses, eine ökonomisch-soziale Vernunft, die in den Medien, der Fachwelt und der Politik von niemandem ernsthaft in Frage gestellt wird. Ein Kanzler, der gegen diesen geballten Sachverstand frühere Wahlversprechen wahr macht, hat bei der nächsten Wahl verloren. Ein Kanzler, der den Sozialabbau durchführt, hat immerhin die Chance, als Tatenmensch 2006 vom Wähler belohnt zu werden.

„Wenn die Bürgerinnen und Bürger mitbekommen, dass es eine vernünftige Alternative zu diesen Umbaumaßnahmen, die ja in ganz Europa gegenwärtig diskutiert und entschieden werden, nicht gibt, dann werden sich auch Umfragen wieder ändern.“ (Schröder in der ARD)

Die anderen Meinungen, die ohnmächtige Wut von Betroffenen, die auf Demonstrationen, in Leserbriefen, in den diversen O-Tönen der Medien oder in Alltagsgesprächen stattfinden, sind natürlich ein Problem, das gelöst werden muss. Aber dafür zeichnet sich eine Strategie ab, die bis zur nächsten Bundestagswahl durchaus greifen könnte. Sie enthält vier Elemente: Unterscheidung, Anerkennung, Gerechtigkeit und Nutzen.

Die Wiederherstellung des Unterschieds

Weil die „Reform“, also der Sozialabbau, politischer Konsens ist, funktioniert die Abgrenzung zwischen Regierung und Opposition nicht mehr richtig. In den Medien führt das häufig zu der Forderung: Setzt euch doch endlich zusammen und vollendet gemeinsam das Reformwerk. Doch so einfach ist das nicht. Für die Regierung und für die Opposition ist die Reform in erster Linie ein Mittel, um die Regierungsgewalt zu behalten bzw. zu bekommen. Dazu müssen sie sich abgrenzen. Die SPD muss sich unterscheiden, herausstellen, dass es sich bei den Unionsvorschlägen um „maßlose Angriffe auf den Sozialstaat handelt“. Z.B. so:

„Das unterscheidet uns doch von unserer politischen Konkurrenz. Für CDU und FDP ist die Privatisierung gewissermaßen Selbstzweck. Die anderen denken nur an diejenigen, die ohnehin von alleine zurechtkommen. (…) Wir werden, auch das unterscheidet uns von den anderen, das Prinzip der solidarischen Absicherung von Lebensrisiken niemals preisgeben. Sozialer Rechtsstaat heißt für uns eben auch Ausgleich zwischen Jungen und Alten, Erwerbstätigen und Rentnern, Gesunden und Kranken.“ (Schröder im Vorwärts, 25.10.2003)

Am Horizont künftiger Wahlkämpfe erscheint daher eine Strategie der Neubesetzung des „Sozialen“. Die Vorschläge der Herzog-Kommission lassen sich von denen der Rürup-Kommission unterscheiden. Die Varianten des Sozialabbaus lassen sich daher begrifflich neu besetzen. Ziel könnte dann die Wiederherstellung der alten Polarität „Sozialer Ausgleich“ (SPD) versus „Soziale Grausamkeit“ (CDU) auf neuem Niveau sein.

Armut und Anerkennung

Ein paar Tage nach der beschlossenen Rentenkürzung wandte sich die Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, Ulla Schmidt, in einer Zeitungsanzeige an die Betroffenen:

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Rentnerinnen und Rentner, in Deutschland sind wir zurecht stolz darauf, dass die Älteren bei uns in Würde leben können. Das soll so bleiben. (…) Wer nur eine niedrige Rente hat, für den haben wir eine Grundsicherung ab dem 65. Lebensjahr geschaffen. Dadurch werden diese niedrigen Renten aufgestockt, und niemand wird sich schämen müssen, wenn er diese Grundsicherung in Anspruch nimmt.
Das ist kein Almosen, sondern darauf besteht Rechtsanspruch.“

Tatsächlich hatten Rentner auch früher schon einen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe. Aber Sozialhilfe stigmatisiert. Sozialhilfe erscheint als Almosen, verweist die Opfer symbolisch „an den Rand“ der Gesellschaft. Umbenannt in Grundsicherung ist der Sozialhilfebezug gesellschaftlich anerkanntes Einkommen, das bescheidene, aber immer noch würdevolle Ende einer etwas missglückten Normalbiographie in unserer Mitte. Die Normalisierung der Armut verzichtet auf Schuldzuweisungen. Armut ist, wie früher bei den verarmten „Kriegsversehrten“ und den verwitweten „Trümmerfrauen“ der Nachkriegszeit „Schicksal“, Grund für Gesten der Würdigung,  der Anerkennung der Lebensleistung.

Die Wiederherstellung der Gerechtigkeit

Der Haupteinwand, den die meisten Leute gegen den Sozialabbau haben, ist, dass er nicht gerecht und ausgewogen stattfindet. Junge Menschen sind der Meinung, für die Rentner zu bluten, Rentner sind der Meinung, jahrzehntelang gearbeitet zu haben, und jetzt um die Lebensleistung betrogen zu werden. Kinderreiche sind verbittert, weil Kinderreichtum arm macht, Kinderlose, weil sie die höchsten Steuern bezahlen, Kranke, weil sie das Schicksal mit Krankheit und immer höheren Kosten doppelt bestraft, Gesunde, weil sie immer mehr Geld zahlen für Leistungen, die sie nicht in Anspruch nehmen, Arbeitslose, weil sie immer härteren Zumutungen ausgesetzt sind, Beschäftigte, weil sie für immer weniger Lohn alles bezahlen müssen. In den Debatten über den Sozialabbau werden Vergleiche angestellt, und die fallen interessegeleitet für den Vergleichenden ungünstig aus. So sind wir denn alle – je nach Standort – Ausbeuter und Ausgebeutete.

Angesichts dieser vielfältigen Interessenlage ist die Konstruktion von „Gerechtigkeit“ im Diskurs über den Sozialabbau ein schwieriges Geschäft. Gleichwohl muss es „gerecht“ zugehen, denn nur so können Opfer akzeptiert werden. Wer „Soziale Gerechtigkeit“ verspricht, muss nachweisen, dass alle Beteiligten mitmachen, niemand auf Kosten der Gemeinschaft „sein Süppchen kocht“. Die Gemeinschaft, das Soziale, muss daher permanent symbolisch gereinigt werden vom Asozialen. Die immer wieder neu organisierte Enttarnung von Drückebergern, Sozialschmarotzern und Faulenzern ist eine Form der Sozialabbau-Hygiene, Beweis und anschließende Genugtuung, aber Sisyphosarbeit.

Deshalb gibt es jedes Jahr neue, mediengerecht inszenierte Beispiele. In diesem Sommer ging „Miami- Rolf“ durch die Medien – „Ihm zahlt das Sozialamt die schöne Wohnung am Strand von Miami.“ (BILD) sowie „Viagra-Kalle“ – „Jeden Tag eine Viagra-Pille gratis vom Sozialamt? Müssen wir Steuerzahler denn für alles blechen?“ (BILD) Wegen „Miami-Rolf“ wurde schnell ein Gesetz geändert, und nach Ärger mit dem Sozialamt titelte die BILD-Zeitung im zweiten Fall: „Viagra-Kalle lässt den Kopf hängen“. Parallel dazu forderten etliche Politiker wieder einmal „härtere Zumutbarkeitsgesetze“ ein, die längst bestehen. Neu war allenfalls der Vorschlag von Wirtschaftsminister Clement, Drückebergern künftig nur noch Sachleistungen auszuzahlen. Entsprechende Erfahrungen mit dem Asylbewerberleistungsgesetz liegen ja vor.

Der Nutzen der Armut

Wenn ein Unternehmen kurz vor dem Konkurs steht, ist es für die Beschäftigten durchaus sinnvoll, auf Teile des Lohns, 13. Monatsgehalt, kurze Arbeitszeiten und marode Betriebsteile samt Belegschaften zu verzichten. Das ist immer noch besser als die Arbeitslosigkeit. Auch Betriebsräte und Gewerkschaften sehen das ein und schließen mit den Unternehmen entsprechende Vereinbarungen. Wenn nun die „Deutschland AG“ dem globalen Wettbewerb nicht mehr standhält, dann muss sie eben auf dieselbe Weise saniert werden. Verarmungsprozesse müssen als Teil dieser Sanierung erscheinen, sie müssen sich für die Beschäftigten der Deutschland AG – also die Wähler – lohnen, als Zukunftsinvestition erscheinen. „Unser Weg in die Zukunft: Agenda 2010 – Arbeit und Wachstum, Bildung, Ausbildung und Innovation, Modernisierung von Arbeitsmarkt und Arbeitsvermittlung, Zukunftssicherung der sozialen Sicherungssysteme“ heißt eine programmatische Überschrift im Leitantrag des SPD Parteivorstandes. Diese Vision wird in den nächsten drei Jahren sichtbar gemacht werden. Mit etwas Glück werden wir den Aufschwung erleben, den Rückgang der Arbeitslosenzahlen und des Haushaltsdefizits. Möglicherweise holen sogar die deutschen Schüler bei der nächsten PISA-Untersuchung auf. An Beweismitteln wird es nicht fehlen. Und vielleicht lächelt uns 2006 Kanzler Schröder auf Wahlplakaten an, auf denen dann steht: Danke Deutschland – Es hat sich gelohnt.

Literatur:

Castel, Robert (2000): Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs, in: Mittelweg 36, 3/2000, S.11-25

Kreft, Ursula (2000): Soziale Ordnung und soziale Krise in deutschen Printmedien. In: Grewenig, Adi / Jäger, Margret (Hg.): Medien in Konflikten. Holocaust, Krieg, Ausgrenzung. Duisburg, S. 177- 200

Kreft, Ursula / Uske, Hans (1998): Schlanke Produktion – schlanker Staat – schlanke Menschen, in: Buntenbach, Annelie / Kellershohn, Helmut / Kretschmer, Dirk (Hg.): Ruck-wärts in die Zukunft. Zur Ideologie des Neokonservatismus, Duisburg, S.120-149

Uske, Hans (1995): Das Fest der Faulenzer. Die öffentliche Entsorgung der Arbeitslosigkeit, Duisburg

Uske, Hans (2000): „Sozialschmarotzer“ und „Versager“. Missachtung und Anerkennung in Diskursen über Massenarbeitslosigkeit, in: Holtgrewe, Ursula / Voswinkel, Stephan / Wagner, Gabriele (Hg.): Anerkennung und Arbeit, Konstanz, S.169-192